Die indische Präsidentschaft der G20

Hintergrund

Der Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung des Globalen Südens und ein Dialog über anstehende makroökonomische Fragen.

Flaggen der G20 vor der Erde

Dieser Artikel erschien bereits im November 2022, also vor Übernahme G20 Präsidentschaft durch Indien, bietet aber einen guten Überblick über die wichtigsten Anliegen der indischen Präsidentschaft.


Die Gruppe der Zwanzig (G20) ist ein multilaterales Forum für kollektives Denken und Handeln in Zeiten globaler Krisen, wie der Klima- und Finanzkrise, Energie- und Ernährungsunsicherheit und Krieg. In dieser für die internationale Gemeinschaft hoch kritischen Phase polarisierter Geopolitik im Schatten eines langen Zermürbungskrieges ist der indische Vorsitz in diesem Forum so angemessen wie auch herausfordernd.

Anliegen und Verantwortlichkeiten der G20

Die G20 gilt als „das wichtigste globale Forum zur Erörterung wirtschaftlicher Fragen“. Ihre Agenda hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1999 erweitert. Im Jahr 2022, in dem wir alle von Krieg, Klimawandel, Umweltzerstörung, sozialen Ungleichheiten, Rezessionsängsten und Unruhen betroffen sind, kommt diesem Forum eine noch größere Rolle und Verantwortung zu. Die G20 bringt die am weitesten industrialisierten Länder des Nordens und die sich rasch industrialisierenden Entwicklungsländer des globalen Südens zusammen und ist somit ein Forum für den Nord-Süd-Dialog. Sie umfasst Gruppierungen wie die Gruppe der Sieben (G7) und BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sowie mehrere regional führende Nationen. Wichtige multilaterale Institutionen wie Vertreter*innen der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO) nehmen an ihren Sitzungen teil. Die wetteifernden Narrative der Großmächte treten hier deutlich zutage und führen oft zu heftigen Debatten über Handelsbedingungen, Finanzen, Migrationspolitik, Klima- und Gesundheitsfinanzierung. Die Staats- und Regierungschefs der G20 halten an diesem Gremium fest, da es keine Alternative zu Diplomatie und Debatten geben kann, zumal es bei dieser globalen Rhetorik um konkrete Regeln und Gesetze geht. Die G7 konzentriert sich auf sicherheitspolitische Fragen, während der Fokus der G20 auf der globalen Wirtschafts- und Finanzarchitektur liegt. An dieses Format wird sich auch Indien halten und sicherstellen, dass die Plattform weiterhin solide Debatten führt und Diplomatie für das globale Gemeinwohl betreibt.

Da die Präsidentschaft 2023 von Indonesien auf Indien und danach auf Brasilien übergeht, alle drei große Länder des Globalen Südens, werden die Anliegen des Südens in Bezug auf Entwicklung und Frieden in den kommenden Jahren zwangsläufig hoch auf der Tagesordnung stehen. Die drei Präsidentschaftsländer aus dem Süden sind nicht in den laufenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine verwickelt und haben somit eine gute Ausgangsposition, sich für Friedensverhandlungen und Diplomatie einzusetzen.

Die Stimme Indiens

Bezeichnenderweise positioniert sich Indien als Stimme des Globalen Südens. Die indische Finanzministerin Nirmala Sitharaman erklärte Indiens Absicht, „Ländern mit niedrigem Einkommen eine Stimme zu verleihen.“. Zuvor hatte der indische Außenminister S. Jaishankar sich ähnlich geäußert, dass „viele Indien als eine Stimme des Globalen Südens betrachten“ (S. Jaishankar, 25. September 2022). Der Sherpa-Track wird also versuchen, Entwicklungsthemen beschleunigt voranzutreiben. Für den Bereich Finanzen sind Fragen der globalen Besteuerung von Bedeutung. Laut Sitharaman sei eine globale Regulierung notwendig, um den Missbrauch von Kryptowährungen zur Terrorfinanzierung und Geldwäsche zu verhindern. Andere politische Kräfte gehen davon aus, dass Indien die G20 als Plattform der Entwicklungsländer sieht und diesbezüglich etwas bewirken möchte.

Der indische G20-Chefunterhändler Amitabh Kant sprach von einer „zerrissenen Welt da draußen“, in der der Russland-Ukraine-Krieg, die China-Taiwan-Problematik, Unterbrechungen globaler Lieferketten, Rückschläge bei den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) aufgrund der COVID-19-Pandemie sowie eine beispiellose globale Verschuldung die globale Konjunktur bremsen, in eine absehbare Rezession führen und viele damit viele weitere Herausforderungen mit sich bringen werden. Unter diesen Umständen wird Indien versuchen, die Diskussion über Krieg, Frieden und Sicherheit den Vereinten Nationen zu überlassen und sich auf Wachstums-, Finanz- und Entwicklungsfragen konzentrieren, in Verbindung mit der Umsetzung der SDGs und der Frage, wie Spätindustrialisierer eine kohlenstoffunabhängige Industrialisierung vollziehen können.

Nach Aussage des obersten Wirtschaftsberaters der indischen Regierung besteht die indische Strategie im Jahr seiner Präsidentschaft im Kern darin, „eine konsensbasierte Lösung zu finden und die Reaktion der Weltgemeinschaft zu beschleunigen“. Themen wie kurzfristige Finanzierungen für Länder mit niedrigem Einkommen werden also eine Priorität sein. Außerdem deuten politische Entscheidungsträger*innen an, dass die Regulierung von Kryptowährungen eine Priorität während der indischen Präsidentschaft sein wird.

Agenda

Die indische Präsidentschaft 2023 wird wohl thematisch breit gefächert sein und sich ohne eine lineare Reihenfolge auf mehreren Ebenen vollziehen. Sitharaman nannte acht Schlüsselprioritäten für den indischen G20-Vorsitz: Reform der multilateralen Institutionen, Beseitigung der Schuldenfalle, Unterstützung der SDGs, Wiederaufnahme der Agenda für hochwertige Infrastruktur, Förderung der digitalen Revolution und Gewährleistung von Ernährungs- und Energiesicherheit (einschließlich Klimafinanzierung). Sie gab an, dass die offiziellen Prioritäten zwar noch nicht endgültig feststehen, die genannten Themen aber sinnvoll wären, da es sich um anhaltende und dringende globale Probleme handelt. Sitharaman wies auch darauf hin, dass es sich wegen der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und geopolitischer (und bei den Treffen zu besprechender) Spillover-Effekte um turbulente Zeiten handele.

Die indische Präsidentschaft wird wohl kreative Ideen für die G20 vorbringen, die in Indien gut ankommen und dort bereits erprobt werden – zu Themen wie „Lifestyle for Environment“ (LiFE), digitale Befähigung von Frauen, verstärkte Digitalisierung der Landwirtschaft, Entwicklungssektoren, ländliche Sektoren, Methoden für die Klimafinanzierung, Kreislaufwirtschaft, Reform multilateraler Organisationen, Energiesicherheit und zahlreiche weitere relevante Themen.

Indien wird zwangsläufig Themen aufgreifen, die für den Süden von Interesse sind, wie etwa Verschuldung. Der Präsident der Weltbank David Malpass schlug vor, Indien könne während seiner Präsidentschaft im Jahr 2023 „einen effektiveren gemeinsamen Rahmen“ für Verschuldung schaffen. Die früheren Initiativen des IWF und der G20 zum Schuldenentlastung liefen 2022 aus. Zudem hat die G20-Initiative „Gemeinsamer Rahmen“ ihre Versprechungen zur Schuldenentlastung nicht gehalten, obwohl viele Länder dringend Unterstützung brauchen. Die indische Präsidentschaft wird sich wahrscheinlich für eine Diskussion einsetzen, die zum Thema Verschuldung echte Ergebnisse erzielt.

Die Unterstützung einer gerechten Energiewende und andere Nachhaltigkeitsthemen wird von indischer Seite sicherlich ebenso eingebracht werden. Indien betont immer wieder, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien nachhaltig sein muss, im Einklang mit den auf dem Pariser Gipfel formulierten Zielen. Die Internationale Solarallianz (ISA) mit 121 Ländern der Torrid-Zone (die sogenannten Sunshine Countries) würde sich für eine Solarinitiative einsetzen, benötigt aber dringend Finanzmittel sowie Forschungs- & Entwicklungsaktivitäten, um dieses Programm voranzubringen. Als Begründer von Gruppierungen wie der Indian Ocean Rim Association (IORA) könnte Indien auch das Konzept einer „blauen“ Wirtschaft für ozeanische Ressourcen vorbringen. Die IORA befasst sich seit 1997 mit Themen wie Terrorismus und Sicherheit. Die BIMSTEC-Allianz, bestehend aus Bhutan, Bangladesch, Indien, Myanmar, Nepal, Sri Lanka und Thailand arbeitet vor allem in Energiebereich zusammen.

Führende Forschungsinstitute und Think Tanks befassen sich kontinuierlich mit G20-Forschung und mit relevanten Themen und erkunden potenzielle politische Maßnahmen – wie etwa die Bildung eines speziellen interdisziplinären Teams innerhalb der G20, dass die Bemühungen koordiniert und im Rahmen für „hochwertige Infrastrukturinvestitionen“ die digitale Dimension berücksichtigt.

Konsolidierung

Es wird der G20 zugutekommen, wenn große Visionen wie integratives, gerechtes und nachhaltiges Wachstum in der Praxis konsolidiert werden. Indien wird wahrscheinlich zwei programmatische Themen der Süd-Süd-Zusammenarbeit (SSC) zusammenführen, nämlich indische Entwicklungshilfe für Länder des Globalen Südens und den Mechanismus zur Technologieförderung (TFM) im Rahmen der Entwicklungsagenda für die Zeit nach 2015. Indien, die Gruppe der 77 (Entwicklungsländer) und China setzen sich schon lange dafür ein, dass dem Technologietransfer wegen seiner großen Bedeutung für nachhaltige Entwicklung und für den globalen Süden in multilateralen Gremien ein Platz eingeräumt wird.

Kontinuität

Sowohl beim Übergang vom indonesischen Vorsitzjahr und allgemein in der Geschichte der G20 ist Kontinuität wichtig, da sich so auf Errungenschaften der Vergangenheit aufbauen lässt. Die zentrale Agenda der G20 ist die Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums, die Stärkung des internationalen Finanzsystems und die Reform der internationalen Finanzinstitutionen. Wie auch in der Vergangenheit werden drei traditionellen Pfade verfolgt, nämlich: (i) der Finanz-Track mit Fokus auf globale makroökonomische Politik und globalen Finanzfragen; (ii) der Sherpa-Track mit Arbeitsgruppen zu den Bereichen Korruptionsbekämpfung, Landwirtschaft, Kultur, Entwicklung, Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Energie, Handel, Tourismus und Investitionen; und (iii) zehn Beteiligungsgruppen, etwa zu Zivilgesellschaft (C20); Wirtschaft (B20); Frauen (W20); Arbeit (L20); Jugend (Y20) usw.

Welche Bedeutung hat die G20?

Auf die G20-Staaten entfallen zusammen etwa 80 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, 75 Prozent der weltweiten Exporte, 60 Prozent der Weltbevölkerung, 84 Prozent aller Emissionen fossiler Brennstoffe und 90 Prozent der weltweiten Patente. Während die entsprechenden Anteile für die G7 schrumpfen, steigen die Anteile der Schwellenländer verhältnismäßig an. Natürlich sehen einige Länder diesen relativen Rückgang als Bedrohung ihrer Vormachtstellung. Dies führt zu Spannungen und schärferen Vorgehensweisen.

Während die G20 in der Finanzkrise 2008-2009 effektiv gehandelt hat, verhielt sie sich in der Krise der Eurozone 2012 und erst recht während der COVID-19-Pandemie 2020-21 auffällig passiv. Neben vielen anderen Fragen stellt sich der G20 auch die der eigenen Legitimität. Es wird häufig behauptet, ein Großteil der Arbeitsergebnisse der G20 bliebe „auf die politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten ihrer Volkswirtschaften ausgerichtet“. Einige Kommentatoren beschreiben die G20 als einen exklusiven Club. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die von den ministeriellen Arbeitsgruppen abgegebenen Erklärungen zwar hehre Absichten beschreiben, aber wenig praktische Maßnahmen enthalten. Ebenfalls bemängelt wird die Konzentration auf die Prioritäten einzelner Nationen im Gegensatz zum kollektiven Gemeinwohl. Die indische Präsidentschaft möchte ein Gleichgewicht zwischen diesen Spannungen herstellen, um das Entwicklungstempo zu wahren.

Die indonesische Präsidentschaft

Die indonesische Präsidentschaft 2022 unter dem Motto „Gemeinsam von der Krise erholen, gestärkt daraus hervorgehen“ konzentrierte sich auf drei Säulen: globale Gesundheitsarchitektur, nachhaltige Energiewende und digitale Transformation. Indonesien betrieb diese Entwicklung durch Förderung einer nachhaltigen und integrativen wirtschaftlichen Entwicklung durch digitale Wirtschaft und die Beteiligung von kleinsten, kleinen und mittleren Unternehmen (KKMU). Themen der Beteiligungsgruppen im vergangenen Jahr waren Reformen im globalen Steuerwesen, Korruptionsbekämpfung, eine Vertiefung der Infrastrukturfinanzierung und der Einsatz für eine demokratischere und repräsentativere internationale Zusammenarbeit.

Bei der indonesischen Präsidentschaft ging es auch um seine auf COVID-19 und sein Engagement für die Sanierung und Erhaltung von Böden. Angesprochen wurden außerdem die indonesischen Wirtschaftsreformen, der Masterplan für wirtschaftliche Entwicklung, der einen Infrastrukturschub und öffentlich-private Partnerschaften vorsieht, und die Anstrengungen zur Gewährleistung der Energiesicherheit. Die indonesische Präsidentschaft gab offen zu, dass Ungleichheiten in Bereichen wie Mädchenbildung, digitale Lücken im Bildungssektor, Qualifikationsdefizite und andere Ungleichheiten beseitigt werden müssen. Die indonesische Präsidentschaft hatte vorgeschlagen, dass sich ein von der G20 geförderter Finanzintermediärfonds (FIF) durch menschenzentrierte Ansätze auf bestehende Ungleichheiten und die Verhinderung von Pandemien konzentrieren sollte. Dies wird im kommenden Jahr noch zu konkretisieren sein.

Themen

Bei früheren Gipfeltreffen ging es um die Finanzkrise 2008, das iranische Atomprogramm und die Reaktion auf den syrischen Bürgerkrieg. Während die robuste Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 das Forum stärkte, schien es bei der Bewältigung der weltweiten Pandemie COVID-19 hingegen eher bröckelig. Angesichts des Krieges zwischen der Ukraine und Russland treten unterschiedliche Auffassungen der G20-Mitglieder zutage. Diese Differenzen werden sich wohl über die nächsten Jahre hinziehen und die G20 wird sich damit auseinandersetzen müssen.

Zivilgesellschaft C20

Die C20 Indonesien sammelte Beiträge von 280 zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSO) aus über 55 Ländern sowie von 556 Delegierten aus Indonesien. In ihren Vorbereitungstreffen für die Abschlusserklärung forderte die C20 die Staats- und Regierungschefs der G20 auf, „ihre Eigeninteressen aufzugeben und gemeinsam Lösungen für die Krisen zu erarbeiten“. Die CSO fordern Regierungen auf, mehr Verantwortung für ihre Zusagen zu übernehmen, durch klare Zielsetzungen und Maßnahmen zur Verringerung von Kohlenstoffemissionen in den G20-Ländern eine gerechte Energiewende zu unterstützen und der Umstellung auf nachhaltige Energiequellen für eine sichere Energiezukunft sowie einer sicheren globalen Gesundheitsarchitektur Vorrang einzuräumen. Die CSO appellieren an die G20, die Gleichstellung der Geschlechter in allen Bereichen zu berücksichtigen, und fordern Steuergerechtigkeit, ein nachhaltiges Finanzwesen und eine integrative digitale Transformation.

Die Empfehlungen der Zivilgesellschaft sind ein Gegengewicht zur „Weiter so“-Agenda der G20, vor allem vor dem Hintergrund der Turbulenzen, die sich durch den Krieg zwischen der Ukraine und Russland nur noch verschärft haben. Die C20 fordert die Staats- und Regierungschefs der G20 auf, zuzuhören und Maßnahmen in den Handlungsbereichen zu ergreifen, die das Leben der Menschen unmittelbar beeinflussen. In Indonesien zeigten Jugendgruppen die Auswirkungen ihrer grünen Student*innenbewegung und die Rolle der Jugend in der Klimabewegung auf.

Wirtschaft B20

B20 Indonesien hat zwei Legacy-Programme hervorgebracht: 1. Das Carbon Centre for Excellence, welches den Kohlenstoffhandel durch bewährte Verfahren und Wissensaustausch lenken soll. 2. Die „B20 Wiki“, eine Plattform zur Stärkung von KKMU, damit diese an der globalen Lieferkette teilhaben können. Dies ist der Staffelstab, den die Beteiligungsgruppen und die Zivilgesellschaft nun unter der indischen Präsidentschaft übernehmen und weitertragen müssen.

Religion R20

Dieses Forum für interreligiöse Persönlichkeiten und Diskussionen entstand auf Initiative Indonesiens und in Absprache mit Indien, das diese Arbeitsgruppe weiterführen wird. In ihrer Sitzung äußerte die R20 die Hoffnung, dass dieser Dialog „nicht nur eine Konferenz, sondern eine globale Bewegung“ mit religiösen Führungspersönlichkeiten wird. Der Schwerpunkt soll hier sein, ein Gleichgewicht zwischen religiösen Traditionen und Relevanz in der modernen Welt herzustellen. Auf dem Treffen wurde auch die Lage religiöser Minderheiten erörtert. Indien hat dieses Forum übernommen und will den Dialog fortsetzen.

Indiens Geschichte in der G20 und im Multilateralismus

Indiens Bestrebungen in Bezug auf die G20 basieren auf Hoffnungen, die es schon seit den ersten Jahren seines Engagements in diesem Forum hegte. Indiens ehemaliger Chef-Wirtschaftsberater Montek Singh Ahluwalia brachte es 2009 auf den Punkt: (i) Hoffnung auf eine Wiederbelebung der Weltwirtschaft, was eine Reform des westlichen Bankensektors voraussetzte. Industrieländer sollten Protektionismus vermeiden, nicht nur in Bezug auf Zollschranken, sondern auch auf Zugang zu Handelsfinanzierung. (ii) Hoffnung auf Unterstützung für Entwicklungsländer, die im Zuge der Bankenkrise 2008 unter dem Abzug von privatem Kapital gelitten haben. (iii) Bessere globale Governance für die globale Integration. Dies bedeutet repräsentativere internationale Finanzinstitutionen (IFI) und deren Kapitalisierung. (iv) Den besonderen Bedürfnissen von Entwicklungsländern durch eine Erweiterung der Agenda der G20 besser Rechnung tragen. Viele dieser Themen sind weiterhin aktuell und werden von Indien wahrscheinlich in kreativer, aktueller und kontextbezogener Form eingebracht werden.

Indiens langjähriges Engagement im Multilateralismus hat mehrere Phasen durchlaufen. Wir richten uns weitgehend nach der von Kumar vorgenommenen Abgrenzung. Die frühe Phase (nach der Unabhängigkeit bis Anfang der 1960er Jahre) war von Moralität und Universalismus geprägt und endete, als sich die UNO in der Kaschmir-Frage gegen die Position Indiens stellte. Die zweite Phase (1961-1991) kategorisiert Kumar als parallelen Institutionalismus. Indien zeigte sich solidarisch mit der Dritten Welt, indem es Foren wie die Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM) und die G77 gründete, die den Anliegen der Dritten Welt eine Stimme gaben, Ungerechtigkeiten anprangerten und auf fairen Handel und faire Dienstleistungspraktiken pochten, wenn auch nur mit begrenztem Erfolg. Diese Foren der Entwicklungsländer hielten in einer Atmosphäre von Stellvertreterkriegen und Interventionen schwächere Länder aus der bipolaren Geopolitik heraus. Die dritte Phase fällt in Indiens Projektion als „aufstrebende Wirtschaft“ und seinen Wunsch, sich an die Seite der „Großmächte“ aufzuschwingen. Indien vertritt realistische außenpolitische Positionen, verzichtet auf universelle Abrüstung und baut strategische Allianzen mit den USA im Rahmen eines „Multi-Alignment“ auf. Dies gilt als risikoaverse Strategie in einer multipolaren Welt. Vor diesem Hintergrund argumentieren wir, dass Indiens außenpolitische Haltung der „Neutralität“ unter den Umständen des Russland-Ukraine-Krieges etwas anderes ist als Blockfreiheit. Sie setzt auf strategische Autonomie, strebt transaktionale und pragmatische Entscheidungen in globalen Fragen an und richtet sich eindeutig gegen Krieg. Diese Neutralität kommt dem indischen G20-Vorsitz zugute, denn Indien kann, wie auch Indonesien und einige wenige andere, als Brücke zwischen zwei Seiten fungieren, die kein Vertrauen ineinander haben.

Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland beschleunigt den Wandel der internationalen Geopolitik. Der kollektive Westen stellt den internationalen Dialog als einen Diskurs zwischen Demokratien und autoritären Ländern dar. Dazwischen gibt es nichts. Theoretisch kann dies einen exklusiven Multilateralismus bedeuten. Es gibt jedoch keine Alternative zur Diplomatie, und die wiederum erfordert multilaterales Engagement. Die G20 wird zu einer wichtigen Plattform, auf der sich polarisierte Seiten begegnen können. Indien als Präsident und Gastgeber der G20 möchte dies fördern. Da Indien die Tagesordnung vorgibt, wird es darauf achten, strittige Fragen vom Tisch zu halten und Wege in Richtung Konsens zu suchen, wo immer dies möglich ist.

Theoretisierung des Multilateralismus

Ziel des Multilateralismus als koordiniertes zwischenstaatliches Engagement auf Grundlage vereinbarter Regeln oder Grundsätze ist die Entwicklung von Leitprinzipien für zwischenstaatliche Beziehungen. Dies setzt Konsultationen und informelle Anpassungen zwischen den Staaten voraus. Ein multilaterales Format wie die G20 bedeutet keinen Souveränitätsverzicht (anders als etwa wie bei der EU).

Schlussfolgerungen

Die indische Präsidentschaft fällt in eine kritische Phase der Weltgeschichte, in der schwerwiegende und existenzielle Herausforderungen wie Klimawandel, der andauernde Zermürbungskrieg, Umweltzerstörung, Energie- und Ernährungsunsicherheit sowie soziale Ungerechtigkeiten einen kontinuierlichen Dialog und globale Lösungen erfordern. Allerdings sind die internationalen Narrative und Meinungen stark polarisiert. Der indische Premierminister Modi erklärte, die indische Präsidentschaft werde „inklusiv, ehrgeizig, entschlossen und handlungsorientiert sein“. Indien wird den Dialog über alle anstehenden Makrofragen fördern, von Klima-, Energie-, Steuer- und Finanzreformen bis hin zu praktischen Erfordernissen auf der Mikroebene und operativen Fragen wie Handelsvorschriften und Digitalisierung in verschiedenen Sektoren. Indien wird sich besonders bemühen, auf die Bedürfnisse des Globalen Südens im Bereich der nachhaltigen Entwicklung einzugehen und wahrscheinlich einige kreative Finanzierungsmethoden für den Technologietransfer in diesen Schlüsselsektoren vorschlagen. Die Suche nach einem Konsens und Ergebnisdokumenten wird eine Herausforderung für die indische Präsidentschaft sein. Das Jahr verspricht also, spannend zu werden.

 

Das englische Original ist hier erschienen: in.boell.org.

Übersetzt vom Englischen ins Deutsche durch Kerstin Trimble.