Migrationsabkommen mit Ägypten: Die EU setzt aufs falsche Pferd

Kommentar

Die Europäische Kommission plant ein neues Migrationsabkommen mit Ägypten. Noch ist dieses nicht abgeschlossen. Und dabei sollte es auch besser bleiben.

Zahlreiche Boote an der Küste von Alexandria, Ägypten

"Wir wollen, dass unser Abkommen mit Tunesien ein Vorbild ist. Eine Blaupause für die Zukunft. Für Partnerschaften mit anderen Ländern in der Region", erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Juli 2023. Bei dem angesprochenen „Abkommen“ handelt es sich um die im selben Monat unterschriebene Absichtserklärung (Memorandum of Understanding (MoU)) für eine strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Union (EU) und Tunesien. Darin sagt die EU Tunesien technische, wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung zu – im Gegenzug dafür, dass Tunesien sich verpflichtet seine eigenen Staatsbürger*innen zurückzunehmen und irreguläre Migration nach Europa stärker zu kontrollieren. Im Herbst bekräftigte von der Leyen, dass sie ein ähnliches Abkommen auch mit Ägypten anstrebe. Beim Ende Januar 2024 abgehaltenen zehnten Treffen des EU-Ägypten-Assoziierungsrats wurde zwar auch über eine noch engere Zusammenarbeit als bisher im Bereich Migration gesprochen, ein konkretes neues Abkommen ergab sich bei dem Treffen jedoch nicht.

Das „verschobene“ Problem

Nichtsdestotrotz lohnt sich ein Blick darauf, was bisherige Kooperationen zwischen der EU und Ägypten bedeutet haben. Bereits seit 2015 ist Ägypten einer der engsten Partner der EU im Bereich der Migrationskontrolle. Dabei sind die Interessen durchaus verschieden: Während die Europäische Union in den vergangenen neun Jahren vorwiegend darauf setzte, irreguläre Migration zu verhindern, hat das Militärregime unter Abdelfattah Al-Sisi großes Interesse an der Migration seiner eigenen Staatsbürger: Die Rücküberweisungen der Diaspora beliefen sich  in diesem Zeitraum auf jährlich 20 bis 30 Milliarden US-Dollar und machten damit in 2020 knapp 8 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus.  

Im Rahmen des EU Emergency Trust Funds for Africa und des EU-Ägypten Assoziierungsrats standen dennoch insbesondere die Kooperation im Migrationsmanagement und in der Migrationskontrolle immer wieder auf der Tagesordnung. Aus europäischer Sicht auf den ersten Blick durchaus mit Erfolg: Seit 2018 stechen kaum mehr Boote mit Migrant*innen aus Ägypten in Richtung der Europäischen Union in See.  Doch ein genauerer Blick offenbart ein anderes Bild: 20 Prozent der Migrant*innen, die es 2022 über das Mittelmeer nach Italien schafften, waren Ägypter*innen, sie stellten damit die größte nationale Gruppe. Mit der schärferen Kontrolle der ägyptischen Gewässer hat sich für Ägypter*innen die Hauptmigrationsroute in die EU nach Libyen verschoben.  Und somit auf die Route, auf der Migrant*innen nachweislich der größten Gefahr von Ausbeutung, Folter und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind.

Perspektivlosigkeit im eigenen Land

Grund für die gestiegenen Migrationszahlen sind die massive staatliche Repression und Menschenrechtsverletzungen in Kombination mit der desaströsen wirtschaftlichen Situation Ägyptens. Die Inflation erreichte im September letzten Jahres 38 Prozent, 2023 lebten 30 Prozent der Ägypter*innen unter der Armutsgrenze, die Auslandsverschuldung lag bei 93 Prozent des BIPs. Statt mit dem aufgenommenen Geld die Haushaltslöcher zu stopfen oder die Armut zu bekämpfen, legt Präsident al-Sisi den Fokus auf zweifelhafte, kostspielige Projekte, wie den Bau einer neuen Hauptstadt mitten in der Wüste. Das Land steht vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Die Repression des Regimes gegen seine politischen Gegner*innen ist brutal. Journalist*innen, Rechtsanwält*innen, Aktivist*innen, Oppositionelle und Menschenrechtsverteidiger*innen werden wegen ihrer Arbeit oder ihres Aktivismus inhaftiert, gefoltert und getötet. Auch das gewaltsame Verschwindenlassen von Regierungsgegner*innen ist an der Tagesordnung. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass aktuell bis zu 70.000 politische Gefangene in ägyptischen Gefängnissen sitzen und dort unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt sind.

Es braucht nicht viel, um in die Fänge des Geheimdienstes zu geraten: Selbst ein Video auf TikTok, welches zwei Influencerinnen beim Tanzen zeigte, reichte dem Regime, um diese zu zwei Jahren Haft wegen des „Verstoßes gegen Familienwerte“ zu verurteilen. Wer auch immer von den vom Regime vorgegebenen Werten und Regeln abweicht, steht schon mit einem Fuß im Gefängnis. All das führt dazu, dass insbesondere junge Menschen keine Perspektive mehr für sich in Ägypten sehen und das Land verlassen wollen.

Prekäre Bedingungen für Migrant*innen in Ägypten

Nicht minder schwierig ist die Situation von Migrant*innen und Flüchtlinge, die aktuell vor allem aus den Nachbarländern Sudan, Süd-Sudan, Eritrea und Äthiopien nach Ägypten kommen. Zwar hat das Land mehrere internationale Abkommen zum Schutz von Flüchtlingen, wie die Genfer Flüchtlingskonvention, unterzeichnet, die damit verbundenen Verpflichtungen setzt es aber nicht um. Da Ägypten kein Asylsystem hat, übernimmt das UNHCR die Aufgabe der Registrierung, Vergabe eines Flüchtlingsstatus‘ und des Resettlements. Da Flüchtlinge keinen Zugang zum ägyptischen Gesundheits- und Bildungssystem haben und das Aufenthalts- und Arbeitsrecht sie von formellen Anstellungen ausschließt, sind sie auch in diesen Bereichen auf das UNHCR angewiesen. Offiziell sind aktuell 480.000 Flüchtlinge beim UNHCR in Ägypten registriert. Auf Grund der seit Jahren starken Unterfinanzierung (für das Jahr 2024 sind erst 37 Prozent der benötigten Finanzierung gesichert), fehlen die Kapazitäten, um auch nur annähernd die tatsächlich im Land befindlichen Flüchtlinge zu registrieren und versorgen. Viele von ihnen arbeiten daher im informellen Sektor und leben unter prekären Bedingungen. Insgesamt befinden sich 6 Millionen Migrant*innen im Land, die Zahl derjenigen mit Anspruch auf einen Flüchtlingsstaus liegt daher vermutlich erheblich über der Zahl der beim UNHCR registrierten.

Kein Schutz für Schutzbedürftige

Offiziell haben zumindest die registrierten Flüchtlinge einen vom UNHCR ausgestellten Aufenthaltstitel, der einen verbrieften Abschiebeschutz darstellt. Die ägyptischen Sicherheitskräfte erkennen diesen jedoch häufig nicht an. So drohen registrierte Flüchtlinge ebenso wie nicht-registrierten Migrant*innen und Geflüchteten der willkürlicher Verhaftungen und Abschiebungen. Die Haftbedingungen werden immer wieder als unmenschlich beschrieben: Es fehlt an ausreichender Nahrung, insbesondere für inhaftierte Kinder und schwangere Frauen, und der Zugang zu medizinischer Versorgung wird Gefangenen oft verwehrt. Auch erhält das UNHCR keinen Zugang zu nicht registrierten Migrant*innen in Haft, so dass diese keinen Asylantrag stellen können. Bei Abschiebungen, insbesondere nach Eritrea, missachtet Ägypten zudem regelmäßig das Non-Refoulment-Prinzip, welches Abschiebungen von Personen verbietet, wenn davon auszugehen ist, dass ihnen im Zielland Folter oder Menschenrechtsverletzungen drohen.

Ein Realitätscheck ist dringend nötig

Objektiv betrachtet haben die bisherigen Übereinkünfte zwischen der EU und Ägypten nicht dazu geführt, dass weniger ägyptischen Migrant*innen nach Europa gelangen. Sie haben nur erreicht, dass sich die Fluchtrouten verschieben. Ägypter*innen suchen ihre Wege nach Europa, weil sie der katastrophalen Politik der ägyptischen Militärherrschaft unter Abdelfattah Al-Sisi entkommen wollen. Im Falle eines wirtschaftlichen Kollapses des Landes ließe sich die „irreguläre Migration“ von Ägypter*innen, die man in der EU so zu befürchten scheint, kaum mehr verhindern. Während Ägypten von der Migration eigener Staatsbürger*innen nach Europa profitiert, verhindert das Regime mit aller Macht – auch mit Methoden, die nicht mit internationalem Recht vereinbar sind – Migration aus den ägyptischen Nachbarländern in die EU. Neben den direkten Vorteilen, die es für al-Sisi hat, wenn nur die eigenen Staatsbürger ihr Glück in Europa suchen können, erlaubt ihm dies, die große Zahl von in Ägypten lebenden Migrant*innen als Druckmittel einzusetzen, um weitere finanzielle Unterstützung der EU zu erhalten.

Hält man sich diese Realität vor Augen, wird deutlich, dass der ägyptische Präsident bei weitem nicht der stabile und verlässliche Partner ist, der er zu sein vorgibt und den die EU nur allzu gerne in ihm sehen will. Auch die Erfahrung mit dem mit Tunesien abgeschlossenen Absichtserklärung zur Eindämmung irregulärer Migration und von Grenzschutzmaßnahmen spricht nicht dafür, eine in dieselbe Richtung zielende Vereinbarung mit Ägypten anzustreben. Neben Menschenrechtsverletzungen an Migrant*innen, die von tunesischen Sicherheitskräften in der Wüste im Grenzgebiet zu Libyen ohne Wasser und Nahrung ausgesetzt wurden, stieg im Sommer 2023 auch die Zahl der Personen, die sich von Tunesien aus über das Mittelmeer in Richtung Europa aufmachten: Bis Ende Juni 2023 waren rund 66.000 Migrant*innen in Lampedusa angekommen. Nach der Unterzeichnung des MoU erreichten nicht etwa weniger, sondern deutlich mehr Migrant*innen, die italienische Insel. Bis Mitte September stiegt die Zahl auf 118.500, also fast doppelt so viele, von denen die Mehrheit aus Tunesien aufgebrochen war.

Rückbesinnung auf die eigenen Werte

Mit einem weiteren Migrationsabkommen, in welchem die Einhaltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit keine Rolle spielen, wird die EU ihr Ziel genauso wenig erreichen, wie mit den bereits existierenden. Statt also die kurzfristige Migrationsverhinderung mit allen Mitteln über allem anderen zu priorisieren und dabei eines der brutalsten Regime der Region zu stärken, sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten sich lieber bemühen, Ägypten tatsächlich zu stabilisieren. Dafür müssen Regierungsführung und die Achtung von internationalem Recht und der Menschenrechte ins Zentrum ihrer Beziehungen mit Ägypten rücken. Auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit muss an die Einhaltung dieser Bedingungen geknüpft werden. Zudem sollte viel mehr Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, die Zivilgesellschaft zu unterstützen und die Lebensgrundlage der Bevölkerung zu verbessern. Damit würden die EU und ihre Mitgliedsstaaten auch in ihren Beziehungen mit Ägypten den Werten gerecht werden, auf denen die EU sich gründete: die Würde des Menschen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.