Eine grüne und sozial gerechte Erneuerung?

Analyse

Krisen sind Momente, in denen die Risse und Lücken in den Strukturen unserer Gesellschaften sichtbar werden. Ob Wirtschafts-, Gesundheits-, Rechtsstaatlichkeits- oder Klimakrise: Für mutige Antworten auf die Krisen unserer Zeit sind heute mehr denn je starke und progressive Allianzen gefragt. 

One World

Der Green Deal wird nur als transatlantisches Projekt funktionieren

In ihrem Ziel sind sich die USA und die EU einig: Klimaneutralität bis 2050. Auf beiden Seiten des Atlantiks stehen die Dekarbonisierung des Stromsektors, der Ausbau des Schienenverkehrs, massive Investitionspläne und die Förderung von grünen Technologien ganz oben auf der politischen Agenda. 

Die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris und der folgende Wiedereintritt der USA in das Pariser Klimaabkommen hat zweifellos eine Trendumkehr der US-amerikanischen Politik für die internationale Gemeinschaft bedeutet. Doch die EU lässt mit ihrem Beitrag zur Stärkung der Klimaallianz mit den USA noch auf sich warten. 

Als Einzelkämpferin wird die Europäische Union die Klimakrise aber nicht lösen können. Es bedarf vielmehr einer progressiven Klimaallianz, die den Klimaschutz zur Chef:innensache macht – allen voran ein europäisch-transatlantisches Bündnis, das gemeinsam die größte Herausforderung der kommenden Jahrzehnte angeht. Eine zielgerichtete Klimapartnerschaft unter demokratischen Verbündeten etwa oder eine klimaneutrale transatlantische Zone, die ökologische, soziale und wirtschaftliche Anforderungen vereint, könnten hier neue Standards setzen – mit gemeinsamer CO2-Besteuerung, Handelskriterien sowie der Förderung von digitalen und grünen Technologien. 

Start-ups auf beiden Seiten des Atlantiks arbeiten bereits heute mit innovativen Lösungen daran, wie digitale Technologien zum Klimaschutz beitragen können. In Sachen Klimamodellierung, Ernährung oder Smart Cities können Europa und die USA viel voneinander lernen, wenn sie die Foren etablieren, die es für einen engen Austausch und eine ambitionierte Führung der Klimaallianz braucht. Eine gemeinsame europäisch-transatlantische Klimadiplomatie bei der COP in Glasgow, die Wiederbelebung des US-EU-Energierats bis hin zu einer Clean Energy Bank könnten Meilensteine der transatlantischen Zusammenarbeit sein.

Klimaschutz für alle ist eine demokratische und soziale Frage 

Wenn die Klimakrise Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt, dann sind die Grundrechte in einer Demokratie an sich betroffen – das hat das deutsche Bundesverfassungsgericht im März 2021 festgestellt. Dass der Klimawandel auch Ursache von politischen und sozialen Verwerfungen ist, zeigt ein Blick in die Geschichte: Das koloniale Erbe vieler westlicher Länder verbindet sich heute mit vielen sozialen Ungerechtigkeiten, mit Sexismus und Rassismus. Dabei verschärfen die Auswirkungen des Klimawandels insbesondere für besonders vulnerable gesellschaftliche Gruppen und Regionen Exklusion und ungleiche Zugänge zu Ressourcen und Entwicklung. 

Zugleich positionieren sich weltweit rechtspopulistische und autoritäre Regierungen und Parteien als „Klimaleugner“ und kämpfen gegen die Wissenschaft und gegen die internationale Gemeinschaft mit polarisierenden nationalistischen, isolationistischen Antworten an. Somit werden auch manche Gegenbewegungen des Klimaschutzes zu einer demokratischen und sozialen Frage.  

So ist der Klimaschutz auch eine Frage von demokratischer Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit: Wie kann sichergestellt werden, dass die notwendige Transformation alle Menschen gleichermaßen mitdenkt und mitnimmt? Dafür braucht es ein starkes Bündnis unter Demokratinnen und Demokraten, ein Bündnis, das auf einer gemeinsamen Wertebasis von Freiheit und Gerechtigkeit aufbaut und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt, anstatt ihn zu spalten. Nicht zuletzt China und Russland machen deutlich, dass nur eine starke und vertrauensvolle Partnerschaft der Demokratien wirkungsvolle Antworten gegen die Autokratien, revisionistisch agierende Regionalmächte und geopolitische Rivalen dieser Zeit finden kann.

Den Green Deal gemeinsam mit den Menschen und der Zivilgesellschaft gestalten

Auf der Ebene von Zivilgesellschaft und Kommunen sind bereits viele Erfolgsgeschichten der sozial-ökologischen Transformation zu beobachten. Kommunen und Initiativen vor Ort sind maßgebliche Treiberinnen der ökologischen Erneuerung – sie sind dort, wo die Transformation ganz unmittelbar stattfindet und sie wissen am besten, wie der ökologische Umbau praktisch umzusetzen ist. 

Junge Menschen haben auf beiden Seiten des Atlantiks hörbar gemacht, dass ihnen die traditionelle Politik zu wenig gestaltet, in ihrer bisherigen Handlungsstarre nicht  hinreichend auf die Herausforderungen unserer Zeit eingeht und dafür vorbereitet ist – nicht für soziale und globale Gerechtigkeit, nicht für den Aufbau eines zukunftsfähigen Fundaments unserer Gesellschaft, schon gar nicht für die Zukunft der jüngeren Generationen. Von Deutschland über Großbritannien bis hin zu den Vereinigten Staaten sind es die marginalisierten Gruppen unserer Gesellschaft, sozial benachteiligte Menschen, Frauen, Schwarze, Indigene und Menschen of Colour (englisch: BIPoCs), die am stärksten von den beschriebenen Verwerfungen und der sich verschärfenden Klimakrise betroffen sind - und für ihre Rechte und Gleichberechtigung auf die Straße gehen.

Um den europäischen Green Deal zu einem Erfolgsprojekt mit und für alle Bürger:innen zu machen, ist ein breites Bündnis mit der Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften erforderlich. Bürger:innen aus allen Bereichen müssen mit an den Entscheidungstischen sitzen, wenn es um die Neugestaltung urbaner Mobilität oder den wirtschaftlichen Umbau geht. Bürger:innenräte, wie beispielsweise der Bürger:innenrat Klima in Deutschland, können Teil einer politischen Antwort darauf sein, die Einbeziehung von Klima-Aktivist:innen in die Ausgestaltung von Biden’s Klima-Agenda eine andere. 

Die systematische Beteiligung der Zivilgesellschaft am politischen Prozess wird die transatlantisch-europäische Antwort auf die Klimakrise bereichern und zu ihrer nachhaltigen Umsetzung beitragen - sie ist letztlich eine demokratische Frage. 

Die Krise für systemische Veränderung nutzen

Krisen stehen nie für sich. Es ist kein Zufall, dass die Covid-19-Pandemie sich besonders gut dort verbreitet hat, wo der Klimawandel und die Luftverschmutzung bereits gesundheitliche Vulnerabilitäten und soziale Spuren hinterlassen haben – etwa in Norditalien oder dem Großraum Madrid. Es ist kein Zufall, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in autoritären Ländern mehr als notwendig die demokratischen Grundrechte berühren, wenn Menschen keine Zugänge zu sozialen Infrastrukturen haben, wenn Medien ausgehebelt werden und nationale Notstände lautlos in Machtaneignung übergehen. 

Die Überwindung der Krise bietet ein Momentum für Veränderung, für einen besseren Neuaufbau: Die EU sollte gemeinsam mit den USA und anderen demokratischen Akteuren das Momentum als Katalysator für einen strukturellen Wandel nutzen, der die sozialen und technischen Infrastrukturen mit Investitionen erneuert, der das Vertrauen in das demokratische System stärkt und unsere Demokratien resilienter macht, der alle Menschen mitdenkt, nachhaltiges Wirtschaften zukunftsfest macht und unser Klima schützt. Letztlich ist es auch eine Lehre aus der Pandemie, dass Krisenresilienz und Daseinsvorsorge zum Kernauftrag von erfolgreichen und progressiven Allianzen gehört. 

Das Wiederaufbauprogramm der Europäischen Union ermöglicht diesen Neustart für eine soziale und ökologische Zukunft, wenn es klug und konsequent ausgestaltet wird und den Weg für einen gemeinsamen und ambitionierten Klimaplan, für einen europäisch-transatlantischen New Green Deal eröffnet. 

Lasst uns diese Chance für ein transatlantisches Build back better nutzen!