Ernährungssysteme in der Krise

Kommentar

Kann der Gipfel der Vereinten Nationen zu Ernährungssystemen im September dringend notwendige Veränderungen einleiten? Wahrscheinlicher ist, dass er das derzeitige ungerechte Modell der industrialisierten Lebensmittelproduktion legitimieren und zementieren wird.

Ein Mensch arbeitet in einem Garten auf dem Dach einens Hauses
Teaser Bild Untertitel
Dachgarten in Kalkutta, Indien

Die Covid-19-Pandemie hat die Mängel des globalen Ernährungssystems schonungslos offengelegt. Es droht eine massive, eskalierende Hungerkrise. Ein Viertel der Menschheit verfügt über keinen sicheren Zugang zu Nahrungsmitteln, jeder zehnte Mensch ist von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, und bis zu 811 Millionen Menschen weltweit hungern. Ein weiteres Viertel leidet unter verschiedenen Formen der Fehlernährung, darunter auch Fettleibigkeit, mit enormen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit.

Beide Trends sind auf dem Vormarsch, und beide stehen in direktem Zusammenhang mit Ungerechtigkeit und Armut. Unabhängig von der Menge der weltweit produzierten Lebensmittel lässt sich feststellen, dass der Anteil der hungernden und unterernährten Menschen an der Weltbevölkerung weiter ansteigt und nahrungsbedingte Krankheiten stark zunehmen. Daher ist es zwingend notwendig, Machtungleichgewichte im weltweiten Ernährungssystem zu beseitigen.

Der UN-Gipfel zu Ernährungssystemen wird wohl keine Wende bringen

Viele hoffen, dass der Gipfel der Vereinten Nationen zu Ernährungssystemen im September dringend notwendige Veränderungen einleiten wird. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Konferenz eher das derzeitige ungerechte Modell der industrialisierten Lebensmittelproduktion legitimieren und zementieren wird.

Das wäre eine schlechte Nachricht für die hungernden Menschen dieser Welt, von denen die meisten – nämlich 418 Millionen - in Asien leben. Über 282 Millionen leben in Afrika, wo jeder fünfte Mensch von chronischem Hunger betroffen ist und die Zahl der Hungernden schneller steigt als in jeder anderen Region.

Marktmacht geht über Ernährungssouveränität

Hunger ist in erster Linie ein Problem des Zugangs zu Nahrung. Die Menschen hungern nicht, weil es auf der Welt zu wenig Nahrung gibt, sondern weil sie arm sind. Gäbe es keine Ungerechtigkeit und Ungleichheit, würde die weltweite Rekordweizenernte der Jahre 2020-2021 theoretisch bis zu 14 Milliarden Menschen ernähren. Doch landwirtschaftlich erzeugte Produkte gehen an die zahlungskräftigsten Kunden - die Futtermittelindustrie oder erneuerbare Energien - und nicht an die am stärksten gefährdeten Menschen. Marktmacht geht über Ernährungssouveränität.

Gewaltsame Konflikte, extreme Wetterbedingungen aufgrund des Klimawandels, der Verlust der biologischen Vielfalt und die durch Covid-19 verursachten wirtschaftlichen Turbulenzen haben die Lage für die von Hunger gefährdeten Menschen weiter verschärft.

Seit der Grünen Revolution der 1960er und 1970er Jahre hören wir immer wieder, dass die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität der Schlüssel zur Bekämpfung des Hungers und zur Ernährung der Weltbevölkerung sei. Heute fördern Weltkonzerne wie Corteva (früher die landwirtschaftliche Sparte von DowDuPont), Bayer/Monsanto und ChemChina/Syngenta die Produktivität durch den Einsatz von chemischen Pestiziden, Kunstdünger und gentechnisch verändertem oder kommerziell gezüchtetem Hybridsaatgut, das nicht reproduziert werden kann. Eine derart kapitalintensive Landwirtschaft nützt jedoch denjenigen nichts, denen es an den Grundlagen für sichere Nahrungsmittelproduktion mangelt: an Boden, Wasser und regional verankerten Wissenssystemen.

Ungesunde Ernährung ist häufig eine Folge von Armut

Unterdessen sind weltweit etwa zwei Milliarden Menschen übergewichtig oder fettleibig. Besonders besorgniserregend ist die Situation in Mexiko, wo etwa 73 Prozent der Bevölkerung übergewichtig sind. Wenn sich an den aktuellen Ernährungsgewohnheiten nichts ändert, könnten bis 2050 45 Prozent der Weltbevölkerung übergewichtig sein. Die Folge werden explodierende Gesundheitskosten sein, wobei ernährungsbedingte Gesundheitskosten in Verbindung mit Sterblichkeit und nicht übertragbare Krankheiten bis 2030 voraussichtlich die Marke von 1,3 Billionen Dollar jährlich übersteigen werden.

Auch dieser Trend wird von mächtigen wirtschaftlichen Interessen vorangetrieben. Die Lebensmittel- und Getränkeindustrie profitiert enorm vom Verkauf ungesunder verarbeiteter Lebensmittel und zuckerhaltiger Getränke. Schließlich sind Fett, Zucker sowie Kohlenhydrate vermischt mit viel Salz die billigsten Kalorien. Im Jahr 2019 wiesen die fünf weltgrößten Nahrungsmittel- und Getränkehersteller - Nestlé, PepsiCo, Anheuser-Busch InBev, JBS und Tyson Foods – zusammen Erträge in Höhe von 262,7 Milliarden Dollar aus.

Eine gesunde, also abwechslungs- und nährstoffreiche Ernährung, ist fünfmal teurer als eine Ernährung, die nur den Energiebedarf durch stärkehaltige Grundnahrungsmittel decken muss. Fettleibigkeit ist oftmals eine Folge der geringen Kaufkraft der ärmeren Bevölkerung. Im globalen Durchschnitt kostet es 0,79 US-Dollar, um eine Person für einen Tag mit ausreichend Kalorien zu versorgen. Der Preis für eine Ernährung, die außer Kalorien auch den Nährstoffbedarf berücksichtigt, liegt bei 2,33 US-Dollar. Eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung, kostet pro Tag und Kopf mindestens 3,75 US-Dollar und ist damit für mehr als drei Milliarden Menschen unerschwinglich.

Wir brauchen ein anderes Ernährungssystem

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt haben Vorschläge gemacht, wie zukünftige  Ernährungssysteme aussehen können, die die Gesundheit von Mensch und Umwelt schützen. So hat beispielsweise die EAT-Lancet-Kommission gezeigt, dass es möglich ist, bis 2050 zehn Milliarden Menschen gesund zu ernähren, ohne den Planeten zu zerstören. Das Expert/innengremium rät, den Verzehr von Obst, Gemüse, Nüssen und Hülsenfrüchten zu verdoppeln und den Konsum von rotem Fleisch und Zucker um mehr als 50 Prozent zu reduzieren.

Woran es allerdings fehlt, sind politische Entscheidungsträger/innen, die die Dringlichkeit der Ernährungssystem-Krise verstehen und die notwendigen Veränderungen auf den Weg bringen. Dabei gilt es, den mächtigen Wirtschaftsinteressen die Stirn zu bieten und sich auf die Bedürfnisse der Schwächsten zu konzentrieren.

Die Pandemie hat den Bedarf nach einem widerstandsfähigeren, vielfältigeren Modell der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion verstärkt. Basisinitiativen auf Grundlage Gemeinwohl orientierter Entscheidungen und open-source Ideen, die sich der Vereinnahmung durch Unternehmen entziehen – wie etwa Gemeinschaftsküchen, Ernährungsräte und Initiativen für städtische Landwirtschaft - können zur Entwicklung lokaler Ernährungssysteme beitragen. Im Jahr 2020 beeinflussten rund 300 städtische Landwirtschaften (städtische Landwirtschaftsbetriebe oder Urban Farms) in der südafrikanischen Stadt Johannesburg die Ernährungsgewohnheiten der Menschen.

Wir brauchen einen Ernährungsgipfel, mit dem Ziel, Hunger und Unterernährung zu beenden, die Ökosysteme zu schützen und kleinbäuerlichen Betrieben einen angemessenen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Die am stärksten von den negativen Folgen unserer derzeitigen Ernährungssyteme betroffenen Menschen sollten eine entscheidende Rolle bei der Diskussion über deren Umgestaltung spielen.


Der Text wurde zuerst bei Project Syndicate veröffentlicht.