Überraschung bei der Präsidentschaftswahl in Chile

Analyse

Auch der zweite Wahlgang der Präsidentschaftswahl in Chile endet mit einer Überraschung: Der Unternehmer Sebastián Piñera und das konservative Regierungsbündnis „Chile Vamos“ („Vorwärts Chile“) gewinnen unerwartet klar.

 

Chile hat einen neuen Präsidenten gewählt, den milliardenschweren Unternehmer Sebastián Piñera, der bereits von 2010-2014 das höchste Staatsamt innehatte. Mit 54,6 Prozent der Stimmen, knapp 1,4 Millionen mehr als beim ersten Wahlgang, konnte sich Sebastián Piñera mit deutlicher Mehrheit gegen seinen Herausforderer Alejandro Guillier durchsetzen. Der Kandidat des Regierungsbündnisses „La Fuerza de la Mayoria“ („Kraft der Mehrheit“) erhielt lediglich 45,4 Prozent der Stimmen. Nur 48 Prozent der insgesamt 14,3 Millionen Wahlberechtigten hatten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, immerhin 300.000 mehr als beim ersten Wahlgang. Insbesondere junge und Wähler/innen aus sozial prekären Familien bleiben den Wahlurnen fern. Chiles Wahlrecht sieht für den Fall, dass keiner der Präsidentschaftskandidaten im ersten Wahlgang mehr als 50% der Stimmen erhält eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Kandidat/innen vor.

Bild entfernt.Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 19. November hatten dem siegessicheren rechten Präsidentschaftskandidaten zunächst eine herbe Niederlage beschert. Anstelle der erhofften 45 Prozent der Stimmen konnte Piñera lediglich magere 36,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Dies waren 600.000 Stimmen weniger als bei den Wahlen von 2009. Alejandro Guillier seinerseits erreichte lediglich 22,7 Prozent der Stimmen und fuhr damit das schlechteste Ergebnis für das Regierungsbündnis Concertación/Nueva Mayoría seit 37 Jahren ein. Überraschungssieger waren einerseits die Kandidatin des neuen Linksbündnisses Frente Amplio, Beatrice Sánchez, die entgegen aller Meinungsumfragen, die bescheidene acht Prozent vorausgesagt hatten, knapp über 20 Prozent der Wähler/innenstimmen gewinnen konnte. Andererseits überraschte das starke Abschneiden des Rechtspopulisten José Antonio Kast, der acht Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Während Piñera auf die Stimmen der Rechten im zweiten Wahlgang rechnen konnte, sah die Lage für den Kandidaten des Regierungslagers schwieriger aus, da er einerseits um die Stimmen des stark geschrumpften christdemokratischen Zentrums und andererseits um die des neuen Linksbündnisses Frente Amplio werben musste.

Der aus den Studierendenprotesten hervorgegangen Frente Amplio war von Anfang an, auf deutliche Distanz zum Regierungslager gegangen, das sich aufgrund der mangelnden Umsetzung der Reformagenda nach Ansicht der jungen Generation delegitimiert hatte. Um die Präsidentschaftswahlen gewinnen zu können, hätte Alejandro Guillier mindestens 75 Prozent der Wählerschaft des Frente Amplio für sich gewinnen müssen. Die Führung des Frente Amplio hatte sich jedoch dagegen entschieden, ihre Basis explizit dazu aufzurufen, für den Kandidaten des Regierungsbündnisses zu stimmen. Zwar kündigten führende Köpfe des Frente Amplio, darunter auch die Präsidentschaftskandidatin Beatrice Sánchez an, dass sie bei der Stichwahl für Alejandro Guillier stimmen würden. Ein wesentlicher Teil der Basis blieb beim zweiten Gang dann jedoch den Wahlurnen fern. Auch in den Wahlbezirken der Hauptstadt Santiago und in Valparaíso, in denen sich die Hochburgen der neuen Kraft befinden, konnte sich Sebastián Piñera mehrheitlich durchsetzen. Nach einer ersten Auswertung der Wahlergebnisse in Santiago wies das Wahlergebnis einen starken Klassenbias auf. In den reichen Wohnvierteln des Nordwestens war die Wahlbeteiligung wesentlich höher als in den ärmeren Vierteln. In den exklusiven Wohnvierteln wie etwa Lo Barnechea und Vitacura konnte der Unternehmer über 80% der Stimmen auf sich vereinigen, während die Arbeiterviertel wie etwa San Miguel und die Pedro Aguirre Cerda mehrheitlich für Guillier stimmten.

Rechtsruck – Linksruck?: Wie lässt sich das Ergebnis einordnen

Zwar konnte sich die Rechte erstaunlich klar bei den Präsidentschaftswahlen durchsetzen, die Mehrheitsverhältnisse im Kongress sehen jedoch anders aus. Das Regierungsbündnis Chile Vamos verfügt über 73 der insgesamt 155 Abgeordnetenmandate, d.h. nicht über die erforderliche Mehrheit von 78 Stimmen, um Gesetze mit einfacher Mehrheit zu verabschieden. Nueva Mayoria (43) und Christdemokratie (13) konnten insgesamt 56 Abgeordnetenmandate erringen. Hinzu kommen 20 Mandate des Frente Amplio und weitere Mandate für Splitterparteien, die mehrheitlich der Opposition nahestehen. Auch im Senat fehlt die notwendige Mehrheit. Die Rechte kontrolliert lediglich 20 der insgesamt 43 Sitze. Für umfassende Reformen, die zudem mehr als der absoluten Mehrheit bedürfen, fehlt es dem Bündnis Chile Vamos somit an den notwendigen Stimmen. Allerdings ist die Rechte eher auf den Erhalt des Status quo, denn auf strukturelle Veränderungen aus, so dass die mangelnde Mehrheit lediglich einen Bremsklotz für die Rücknahme der moderaten Reformen des Regierungsbündnisses, etwa in Sachen Abtreibungsrecht und Transparenzgesetze gegen die wachsende Korruption, darstellen sollte. Dringend notwendige Reformen wie die Bildungs-, Renten-, Verfassungsreform und eine Reform der Wassergesetzgebung dürften damit für weitere vier Jahre in den Ausschüssen versanden. Aufgrund der im regionalen Vergleich außergewöhnlich hohen Budgetrechten des chilenischen Präsidenten verfügt der chilenische Präsident ferner über ein potentes Disziplinierungsinstrument gegenüber dem Kongress.

In den Wahlsendungen interpretierte die Rechte den Wahlsieg Piñeras als einen weiteren Fall von „Rechtsruck” aufgrund der angeblichen Radikalisierung der Linken. Nach dem ersten Wahlgang hatte die rechte Presse das Bild eines „Chilezuela“ gezeichnet, eines Landes, das in einem ähnlichen Chaos wie Venezuela versinken würde. Die Linke reagierte mit beißendem Humor in den sozialen Netzwerken. Eine seriösere Lektüre der vorhandenen Wahldaten legt hingegen nahe, dass der Wahlsieg der Rechten eher das Ergebnis des zu geringen Reformwillens der bisherigen Regierungskoalition war. Präsidentin Bachelet hatte die Wahlen vor vier Jahren nach der massiven Protestwelle der Studierendenbewegung mit einer ambitionierten Reformagenda gewonnen. Am Ende ihrer Amtszeit hatte sie von den zentralen Versprechen fast nichts umsetzen können. Renten-, Arbeitsrechts- und Verfassungsreform waren auf halber Strecke stecken geblieben, die dringend notwendige Dezentralisierung des stark zentralistischen Landes auf die nächste Legislaturperiode verschoben worden.

Im Bildungsbereich, der Kernforderung der Studierendenbewegung hatte sich die Regierung für ein Stipendiensystem entschieden, das nach einer Studie der renommierten Fundación Sol eher den Banken zugute kommen sollte, als die strukturellen Probleme lösen. Lediglich im Bereich sexuelle und reproduktive Rechte gelang es der Regierung Fortschritte vorzuweisen. Ein moderates Abtreibungsgesetz führte dazu, dass die Abtreibung in Chile nun nicht mehr in allen Fällen strafbar ist. Das neue Abtreibungsgesetz stellt jedoch lediglich den Rechtsstatus wieder her, der bereits zwischen 1931 und 1989 gültig war. In den Augen der Anhänger/innen des Frente Amplio erklärte die sozialdemokratische Politik der kleinen Schritte den massiven Popularitäts- und Legitimitätsverlust der Regierung Bachelet. Alejandro Guillier hatte zwar nach dem ersten Wahlgang versucht, gewisse Zugeständnisse an potentielle Wähler/innen aus dem linken Spektrum zu machen und Teile der kommunistischen Hoffnungsträger/innen wie etwa die ehemalige Studierendenführenden Camila Vallejos und den populären Bürgermeister Daniel Jadue  in das Wahlkampfteam integriert. Die personellen und inhaltlichen Zugeständnisse  gingen der Anhängerschaft des Frente Amplio jedoch nicht weit genug. Guillier und die bisherige Regierungskoalition scheiterten im Endeffekt aufgrund der mangelnden Glaubwürdigkeit, wirkliche Strukturreformen durchzuführen. Zu lange hatten die Regierungskoalitionen, die mit Ausnahme der ersten Präsidentschaft Sebastián Piñeras (2010-2014) seit 1990 durchgehend an der Macht waren, das nachautoritäre System verwaltet, ohne es wirklich umzugestalten. Mit dem Frente Amplio, der im neuen Kongress mit 20 Abgeordneten und einem Senator vertreten sein wird, ist somit erstmals eine politische Kraft entstanden, die umfassende ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen und einen Bruch mit den Hinterlassenschaften der Militärregierung fordert.

Das Phänomen José Antonio Kast: Zwischen Rechtspopulismus und Pinochet-Nostalgie

Auf der anderen Seite steht der rechtspopulistische Politiker José Antonio Kast und seine Bewegung Evópolis, die im ersten Wahlgang mit einer xenophoben und homophoben Programmatik  acht Prozent der Stimmen erringen konnten. Der Aufstieg von Kast fällt genau mit dem Augenblick zusammen als sich ein Teil der chilenischen Rechte im Umfeld der Partei Renovación Nacional (Nationale Erneuerung) stärker in der Mitte ausrichten wollte. Er verdrängte die Unión Democrática Independiente (Unabhängige Demokratische Union), die bis dahin den harten Kern der Pinochet-Anhängerschaft vertreten und erste Gesten einer Abgrenzung von den Verbrechen des Militärregimes gemacht hatte. Die erste Regierung Piñera verfolgte zwar ein orthodoxes Wirtschaftsprogramm, antwortete auf die Herausforderungen der Studierendenrevolte jedoch mit orthodox neoliberalen Instrumenten: mehr Markt, mehr Stipendien. In anderen Bereichen war sie hingegen wesentlich unorthodoxer – so etwa im Bereich sexueller und reproduktiver Rechte und der Homoehe – was bei ultrarechten katholischen Kreisen auf Unverständnis stieß. Der rechte Intellektuelle Gonzalo Rojas sprach gar von einem Verlust der Identität. Genau diese Sektoren vertritt José Antonio Kast. Kast, der über enge Verbindungen zu evangelikalen Kirchen verfügt, stilisierte sich zum Verteidiger der christlichen Familie, trat vehement gegen das neue Abtreibungsgesetz und die Ehe zwischen homosexuellen Paaren ein, fordert stärkere Grenzkontrollen und eine Politik der harten Hand gegen Kleinkriminelle, ohne die großangelegten Korruptionsskandale bei Militär und Polizei auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Die Basis dieser neuen Strömung von ewig gestrigen Pinochetanhänger/innen, die die Wahl Piñera begeistert mit einer Büste des ehemaligen Diktators feierten ist heterogen. Neue Wählerschichten konnte er weniger ansprechen, wohl aber Teile der traditionellen, rechten Wählerschaft für sich gewinnen.[i]

Gefahren und Chancen der neuen politischen Landschaft Chiles

Angesichts des starken Abschneidens der Ultrarechten ist davon auszugehen, dass die zweite Regierung  Piñeras einen wesentlich konservativeren Kurs als die erste verfolgen wird. Dies wird insbesondere Auswirkungen auf die Geschlechter- und Familienpolitik, den Umweltbereich, den fälschlicherweise als „Mapuche-Konflikt“ bezeichneten Konflikt um Land und Wasser in der Araucanía und in der Haltung gegenüber sozial-ökologischen Konflikten und Umweltaktivist/innen zeigen. Ähnlich wie derzeit auch in Argentinien unter Präsident Macri zu beobachten,  ist mit schrumpfenden Spielräumen für die Zivilgesellschaft und mit einer wachsenden Kriminalisierung von Menschenrechts- und Umweltaktivist/innen sowie indigenen Organisationen und Bewegungen zu rechnen. Auf der anderen Seite wuchs die Stärke linker Kräfte in Senat und Parlament auf Kosten der politischen Mitte. Fest steht, dass mit diesen Wahlen, die Logik des nachautoritären politischen Systems aufgebrochen wurde. Erstmals ist im Parlament eine junge Generation von Politiker/innen vertreten, die die Logik der nachautoritären Konsensdemokratie grundlegend in Frage stellt und ihre Basis in den nächsten vier Jahren zu erweitern sucht. Dies dürfte auch eine Sogwirkung auf die linken Kräfte des Regierungsbündnisses ausüben, die bisher nur mäßigen Reformeifer an den Tag gelegt hatten. Sollte die These zutreffen, dass die Politikverdrossenheit der schweigenden Mehrheit der Chilen/innen, die bisher den Wahlurnen fern blieben auf dem mangelnden Vertrauen in den Gestaltungs- und Reformwillen der progressiven Kräfte beruhte, so könnte die zu erwartende Polarisierung der Parteienlandschaft zu einer demokratisch wünschenswerten Repolitisierung der chilenischen Gesellschaft führen. Angesichts der Stärke des ultrarechten Randes im neuen Regierungsbündnis besteht jedoch die gleichzeitig die Gefahr, dass die herrschenden Besitzeliten zu erwartende Auseinandersetzungen in Parlament und auf der Straße nicht mittels politischer, sondern mit den Instrumenten des Polizeistaates zu lösen versuchen.

 

[i] Daten beruhen auf einer ausführlichen Analyse, die César Guzmán Concha für das Regionalbüro Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung erstellt und demnächst online verfügbar sein wird.