Ägypten: „Man kommt mit großer Angst an und wird immer mutiger“

Interview

Dina Wahba forscht zu Emotionen und Affekten im Kontext politischer Bewegungen in Ägypten. Im Interview erklärt sie, wie Gefühle Menschen zu Revolutionen bewegen – und wie autoritäre Regime sie für ihre eigenen Zwecke manipulieren.

Dr. Dina Wahba
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Dr. Dina Wahba

Das Interview mit Dina Wahba führte Hannah El-Hitami.

In Ihrem Buch befassen Sie sich mit Affekt und Emotionen im Kontext der ägyptischen Revolution. Wo waren sie am 25. Januar 2011 und welche Rolle hat die Revolution in Ihrem Leben gespielt?
Die Revolution hat mein Leben komplett umgewälzt. Vor der Revolution beteiligte ich mich nur selten an politischen Aktionen an der Universität, doch danach gab es kein Zurück mehr. Ich wusste, dass ich am 25. Januar demonstrieren gehen wollte. Ich hatte schreckliche Angst und doch nahm ich teil. Das ist eines der Rätsel, die ich in meinem Buch lösen wollte.

Sie nutzen dafür die Theorie von Affekt und Emotion. Was interessiert Sie an dieser Perspektive?
Gerade für Revolutionen sind diese Theorien interessant. Es steht sehr viel auf dem Spiel, und man muss es wirklich im Herzen fühlen, um mitzumachen. Ich habe zum Beispiel viel Literatur zum Mauerfall gefunden, die nach den Gefühlen der Menschen fragte.  Anfangs war ich zögerlich, meine Interviewpartner*innen nach Politik und Emotionen zu fragen. Ich fürchtete, sie würden mich auslachen und sagen, es sei nicht die Zeit, um über Gefühle zu sprechen. Aber tatsächlich waren es genau die richtigen Fragen. Die Flut von Emotionen, die zurückkam, hatte ich nicht erwartet. Es war offensichtlich, dass diese Themen bisher nicht angesprochen oder verarbeitet worden waren.

“Auf die Straße zu gehen, war ein Impuls“, sagt einer ihrer Interviewpartner. Was bedeutet dieser Impuls in autoritären Staaten wie Ägypten, wo lange vorausgeplante politische Aktionen nicht möglich sind?
In Momenten wie der ägyptischen Revolution, verspüren die Menschen einen Drang: Dieses Gefühl, das dich geradezu körperlich anstößt, das dich dazu bringt, dich in eine Aktion hineinzustürzen. So haben meine Interviewpartner*innen mir das beschrieben. Sie hörten die Demonstrationen und sprangen aus dem Bett. Ich denke aber nicht, dass diese Impulse aus dem Nichts kommen, sondern dass sie sich aus unseren politischen Überzeugungen, Emotionen, Traumata und Familiengeschichten zusammensetzen. Sie sind in uns angelegt und wenn die richtige Gelegenheit kommt, dann werden sie aktiviert. Damit will ich nicht sagen, dass die politische Arbeit der Generationen vor uns unwichtig war. Sie haben diese Gelegenheit überhaupt erst eröffnet.

Ein weiteres Thema in ihrem Buch ist das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, und der Mut, der damit einhergeht. Wie haben Sie das selbst erlebt?
Wie gesagt, ich hatte anfangs schreckliche Angst zu demonstrieren und habe außerdem alles falsch gemacht. Ich ging alleine hin und es war bereits dunkel. Ich versuchte, am Rand der Menge zu bleiben und so zu tun, als ginge ich nur zufällig vorbei. Dann traf ich wie durch ein Wunder einige meiner Freund*innen. Sie brachten mich mitten hinein in die Massen, dabei hatte ich schon vorher und habe auch bis heute Angst vor Menschenmengen. Doch je weiter wir ins Zentrum vordrangen, desto mehr spürte ich meine Angst schwinden. Ich fühlte mich so sicher und das gleiche beobachtete ich bei meinen Freund*innen. Man kommt mit großer Angst an und wird immer mutiger. Während der 18 Tage der Revolution machten wir oft Witze über die Leute, die uns von außerhalb des Tahrir-Platzes anriefen, und die immer viel mehr Angst hatten als wir, die vor Ort waren.

Haben Sie Erklärungen für dieses Gefühl gefunden?
Eines der bekanntesten Werke zu diesem Thema ist Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“, das Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde. Es stellt Massen als verrückt, hysterisch, irrational dar. Auch heute werden Proteste noch teilweise so beschrieben. In den 1970ern kamen dann die Theorien zu sozialen Bewegungen auf. Sie wollten die Massen verteidigen und blendeten dafür alle Emotionen aus, beschrieben sie stattdessen als rational. Jetzt gibt es mit den Theorien von Affekt und Emotionen wieder einen neuen Wendepunkt, der weder das eine noch das andere vertritt. Die Massen sind nicht verrückt, aber sie sind auch nicht kalt und berechnend. Sie sind genauso komplex wie die Individuen, aus denen sie bestehen. Es gibt auch Literatur, die davon ausgeht, dass Gruppen mutiger und kreativer als Individuen sind – dass sie eine Art gemeinschaftliche Intelligenz besitzen.

Trotzdem ist nicht nur in Ägypten, sondern auch im Globalen Norden ein Bild noch sehr verbreitet, das Sie auch im Buch benennen: die “arabische Straße”, ein “irrer Mob brutaler Männer, die irgendwie ‘islamistisch’ und höchst irrational sind.” Wie wurde dieses Bild in Ägypten genutzt?
Der Staat hat dieses Bild von Anfang an genutzt, vor allem im Kontext der sexualisierten Gewalt, die schon 2011 auf dem Tahrir-Platz passierte. Im Land und international wurde dieses Bild verbreitet. Es war nicht das erste Mal, dass weibliche Protestierende systematisch sexuell belästigt wurden. Es gibt eine ganze Industrie dafür in Ägypten: ein kriminelles Netzwerk, lose mit dem Staat verbunden, in dessen Zentrum der sogenannte „baltagi“ steht, eine Art krimineller Schlägertyp. Solche Leute werden vom Staat bezahlt, um Proteste aufzulösen, Frauen anzugreifen oder zum Beispiel bei Wahlen dafür zu sorgen, dass Menschen die Wahlurnen nicht erreichen. Zwischen 2011 und 2013 haben diese „baltagiya” eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben Proteste sowohl angegriffen, als auch delegitimiert.

Vor zehn Jahren fand die Gegenrevolution ihren Höhepunkt im Rabaa-Massaker, bei dem das Militär unter dem damals neuen Präsident Abdel Fattah al-Sisi am Rabaa-al-Adawiya-Platz in Kairo mindestens 1000 Protestierende tötete, die gegen den Putsch und für die Wiedereinsetzung des demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Mursi demonstriert hatten. Welche Rolle spielte dieser Moment in ihrer Forschung?
Es war nicht leicht, darüber mit meinen Interviewpartner*innen zu sprechen. Ich merkte, dass wir alle das Thema mieden, und fand gerade das vielsagend. Rabaa war nur ein Schauplatz von vielen in ganz Ägypten, wo die Muslimbruderschaft und alle, die als Islamist*innen gesehen wurden, brutal angegriffen wurden. Der Staat hatte dieses Vorgehen vorher von den großen säkularen Gruppen wie auch der Azhar-Moschee und der koptischen Kirche absegnen lassen, um sicherzugehen, dass wir alle uns als Kompliz*innen dieser Gewalttaten fühlen würden – dass wir alle Blut an unseren Händen hatten. Danach hatte man nur zwei Optionen: entweder das Massaker ohne Wenn und Aber als die richtige Entscheidung zu verteidigen oder eine vernichtende und lähmende Schuld zu empfinden.

Das Gefühl der Revolution wurde auf den Kopf gestellt.
Staaten, vor allem autoritäre, sind sehr gut darin, die Affekte und Emotionen ihrer Bürger*innen zu managen. Die Revolution begann damit, dass Menschen zusammenkamen, jenseits sonst existierender Grenzen: Linke und Islamist*innen, Frauen und Männer, Kopt*innen und Muslim*innen. Diese fragilen Verbindungen wurden in den Jahren danach systematisch zerstört. Danach waren alle wie gelähmt. Das Gefühl nach Rabaa war: Hier stimmt etwas nicht, wir müssen aufhören. Denn unsere Bewegung war plötzlich mit Mord und Gewalt assoziiert.

Doch nicht alle standen still. Ihre Interviewpartner*innen aus den informellen Vierteln Kairos hatten keine andere Wahl als weiterzukämpfen. Was trieb sie an?
Diese Menschen kämpften gegen Zwangsräumung. Ihre ganze Existenz, ihr Zuhause stand auf dem Spiel. Ich beschäftigte mich viel mit den Bewohner*innen des Maspero-Dreiecks, das direkt an den Tahrir-Platz grenzt. Während der Revolution legten sie sich mit der Polizei in Downtown an, nahmen Protestierende bei sich auf und versteckten sie, behandelten Verletzte und versorgten die Menschen mit dem Nötigsten.

2018 wurde ihr komplettes Viertel dem Erdboden gleichgemacht.
Das war schon seit den 90ern geplant, aber dann hat die Regierung ernst gemacht. Einerseits ist das Teil der kompletten Neustrukturierung der Städte, und sicher stecken dahinter auch finanzielle Interessen. Doch ich sehe darin ein Kernelement der Gegenrevolution. Es ging um Rache.

Das Sisi-Regime ist bekannt für seinen radikalen Städteumbau. Ganze Nachbarschaften und Parks werden abgerissen, historische Hausboote entfernt, Nilpromenaden privatisiert. Die Regierung versucht, unter dem Hashtag #new_republic eine Vision von Modernisierung durchzuboxen – koste es, was es wolle. Was gehört zu dieser Vision dazu?
Das Vorzeigeprojekt ist die neue Hauptstadt. Und in ganz Ägypten entstehen weitere neue Versionen großer Städte. Einige dieser Ideen gab es schon unter Mubarak, doch das aktuelle Regime treibt diese voran und will darauf seine eigene Republik aufbauen. Außer der Gebäude ist aber nichts neu – höchstens eine nie da gewesene Wirtschaftskrise und eine neue Härte in der Unterdrückung. Durch neue Architektur sollen neue Bürger*innen erschaffen werden. Die Idee, Ägypten zu modernisieren und zu verschönern richtet sich explizit gegen die informellen, ungehorsamen Massen. In den Augen des Regimes haben sie die Revolution ausgelöst und müssen nun umgemodelt werden zu disziplinierten, unterwürfigen Bürger*innen.

Mitte Dezember finden die Präsidentschaftswahlen statt. Welche Bedeutung haben diese für die Bevölkerung und für das Regime?
In den letzten Monaten gab es viel Mobilisierung für die Kampagne des Kandidaten Ahmed Tantawi. Wäre er zu den Wahlen zugelassen worden, hätte das einen Unterschied gemacht. Trotzdem war die breite Unterstützung für ihn ein positives Signal. Insgesamt werden die Wahlen aber keinen Unterschied machen. Der Staat wirbt dafür, dass die Menschen wählen gehen und behauptet, die Ägypter*innen seien gleichgültig. Aber ich sehe darin eher einen stillen Boykott wie zu Mubaraks Zeiten.Die Menschen haben einfach keine Lust mehr, das Spiel mitzuspielen. Das Regime hat durch seine wirtschaftlichen “Reformen” sehr viel Unterstützung verloren. Ich denke, wir müssen uns jetzt auf die Wahlen 2030 konzentrieren. Durch die Änderungen in der Verfassung darf Sisi bis dahin an der Macht bleiben, doch was passiert dann? Ägypten sollte nie wieder einen Für-Immer-Präsidenten haben, darauf müssen wir hinarbeiten. Wenigstens das müssen wir schaffen.