Die Ägyptenpolitik der Ampel ist weder wertegeleitet noch feministisch

Analyse

Die deutsche Ägyptenpolitik ist durch Wirtschaftsinteressen und die Angst vor einen Zusammenbruch Ägyptens bestimmt. So trägt sie zur Stabilisierung des brutalen Al-Sisi-Regimes bei.

Blick über Kairo im Hintergrund, im Vordergrund sitzt ein Vogel auf einem Ast.

Präsidentschaftswahlen gleichen einem Legitimationstheater

Nach 97 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 und 2018, erhielt Al-Sisi bei den ägyptischen Präsidentschaftswahlen im Dezember 2023 „lediglich“ 89 Prozent der Stimmen. Vor dem Hintergrund, dass jegliche oppositionellen Gegenkandidat:innen entweder aufgrund angeblicher Verfahrensfehler gar nicht erst zugelassen, durch Verleumdungskampagnen in Misskredit gebracht oder durch Einschüchterungsmaßnahmen der Sicherheitsorgane von einer Kandidatur abgehalten wurden, kann von kompetitiven oder gar freien und fairen Wahlen nicht die Rede sein. Im Vorfeld der Wahlen gerieten kritische Medien und Journalist:innen ebenfalls ins Visier der Strafverfolgung. Wie bei den Präsidentschaftswahlen in 2018 gibt es zudem Berichte von Stimmenkauf durch Geld und Nahrungsmittel. Und dennoch: Al-Sisi kann Ägypten im Rahmen der in 2019 eigens dafür geänderten Verfassung noch bis 2030 regieren. Doch wozu eigentlich das Legitimationstheater? Einerseits versucht Al-Sisi durch die Wahlen den Anschein von demokratischer Legitimation seiner Herrschaft herzustellen, andererseits sind die Präsidentschaftswahlen zentral für den Fortbestand der Unterstützung durch Europa und die USA.

Die Präsidentschaftswahlen vom Dezember 2023 waren ursprünglich für das Frühjahr 2024 angesetzt.  Die gestiegenen Staatsausgaben, zunehmende Staatsschulden und die enorme Inflationsrate machen eine weitere Abwertung des ägyptischen Pfunds Anfang 2024 fast unumgänglich. Die grassierende Armut wird durch jede Währungsabwertung noch weiter verschärft und der Unmut in der Bevölkerung wächst. Das wissen auch Al-Sisis Generäle. Deshalb hat das ägyptische Regime die Präsidentschaftswahlen vorverlegt, um die Wahlen noch vor einer weiteren Abwertung abzuhalten.

Ägypten ist eine brutale Militärdiktatur

Auch jenseits des Wahltheaters ist das Al-Sisi Regime eine brutale Militärdiktatur. Seit dem Militärputsch unter Führung des damaligen Verteidigungsministers Al-Sisi im Sommer 2013, hat das Militär seine Macht kontinuierlich ausgebaut und erfolgreich verhindert, dass sich andere politische oder wirtschaftliche Machtzentren entwickeln. Die Anzahl der politischen Ämter, die mit Mitgliedern des Militärs besetzt sind, ist unter Al-Sisis Führung enorm gestiegen. Das Parlament und die darin vertretenen politischen Parteien sind marginalisiert und haben so gut wie keinen politischen Einfluss. Zudem kann das Parlament seine verfassungsmäßigen Kontrollfunktionen gegenüber der Regierung und den Exekutivorganen kaum ausüben.

Außerdem gelang es Al-Sisi innerhalb weniger Jahre, den Justizapparat fast völlig unter die politische Kontrolle seines Militärregimes zu bringen. Durch den Ausbau der Zuständigkeit der Militärjustiz und die Entfernung unabhängiger Richter:innen aus Amt und Würden, sicherte sich der Präsident eine ihm wohlgesonnene Justiz, die als Vollstreckungsgehilfin seines Militärregimes gegen Oppositionelle fungiert. Die Strafvollzugsbehörden und die Justiz machen kritische Stimmen durch lang andauernde Prozesse, Haftstrafen, sowie Betätigungs- und Ausreiseverbote mundtot. Selbst die Sicherheitsdienste des Innenministeriums, die unter Mubarak zu einem eigenen Machtzentrum wurden, haben kaum noch Einfluss. In Al-Sisis Ägypten gibt es keine politische(n) Organisation(en) und Institution(en) mehr, die mit dem Militär um die Macht konkurriert. Die politische Macht wurde seit 2013 kontinuierlich im Präsidentenpalast sowie dem Militär konzentriert.

Die Wirtschaftkrise verstärkt die bestehende Armut

Ägypten steht wirtschaftlich vor dem Kollaps. Der Staat ist hoch verschuldet, die Staatsausgaben wachsen kontinuierlich. Zudem schießt die Inflation in die Höhe: Im September 2023 lag sie bei 38 Prozent. Insbesondere die Preise für Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs sind enorm angestiegen. Durch den Preisanstieg wird die Situation für viele Ägypter:innen immer auswegloser. Zudem wächst die Armut: Die Anzahl der Ägypter:innen die laut Vereinten Nationen von weniger als 3.65 US-Dollar am Tag leben, ist in den letzten Jahren von unter 20 auf über 24 Prozent gestiegen. Die Jugendarbeitslosigkeit – die bereits vor dem Arabischen Frühling 2011 sehr hoch war – beträgt inzwischen über 30 Prozent. Zu dieser Situation beigetragen hat nicht zuletzt die Misswirtschaft Al-Sisis und seiner Generäle, welche die Staatsschuldenlast durch die Finanzierung teurer Prestigeprojekte wie der neuen Verwaltungshauptstadt in der Wüste, die enorme Steigerung der Rüstungsinvestitionen und ein geplantes Hochgeschwindigkeitszugnetz weiter erhöhten.

Das ägyptische Militär hat sich nach der Machtübernahme Al-Sisis zu einem der größten Rüstungsimporteure der Region gemausert. Jährlich gibt das Regime mehrere Milliarden Euro für neue Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe aus. Da die Verteidigungsausgaben ein Staatsgeheimnis sind, geschieht dieses ohne parlamentarische oder öffentliche Kontrolle. Allen Versuchen des Europäischen Parlaments zur Implementierung eines Waffenembargos aufgrund der Menschenrechtslage in Ägypten zum Trotz. Alleine im Jahr 2021 genehmigte die deutsche Bundesregierung Rüstungsexporte nach Ägypten in Höhe von vier Milliarden Euro.

Seit dem Putsch in 2013 ist der ökonomische Fußabdruck des Militärs in mehreren Wirtschaftssektoren enorm angestiegen. Die damit einhergehende Marktdominanz des Militärs in den Sektoren Bauwesen und Infrastruktur, Nahrungsmittelproduktion, Kommunikation und Rohstoffhandel, lässt die Produktivität der ägyptischen Wirtschaft stagnieren und verhindert einen fairen Wettbewerb und damit auch Innovationen. Die dominante Rolle des ägyptischen Militärs in der Wirtschaft erfüllt für Al-Sisi aber vor allem einen politischen Zweck: Er kann sich die Loyalität seiner Generäle durch lukrative Posten und Beteiligungen an vom Militär kontrollierten Unternehmen sichern. Dieses Vorgehen begünstigt die weiterhin grassierende Korruption auch auf den höchsten Ebenen.

Europäische Angst verkennt die Ägyptische Realität

Die europäischen Regierungen und auch die aktuelle Bundesregierung (wie auch die Vorgängerregierungen) tragen mit ihrer Wirtschafts- und Rüstungsexportpolitik, sowie der Sicherheitskooperation im Bereich der Terror- und Migrationsbekämpfung zu einer Stabilisierung und Legitimation des Al-Sisi-Regimes bei. Es sind zum einen wirtschaftliche Interessen deutscher Unternehmen im Energie-, Infrastruktur-, und Rüstungssektor mit bedeutenden Aufträgen aus Ägypten, denen eine höhere Priorität beigemessen wird als einer feministischen und wertegeleiteten Ausrichtung der deutschen Ägyptenpolitik.

Darüber hinaus ist die enorme Angst vor einem möglichen Zusammenbruch des ägyptischen Staates und - als Konsequenz -einer zunehmenden Migrationsbewegungen von Ägypter:innen nach Europa handlungsleitend für die Ägyptenpolitik der Bundesregierung. Wie bereits vor dem Arabischen Frühling 2011, arbeiten deutsche Institutionen und Unternehmen eng mit den ägyptischen Machthabern und deren Repressionsapparat zusammen, um die Migration übers Mittelmeer einzuschränken. Al-Sisi und seine Generäle können die Migration nach Europa jedoch nicht verhindern: Eine Vielzahl der Ägypter:innen, die das Risiko einer Überfahrt auf sich nehmen, macht sich überhaupt erst aufgrund der weiterhin grassierenden Repression und der wirtschaftlichen Misere, in die das Al-Sisi-Regime das Land manövriert hat, auf den Weg. Durch die Stabilisierung des Al-Sisi-Regimes unterwandert die Ampelregierung also nicht nur ihre eigenen Ziele einer feministischen und wertegeleiteten Außenpolitik, sondern trägt damit paradoxerweise sogar zu einer Verschärfung zentraler Fluchtursachen wie politischer Verfolgung, Polizeigewalt, Korruption und Armut bei. Und das auf Kosten einer menschenrechtsorientierten Ägyptenpolitik.

Wenn zwei sich streiten… Israel, Gaza und Ägypten

Den Krieg zwischen Israel und der Hamas nach den Massakern vom 7. Oktober konnte Al-Sisi nutzen, um sich gegenüber Deutschland und Europa durch seine Vermittlerrolle unentbehrlich zu machen. Durch die weitgehende Blockade des Gazastreifens durch die israelische Regierung sowie den Einmarsch israelischer Soldat:innen in Gaza, ist die Lieferung von humanitären Hilfsgütern für die knapp zwei Millionen vertriebenen Palästinenser:innen aktuell fast ausschließlich über den Grenzübergang mit Ägypten möglich. Gleichzeitig war und ist das Al-Sisi-Regime in den letzten Jahren mit seiner Abschottungspolitik an der Isolierung des Gazastreifens – übrigens in enger Abstimmung mit der israelischen Regierung – ebenfalls beteiligt.

Während Al-Sisi bekräftigt, dass Ägypten aus Sicherheitsgründen keine Geflüchteten aus dem Gazastreifen aufnehmen wird, nutzt das ägyptische Regime die Situation, um durch die Koordination humanitärer Hilfe Vorteile für die eigenen Staatsfinanzen zu erwirken. Vor dem Hintergrund der Gewalteskalation in Gaza, will die Europäische Union Ägypten nun schneller und umfangreicher unterstützen.

Mangelnde Politikkohärenz stabilisiert Autokraten

Dass die Bundesregierung keine kohärente Ägyptenpolitik verfolgt, liegt auch daran, dass in Berlin Außenpolitik häufig von innenpolitischen Perspektiven und Debatten geprägt ist. Die durch rechtspopulistische Parteien angetriebene Migrationsdebatte und die damit einhergehende Obsession deutscher Politiker:innen, die sogenannte irreguläre Migration über das Mittelmeer einzudämmen oder gar komplett aufzuhalten, ist ein Paradebeispiel dafür. Innenpolitische Diskurse und Wirtschaftsinteressen motivieren hier zu Sicherheitskooperation und Rüstungsexporten, obwohl diese erklärte außenpolitische Ziele in Bezug auf die Förderung von Menschenrechten und Demokratie in der Region untergraben.

Auch staatliche Absicherung von großen Investitionen deutscher Unternehmen in Ägypten, sogenannte Hermesbürgschaften, gehören vor dem Hintergrund der desolaten ägyptischen Staatsfinanzen und der Rolle, die das Militär insbesondere in solchen Großprojekten spielt, auf den Prüfstand gestellt. Die kürzlich bekanntgewordene Aufkündigung der Förderung einer ägyptischen Menschenrechtsorganisation durch das Auswärtige Amt, die die Bundesregierung damit begründet, dass die Vorsitzende einen Waffenstillstand im Krieg zwischen Israel und der Hamas gefordert hatte, untergräbt die deutschen und europäischen Bemühungen zur Menschenrechtsförderung in der Region.

Ein Umdenken der deutschen Ägyptenpolitik ist nötig

Die Ampelregierung trägt mit dieser Inkohärenz ihrer Ägyptenpolitik zu einer Stabilisierung eines der brutalsten Regime der Region bei und wirkt damit der Wahrung von Menschenrechten direkt entgegen. Es ist daher höchste Zeit, die Annahmen und Prioritäten der deutschen Ägyptenpolitik zu überdenken und sich ressortübergreifend auf einen Do-no-harm-Ansatz zu einigen, der Menschenrechte und die Förderung der Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt rückt und nicht mehr zu einer Stabilisierung des Al-Sisi-Regimes beiträgt. Dafür ist eine Rekalibrierung der deutschen Ägyptenpolitik erforderlich. Um dies zu ermöglichen, sind mindestens drei Schritte nötig.

Erstens sollte die Bundesregierung anerkennen, dass das Al-Sisi-Regime Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist. Ägyptische Akteure und Institutionen, die für Repression, Misswirtschaft und Korruption verantwortlich sind, dürfen nicht mehr die primären Partner deutscher Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs-, und Wirtschaftspolitik sein. Die Zusammenarbeit mit solchen Akteuren gehört daher kritisch auf den Prüfstand gestellt und eine Umorientierung hin zu staatsfernerer Zusammenarbeit mit ägyptischer Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft sollte ressortübergreifend implementiert werden.

Zweitens muss sich die Bundesregierung von dem Trugschluss befreien, das ägyptische Regime sei ein Garant für Stabilität und Frieden in der Region. Die destabilisierende Rolle des Al-Sisi-Regimes, z.B. durch die Unterstützung des Militärs in den gescheiterten Transitionsprozessen im Sudan und Algerien, die militärische Unterstützung von General Haftar in Libyen und die Abschottung des Gazastreifens müssen in den Berliner Ministerien endlich erkannt und benannt werden. Unabhängig von der internen Repression gibt das regional destabilisierende und antidemokratische Wirken Al-Sisis bereits Anlass genug, die umfangreichen Rüstungsexporte und Sicherheitskooperation zu stoppen.

Drittens sollte in der Entwicklungs- und Wirtschaftszusammenarbeit der Fokus von militär- und regierungsnahen Großprojekten auf die Verbesserung der Lebensgrundlagen der Ägypter:innen gerichtet werden. Mikrokreditprogramme der KfW insbesondere für die Bevölkerung im ländlichen Raum sowie ein Fokus auf Ernährungssicherheit wären hier mögliche Ansätze. Im Rahmen internationaler Finanz- und Schuldenpolitik sollte die Bundesregierung die Umschuldungsverhandlungen dafür nutzen, gemeinsam mit internationalen Partnern auf eine Verringerung der Rolle des Militärs in der Wirtschaft zu drängen und auf die Einhaltung von menschenrechtlichen und demokratischen Standards bestehen. Dafür wird auch eine stärkere  Konditionalisierung in Entschuldungsverhandlungen und bei der finanziellen Unterstützung Ägyptens durch die EU und internationale Institutionen unumgänglich sein.