Chiles neue Regierung: Rückenwind für den Umweltschutz?

Interview

Mit dem Amtsantritt von Gabriel Boric am 11. März wird ein Richtungswechsel in der chilenischen Politik erwartet. Ezio Costa von der Nichtregierungsorganisation FIMA hofft auf ein Umdenken im Umweltschutz und warnt vor den Folgen von Rohstoffabbau für die globale Mobilitäts- und Energiewende.

Gabriel Boric
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Gabriel Boric, Präsident Chiles

Nach der Wahl des 36-jährigen Gabriel Boric zum Präsidenten sind die Hoffnungen auf eine sozialökologische Wende in Chile groß. Im Dezember letzten Jahres gewann der linksprogressive Boric die Stichwahl gegen den ultrarechten Kandidaten José Antonio Kast. Nach Jahrzehnten neoliberaler und extraktivistischer Wirtschaftspolitik könnte die neue Regierung einen echten Unterschied machen. Darauf deutet auch Borics Kabinett, das zu einem guten Teil aus Umweltfachleuten besteht. Personalien wie die Umweltministerin Maisa Rojas (Physikerin und Klimatologin), der Energieminister Claudio Huepe (Umweltökonom) und der neue Verkehrsminister Juan Carlos Muñoz (Sozial- und Umweltingenieur) machen Hoffnung, dass Boric sein Wahlkampfversprechen einer ökologischen Umgestaltung des Landes einhalten wird – die Herausforderungen sind jedoch enorm.

Ezio Costa

Ezio Costa Cordella ist Anwalt, Direktor der Nichtregierungsorganisation FIMA (Fiscalía para el Medioambiente) und Professor für Umweltrecht am Zentrum für Regulierung und Wettbewerb der Universität von Chile. Er befasst sich mit Interessenvertretung und Prozessführung im Bereich Umweltschutz und Menschenrechte und hat mehrere akademische Arbeiten veröffentlicht, darunter „Participación Ciudadana. Conceptos Generales, Deliberación y Medio Ambiente" (DER, 2020), "Por una Constitución Ecológica: replanteando la relación entre sociedad y naturaleza" (Catalonia, 2021) und "Derechos de la Naturaleza en Chile. Argumentos para su desarrollo constitucional" (Ocho Libros, 2022, Mitautor). Die Umwelt-NGO FIMA ist eine Partnerorganisation der Heinrich-Böll-Stiftung in Chile.

Caroline Kassin: Mit Maisa Rojas ist ab dem 11. März eine renommierte Klimatologin Umweltministerin im Kabinett Boric. Sie ist promovierte Atmosphärenphysikerin und war eine der Autorinnen des IPCC-Ausschuss für Klimawandel. Wird Chile mit ihr das erste lateinamerikanische Land sein, das Klimaneutralität erreicht?

Ezio Costa: Das halte ich für möglich, aber ich glaube, es gibt zwei Dinge, die wichtiger sind und zu denen Maisa Rojas hoffentlich einen Beitrag leisten kann. Erstens müssen alle lateinamerikanischen Länder bei der Verwirklichung ihrer Ziele gemeinsam vorankommen; dies ist kein Wettbewerb, sondern genau das Gegenteil. Und zweitens ist das Erreichen von Kohlenstoffneutralität keine gute Politik, wenn der Preis dafür die weitere Zerstörung von Ökosystemen ist. Es ist verständlich, dass es im globalen Norden nicht so klar ist, dass die Klima- und die Umweltkrise ein und dieselbe ist, aber in Chile wird es sehr deutlich, wenn wir sehen, wie der Abbau von Lithium und Kupfer den Wasserkreislauf unseres Landes schädigt. Diese Kreisläufe sind bereits durch Klimawandel und Raubbau geschädigt, aber die Unternehmen, die sie weiter ausbeuten wollen, verstecken sich hinter dem angeblichen Bedarf an diesen Mineralien für die Kohlenstoffneutralität.

Aufgrund seiner großen Lithiumvorkommen spielt Chile eine Schlüsselrolle bei der weltweiten Umstellung auf Elektromobilität – auch bei uns in Deutschland. Der Umweltschutz spielt in der Debatte meist keine Rolle. Kann Boric diese Interessen miteinander in Einklang bringen?

Das ist sicherlich nicht einfach. Und es gibt noch weitere Probleme: Wer baut das Lithium ab und was wird damit entwickelt? Und wie schützt man die Verbindung der indigenen Völker zu den Salare, in denen das Lithium abgebaut wird? Das Programm von Boric sieht die Gründung einer nationalen Lithiumgesellschaft vor. Es ist zu hoffen, dass damit eine komplexe Industrie entwickelt wird, auch wenn wir keine komparativen Vorteile haben, aber um diese Position in Zukunft zu verbessern. Dazu bedarf es aber zweifellos eines sozial-ökologischen Abkommens mit Schutzstandards, die sowohl aus der Sicht der künftigen Generationen als auch aus der Sicht der indigenen Gemeinschaften akzeptabel sind. Das nationale Lithiumunternehmen wird eine wichtige Rolle bei den partizipativen Prozessen spielen, die zur Schaffung dieser Standards führen werden.

Deutschland hat seit einiger Zeit auch wegen einer anderen Ressource ein gesteigertes Interesse an Chile. 2019 wurde eine Energiepartnerschaft geschlossen, dabei geht es vor allem um die Produktion von grünem Wasserstoff. Die Bedingungen in Chile scheinen dafür ideal…

Im Moment wird die grüne Wasserstoffproduktion positiv, aber auch mit Vorsicht betrachtet, da die Umweltauswirkungen letztlich davon abhängen, in welchem Umfang die Industrie entwickelt wird. Wenn sie fossile Brennstoffe in Chile ersetzen soll, wird es wahrscheinlich keine größeren Probleme geben, aber wenn sie für den Export bestimmt ist, ändert sich das Ausmaß. Wie viele Quadratkilometer Land werden für die Stromgeneratoren benötigt? Wie viel Wasser? Wenn es sich um Meerwasser handelt, welche Anforderungen werden an die Entsalzungsanlagen gestellt? Müssen neue Häfen gebaut oder bestehende erweitert werden? Dies sind alles Fragen, die noch zu beantworten sind. Das Regierungsprogramm sieht vor, die Branche mit neuen Standards weiterzuentwickeln, und wir müssen uns sehr genau ansehen, welche das sind.

Für den chilenischen Bergbau könnte grüner Wasserstoff eine Chance sein. Chile ist der weltweit größte Exporteur von Kupfer, insgesamt macht der Bergbau mehr als die Hälfte der Exporte aus, aber auch rund 30 Prozent des Strombedarfs. Der größte Teil dieses Stroms stammt immer noch aus fossilen Brennstoffen. Geht das in Zukunft auch klimaneutral?

Ich gehe davon aus, dass sich der Bergbausektor in Richtung Kohlenstoffneutralität entwickeln wird. Das lassen sowohl die Äußerungen der Industrie als auch Borics Regierungsprogramm vermuten. Auch die Bemühungen in Sachen grüner Wasserstoff und die Zunahme sauberer Energie weisen in diese Richtung. Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht die einzige Anstrengung ist, sondern dass die Bergbauindustrie die Verantwortung für die von ihr verursachten Schäden übernimmt und nicht versucht, in Gebiete mit hohem kulturellen Wert und großer biologischer Vielfalt vorzudringen.

Dass Energiegewinnung aus natürlichen Ressourcen nicht immer ökologisch ist, zeigt in Chile das Beispiel der Wasserkraft. 2020 betrug ihr Anteil an der Stromerzeugung 26 Prozent, doch die Staudämme sind sensible Eingriffe in die Umwelt und seit vielen Jahren Gegenstand heftiger Konflikte. Wie positioniert sich die neue Regierung in dieser Frage?

Seit der Kampagne "Patagonien ohne Staudämme" ist diese Art von Projekt in Chile nicht mehr vorgestellt worden, und ich denke, das wird auch so bleiben. Wasserkraftwerke sind in mehrfacher Hinsicht sehr heikle Maßnahmen, insbesondere in einem Land, das stark unter Dürre und schlechter Wasserbewirtschaftung leidet. Selbst Laufwasserkraftwerke sind in diesem Szenario sehr komplex und stoßen bei den Gemeinden auf großen Widerstand, da einige von ihnen in sensiblen Gebieten installiert werden sollen. Neue Energieprojekte sollten hauptsächlich aus Wind- und Sonnenenergie bestehen.

Die letzte Regierung wurde für ihren mangelnden Umweltschutz kritisiert. Monokulturen, Bergbau, Lachsfarmen und sogenannte Umweltopferzonen, um nur einige Themen zu nennen. Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Änderungen in der Umweltpolitik, die von der neuen Regierung zu erwarten sind?

Meiner Meinung nach ist das bei weitem Wichtigste der allgemeine Ansatz für unsere Beziehung zur Umwelt. Die Vorgängerregierung betrachtete Umweltvorschriften als "lästiges Übel" für Investitionen, und das Hauptaugenmerk in Umweltfragen lag auf Themen, in denen Geschäftsmöglichkeiten für das Land gesehen wurden. Abgesehen von rühmlichen Ausnahmen, wie der Regulierung von Kunststoffen. Die Vision des Programms von Gabriel Boric und das Wissen um die Menschen, die es umsetzen werden, haben zu einem größeren Bewusstsein für die Klima- und Umweltkrise geführt und dafür, wie diese vom Staat angegangen werden muss, um das Wohlergehen der Bevölkerung zu fördern. Die Einsicht, dass Umweltvorschriften kein Hindernis, sondern eine Voraussetzung für Entwicklung sind, wird hoffentlich einiges ändern.

Welche Rolle spielt dabei die neue Verfassung, die in Chile zurzeit erarbeitet wird?

Die neue Verfassung, so hoffen wir, wird eine Leitlinie für eine Veränderung des Verhältnisses zur Natur enthalten, die uns aus der Klima- und Umweltkrise helfen wird. Wir hoffen, dass sie unter anderem die Rechte der Natur, die Grundsätze des Umweltschutzes und der Umweltgerechtigkeit, die Pflichten des Staates beim Schutz der natürlichen Kreisläufe und die Anerkennung der gemeinsamen Naturgüter sowie die Menschenrechte auf eine gesunde Umwelt und auf Beteiligung, Information und Gerechtigkeit in Umweltfragen anerkennen wird. In diesem Sinne wird die Verfassung wahrscheinlich Instrumente bereitstellen, die eine bessere Umweltregulierung ermöglichen, aber diese Regulierung, ihre Umsetzung und Entwicklung wird vom Staat abhängen und mittelfristig entwickelt werden. Unmittelbar sollte die Regierung politische Maßnahmen, Pläne und Normen zur Anhebung der Umweltstandards erarbeiten, wobei eine der wichtigsten Fragen die Stärkung der bestehenden Institutionen ist.