Frauen im Völkermord in Ruanda: Mütter oder Monster?

In Ruanda sitzen zurzeit etwa 2.000 Frauen wegen Beteiligung am Völkermord in Haft, unter ihnen Bäuerinnen, Richterinnen, Journalistinnen. Ihre Geschichten belegen: Frauen waren nicht nur Opfer des Völkermords. Sie waren auch Täterinnen. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Afrika.

Weibliche Rollenmuster waren in der Zeit vor dem Völkermord in Ruanda klar definiert: Frauen kümmerten sich um die Kinder, bewirteten Gäste, machten den Haushalt und berieten ihre Ehemänner. Auf dem Land war es etwas anders: Dort stand fast jedem vierten Haushalt eine Frau vor.

Im politischen Leben spielten Frauen eine eindeutig untergeordnete Rolle. Zwar gab es 1992 drei Ministerinnen, und zwölf von 70 Abgeordneten im Parlament waren Frauen; auf den mittleren und unteren Ebenen der Verwaltung fehlten sie jedoch fast vollständig. Die mächtigsten Frauen Anfang der 1990er Jahre in Ruanda waren die Premierministerin Agathe Uwilingiyimana, eines der ersten Opfer des Völkermords, sowie drei Täterinnen: Agathe Habyarimana, die einflussreiche Frau des Präsidenten, Pauline Nyiramasuhuko, Ministerin für Familie und Frauen, und Agnes Ntamabyaliro, die Justizministerin.

Angaben darüber, wie viele Ruander sich aktiv am Völkermord beteiligten, gehen weit auseinander. Für Ruanderinnen sind die Zahlen noch weniger zuverlässig. Der Anteil von Frauen unter den wegen Völkermord Inhaftierten beläuft sich auf unter sechs Prozent; tatsächlich muss man wohl von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Zu viele Fälle sind dokumentiert, in denen Ruanderinnen Tutsi aus ihrer Nachbarschaft zu Tode geprügelt, ihre Verstecke verraten und zum Morden aufgehetzt haben. Etwas klarer scheint die soziale und gesellschaftliche Zuordnung der Täterinnen zu sein: Es waren eher Frauen in Leitungs- und Machtpositionen, die sich aktiv am Völkermord beteiligt haben.

Richter und Staatsanwälte nehmen Frauen als Täterinnen nicht ernst genug

Wie kommt es, dass trotzdem nur vergleichsweise wenige von ihnen angeklagt und verurteilt wurden? Ein Grund ist sicher, dass das Justizsystem Ruandas stark überfordert ist. Gerald Gahima, ehemaliger Generalstaatsanwalt Ruandas: "Staatsanwälte bringen gerne nur die simpelsten Fälle zur Anklage. Eine schwierige Beweislage macht mehr Arbeit."

Hinzu kommt das traditionelle, oben beschriebene Rollenverständnis. Auch wenn die Rolle der Frau schon vor dem Völkermord bisweilen von der Norm abwich, sie galt noch lange nicht als stark, selbstbestimmt oder gar den Männern ebenbürtig. Vor Gericht beriefen sich die Täterinnen dann auch auf die gesellschaftlich anerkannten weiblichen Attribute: Sie seien von Männern gezwungen worden, hätten aus Angst gehandelt oder nur beratende Funktion gehabt. Staatsanwälte und Richter ließen sich entweder von dieser Argumentation beeindrucken oder führten sie sogar ihrerseits ins Feld. Anders ausgedrückt: Sie nahmen Frauen als Täterinnen nicht ernst.

Tatsächlich war ihnen ein Verbrechen oft auch schwerer nachzuweisen. Die ehemalige Vizepräsidentin von Ruandas Oberstem Gerichtshof, Marie-Josée Mukandamage, sagt dazu: "Frauen gehörten in der Regel nicht den Todesschwadronen an, aber sie unternahmen auch nicht viel, um anderen zu helfen. Sie waren darauf konditioniert, zu denken, es sei normal, dass Tutsi sterben. Und hinterfragten nicht."

Einige Nichtregierungsorganisationen in Ruanda behaupten, der Völkermord hätte vermieden werden können, wären mehr Frauen an der Macht gewesen. Diese Behauptung fußt auf der Annahme, Frauen seien von Natur aus weniger gewaltbereit als Männer. Beweisen kann man das nicht, und mit der Realität lässt es sich kaum vereinbaren. Auf der Liste der Genozidverbrecher der Kategorie 1, das heißt der Hauptschuldigen am Völkermord, finden sich auch 47 Frauen.

Zu diesen Hauptangeklagten gehören neben Prominenten auch weniger bekannte Frauen. Interessant ist der Fall von Anne-Marie Nyirahakizimana. Sie hatte es im ruandischen Militär bis zum Major gebracht. 1999 wurde die damals 46-jährige Mutter dreier Kinder als Täterin der Kategorie 1 zum Tode verurteilt. Sie war angeklagt worden, 1994 Mitglieder der Interahamwe-Milizen dazu aufgefordert zu haben, zu töten und zu plündern. Dieser Befehl gilt als Auslöser für das Massaker von Gikondo.

Zu ihrer Verteidigung sagte Nyirahakizimana, sie sei machtlos gewesen, habe sogar noch Menschen gerettet. Die Milizen hätten die Opfer unter Androhung von Gewalt mit sich geführt, und sie als Frau habe nichts dagegen tun können. Zudem habe sie als Ärztin – ihr ursprünglicher Beruf – versucht, Menschen zu retten. Das Gericht nahm ihr das jedoch nicht ab und verurteilte sie "aufgrund der brutalen, völkermörderischen Taten" zum Tode. Nicht immer haben die Gerichte so klar unterscheiden können zwischen weiblichen Opfern und Täterinnen.

Zu den Institutionen, die vor und während des Völkermords eine führende Rolle gespielt haben, gehört auch die Katholische Kirche. Consolata Mukangango, bekannt als Schwester Gertrude, war Oberin des Konvents im Kloster von Sovu in Butare. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Julienne Mukabutera, genannt Schwester Maria Kizito, hatte sie in Belgien Asyl beantragt. Dort wurde ihnen der Prozess gemacht: Das Urteil im Juni 2001 lautete auf mehrfachen Mord und Mordversuch und 15 beziehungsweise 12 Jahre Gefängnis.

Schwester Gertrude hatte nach Erkenntnis des Gerichtes 3.500 Flüchtlingen Nahrung verweigert, die nach Beginn der Massaker im Gesundheitszentrum von Sovu Zuflucht gesucht hatten. Dabei blieb es nicht: Als das Zentrum angegriffen wurde, flohen die Menschen ins Kloster. Schwester Gertrude rief Polizei und Soldaten, um die Flüchtlinge zurücktreiben zu lassen. Dort gab Schwester Kizito den Interahamwe-Milizen Benzin mit der Anweisung, die Flüchtlinge zu übergießen und anzuzünden; anschließend plünderte Schwester Kizito die Leichen aus. Schwester Gertrude, die Zeugin dieser Gräueltat geworden war, ließ auch noch die restlichen Flüchtlinge aus dem Kloster vertreiben.

Einige Theorien erklären sie zu Ungeheuern, entmenschlichen sie

Diese Frauen und die ihnen zur Last gelegten Taten stehen im Widerspruch zu feministischen Theorien, die behaupten, Frauen seien – entweder von Natur aus oder durch Prägung – nicht gewalttätig. Wie lassen sich diese Theorien mit dem vereinbaren, was Frauen während des Völkermords taten?

Die schlichteste Antwort ist, ihnen das Frausein abzusprechen. So sagte etwa eine ruandische Feministin, die ehemalige Familien- und Frauenministerin Pauline Nyiramasuhuko sei keine Frau – sie habe sich stets wie ein Mann aufgeführt.

Eine andere, häufig zu findende Erklärung ist, die Täterinnen in Ruanda seien Ungeheuer. Diese Wortwahl greift auf die Theorie der "bösen Frauen" zurück, wie sie bei feministischen Kriminologinnen zu finden ist: Frauen, von denen man meint, sie hätten schwerwiegend gegen gesellschaftliche Normen verstoßen, sind danach keine Frauen, denn "richtige Frauen" begehen keine Verbrechen. Auch der "männlichen Ritterlichkeit" werden sie als nicht würdig erachtet. Man erklärt sie zu Zwischenwesen, zu Ungeheuern. Man entmenschlicht sie.

Ein anderer Erklärungsversuch besagt, dass die Frauen, die in Ruanda Machtpositionen hatten, von Männern beeinflusst und beherrscht wurden. Folgt man dieser Argumentation, bedeutet es, dass Frauen in Führungspositionen nicht in der Lage sind, eigenständig zu denken und zu handeln. Zu den oben beschriebenen Täterinnen passt diese Annahme nur schwer. Sie missachtet auch, dass diese Frauen es nur durch ihre Intelligenz, ihre Begabung und Zähigkeit geschafft haben, in die Domäne der Männer einzudringen.

Was also bleibt? Es bleibt vernünftigerweise die schlichte Erkenntnis, der sich die Autorin dieses Textes anschließt, dass die Frauen, die am Völkermord beteiligt waren, als Menschen wahrzunehmen und zu beurteilen sind. Als Menschen, die sowohl viel Gutes wie auch viel Schlechtes bewirken können.

Nicht alle Frauen, die in Ruanda Führungspositionen bekleideten, haben den Völkermord unterstützt. Unter denen, die sich an dem Völkermord beteiligt hatten, handelten manche tatsächlich aus Angst, wie immer man das bewerten mag. Andere wiederum hielten dagegen und beschützten befreundete Tutsi. Wieder andere waren aus tiefster Überzeugung Täterinnen und gingen mit großer Brutalität vor. Sowohl der Versuch, ihr Verhalten zu entschuldigen, als auch, es als Bruch der üblichen Geschlechterrollen zu verurteilen, führt zu einem stereotypen Frauenbild und wird der Vielschichtigkeit, in der Frauen Gewalt erfahren und ausüben, nicht gerecht.

 

"Ich glaube, Frauen tragen am Völkermord gleichviel Schuld wie Männer"

Des Völkermordes verdächtigte Insassin im Zentralgefängnis von Kigali

 

 

Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Bernd Herrmann

Dies ist eine gekürzte Version des Artikels "Women’s participation in the Rwandan genocide: mothers or monsters?". Die vollständige Version in englischer Sprache ist auf der Website des Internationalen Kommittees des Roten Kreuzes zu finden.

Nicole Hogg war Rechtsberaterin des Roten Kreuzes in der Pazifikregion. Sie hat einen MA in Jura von der McGill University. Für ihre Abschlussarbeit führte sie zahlreiche Interviews in Ruanda und sprach unter anderem mit 71 Frauen, die wegen des Verdachts der Beteilung am Völkermord in Haft sitzen.

 

 
 
 

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