Höher, schneller, nachhaltiger? Was die digitale Ernährungswende jetzt braucht, um durchzustarten

Kommentar

Kein großes Thema auf Wahlplakaten, kaum Erwähnung im Triell – Die Herausforderungen rund um Landwirtschaft, Ernährung und Digitalisierung zählten zu den großen Verlierern des medialen Wahlkampfs. Zwar fanden sich in den Wahlprogrammen der großen Parteien Bekenntnisse für eine digital gestützte Landwirtschaft. Was fehlte war Konkreteres zu einer Politik für die smarte Lebensmittelwelt von morgen.

Alle hoffen auf eine nachhaltigere Zukunft auf dem Teller dank neuer Technologien. Dafür braucht es jedoch realpolitisches Engagement und ein tragfähiges Regelwerk für unsere Ess-Gesellschaft.

Pflanzenspross im Topf

Keine Digitalpolitik ohne Landwirtschaft und Ernährung

Digitale Technologien bieten enorme Chancen, die ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen vom Acker bis zum Teller zu bewältigen. Doch bisher fehlte die Landwirtschaft am Tisch wichtiger Digital-Gremien wie der Enquete-Kommission "Künstliche Intelligenz". Auch die Zukunftskommission Landwirtschaft tagte ohne Vertreter:innen von FoodTech oder Startups. Digitalpolitik muss endlich Landwirtschaft und Ernährung mit einschließen. Wirtschaftspolitik muss FoodTech verstehen lernen. Damit Innovator:innen über sich hinauswachsen können brauchen sie kurze Wege, klare Zuständigkeiten und eine (Land-)wirtschaftspolitik, die über den alten Tellerrand hinausblickt.

FoodTech-Startups: Bessere Vernetzung & Finanzierung

Die deutsche AgriFood Startup-Szene ist virulent und innovativ. Doch fehlt ihr die Vernetzung mit Politik, öffentlichen Institutionen und Forschung. Pioniere müssen zusammengebracht und gefördert werden. Dafür müssen sich die Ministerien einen Überblick über diese heterogen Szene verschaffen. Die neue Bundesregierung braucht einen Radar für deren Innovationen. Nur so kann sie die technologische und ökologische Transformation auf Acker und Teller gezielt vorantreiben. Weiterhin braucht es die Mobilisierung von FoodTech-Fonds und Public Private Partnerships. Denn der Mut des Wagniskapitals ist in Deutschland erschreckend gering. In Israel, den Niederlanden oder den USA finden sich bereits funktionierende Vorbilder. 

Ernährungskompetenz braucht Digitalkompetenz

Wenn Influencer:innen heute wichtiger sind als TV-Werbung, Küchengeräte Lebensmittel bestellen und Gesundheitsgadgets uns sagen, was wir essen, dann muss bei Bildung und Verbraucherschutz nachgebessert werden. Einige wenige lokale Einkaufs-Apps zu fördern springt zu kurz, ebenso halbgar zusammengeschusterte Apps aus dem Ernährungsministerium. Dass der Nutriscore Algorithmus Bio und Vollkorn immer noch nicht kennt, hat mit moderner Ernährungspolitik nichts zu tun.

Wenn ein digitaler Impfnachweis heute Realität ist, muss auch ein Herkunfts- oder Nährwertnachweis für Lebensmittel digital funktionieren. Statt das Siegeldickicht auf Verpackungen noch unübersichtlicher zu machen, braucht es Lebensmitteltransparenz auf technologischer Augenhöhe.

Infrastrukturturbo für einen freien Datenacker

5G an jeder Milchkanne sollte längst selbstverständlich sein. Doch auch mit einem erfolgreichen Breitbandausbau, können Landwirt:innen ihre Agrardaten bislang nur über Tech-Giganten wie Amazon & Co verarbeiten und speichern. Die europäische Datenwolke Gaia-X steckt noch in den Kinderschuhen. Wenn Landwirtschaft und Ernährung dort den selben Stellenwert haben sollen wie unsere Gesundheitsdaten, braucht es politischen Einsatz.

Landwirt:innen nützt es wenig, wenn sie ihre Daten „behalten“, sie selbst aber nicht nutzen und verwerten können. Open Source allein wird den "Big Data Divide" nicht aufheben. Es gilt neue Geschäftsmodelle mit einem europäischen Regelwerk möglich zu machen. So könnten digitale Agrardaten wertvoll und profitabel für die werden, die sie erzeugen. Und: Auch die besten Drohnen und Roboter können ohne generelle Fahrerlaubnis keine Nachhaltigkeit auf dem Acker vorantreiben.

Food-Work 2.0

Die voranschreitende Automatisierung trifft vor allem den Agrarsektor, die Lebensmittelwirtschaft und den -handel. Was passiert mit denjenigen, die arbeitslos werden, umschulen müssen oder deren Aufgabenfeld sich völlig verändert? Nicht nur branchenintern muss neu gedacht werden. Die neue Bundesregierung muss dringend eine Vision von der Verbindung zwischen Mensch und Maschine in der Lebensmittelwelt entwickeln. Die traurige Realität vieler Lieferfahrer:innen zeigt schon heute was "digitales Präkariat" bedeutet. Wenn bei der digitalen Transformation des Lebensmittelsystems die soziale Frage keine Berücksichtigung findet, wird die Zukunft ungenießbar.

Einblick, Vielfalt und Inklusion

Der Politik fehlt wie der Öffentlichkeit der Einblick in die Funktionsweise und Grundlagen der Technologien, die immer mehr bestimmen, was auf unseren Tellern landet. Minderheiten oder von der Norm abweichende Perspektiven werden bei der Entwicklung von technologischen Innovationen oft außer Acht gelassen, oder schlicht vergessen. Das gilt für ökologische Aspekte, Ernährungsweisen, aber auch für alte Gemüsesorten. Wenn am Ende mehr Vielfalt und nicht mehr vom (ungesunden) Gleichen auf dem Teller liegen soll, muss die Politik bei FoodTech für mehr Transparenz, Diversität und Inklusion sorgen.

Höher, schneller, weiter – doch wohin eigentlich?

Die Digitalisierung einfach nur schneller voranzutreiben, wie es im Wahlkampf von allen gefordert wurde, sagt noch nichts über das Ziel aus, auf das man zusteuert. Technologie ist Menschen gemacht und braucht konkrete Zielsetzungen und Rahmenrichtlinien. Diese müssen flexibel genug sein, damit Innovationen möglich sind und unsere kulinarischen Freiheiten erhalten bleiben. Sie sollten jedoch auch so streng sein, dass neue Gefahren abgewehrt werden können. Es geht schließlich um unsere Grundlagen. Ein Roboter allein macht noch keinen Humus und kann im Ernstfall ganze Ernten vernichten, wenn wir nicht aufpassen.