Kriegsgefahr in der Ägäis - Türkische Provokationen und griechisch-europäische Antworten

Die türkischen Grenzüberschreitungen in der Ägäis haben das Potential einer militärischen Eskalation. Es ist klar, dass die türkische Regierung damit innenpolitische Ziele verfolgt. Gerade deshalb helfen keine Drohungen.  Publikationen, Artikel und Veranstaltungen zur aktuellen Lage in Europa und Nordamerika

Türkische Fregatte "Yildrim" auf hoher See
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Die türkische Fregatte "Yildrim" bei einer Übung im Schwarzen Meer

Ganz Europa schaut wie gebannt auf die innenpolitische Situation in der Türkei und mit welchen außenpolitischen Grenzüberschreitungen die türkische Regierung ihren innenpolitischen Zielen zu dienen sucht. Weniger aufmerksam verfolgen die Medien in Deutschland die wiederholten Übergriffe an der türkisch-griechischen Grenze. Doch während es im Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Minister und Ministerinnen in den Niederlanden oder in Deutschland um Beschimpfungen und Beleidigungen und das Herausfordern der Aussperrung geht, haben die Vorgänge im türkisch-griechischen Grenzgebiet das Potential einer militärischen Eskalation. Das unterscheidet die gegenwärtige Situation von den schon fast zum Ritual gewordenen Grenzverletzungen, mit denen die Türkei seit Jahren zu Wasser und in der Luft das griechische Hoheitsgebiet verletzt.

Seit Januar dringen beinahe täglich Kampfjets der türkischen Luftwaffe sowie Küstenboote und Kriegsschiffe der türkischen Marine in das griechische Hoheitsgebiet ein. Meist geschieht dies in der Nähe kleinerer unbewohnter Felseninseln, die dicht vor der türkischen Küste liegen und auf die die Türkei Ansprüche erhebt. Die Verletzungen des griechischen Hoheitsgebiets dauern meist nur wenige Minuten, dafür jedoch ereignen sie sich an manchen Tagen mehr als hundert Mal. Das Eindringen türkischer Schiffe in griechische Gewässer dauert wohl länger, findet aber nicht jeden Tag statt.

Vorläufiger Höhepunkt war am 17. Februar, als in den Morgenstunden ein türkisches Kanonenboot in der Nähe der griechischen Insel Farmakonisi in der südlichen Ägäis in griechische Gewässer eindrang und scharfe Munition verschoss. Der türkische Generalstab hatte zuvor über das Informationssystem Navtex die internationale Schifffahrt über eine vorgesehene Militärübung informiert und vor dem Befahren dieser Gewässer gewarnt. Es handelt sich bei diesem Manöver also nicht um ein Versehen, sondern eine gezielte Aktion.

Das türkische Verhalten im griechischen Hoheitsgebiet wird nicht nur von griechischer Seite als Provokation empfunden. Auch internationale Beobachter bewerten die fortwährende Verletzung des internationalen Rechts durch die Türkei als Gefährdung für den Frieden mit Potential für eine militärische Eskalation durch einen jederzeit möglichen „Unfall“. Bislang antwortet die griechische Seite proportional. Sie lässt in etwa gleicher Zahl ihre Abfangjäger aufsteigen und ihre Marine auslaufen. Die sollen dem türkischen Gegenüber signalisieren: Ihr verletzt Hoheitsgebiet, verlasst es umgehend, sonst drohen Konsequenzen! Zugleich sucht die griechische Regierung auf diplomatischem Wege Unterstützung bei den Partnern aus Europäischer Union und NATO.

Rote Linien – die Türkei wird sie testen

Am Abend der Ereignisse vor Farmakonisi sprach der griechische Außenminister Kotzias in einem Interview von „roten Linien“, die die Türkei im Falle der Wiederholung einer solchen Schießübung zu überschreiten drohe: “Einige in der Türkei denken, dass Griechenland wie Syrien oder Irak sei. Ihr „Spiel“ in Farmakonisi stellt eine ernsthafte Verletzung des internationalen Rechts dar und ich meine, sie sollten wissen, dass wir nicht immer so tolerant sein werden, unsere Antwort wird nicht nur die gleiche bleiben wie diesmal, wir werden sehr viel härter reagieren.“

Das ist eine offene Drohung. Und die dürfte in Ankara dankbar aufgenommen worden sein. Denn bis zum 16. April, dem Tag des Referendums über eine neue türkische Verfassung, braucht der türkische Präsident Erdogan den Notstand im Inneren und den Konflikt mit den Nachbarn. Beides soll die Menschen in einer tief gespaltenen Türkei zusammenrücken und den Schutz durch einen allmächtigen Präsidenten suchen lassen, der sich durch die neue Verfassung die entsprechende Vollmacht geben lassen will. Und deshalb sind Drohungen, gegen die die türkische Regierung dann noch mehr mit den Säbeln rasseln kann, sehr willkommen. Die Türkei, so viel ist bis zum Referendum sicher, wird testen, wie weit sich rote Linien dehnen lassen.

Es ist allen klar, dass die türkische Regierung mit ihrer Konfliktstrategie innenpolitische Ziele verfolgt. Gerade deshalb verwundert, dass der griechische Außenminister nicht kühlen Kopf bewahrt, sondern rote Linien zieht. Auch in seinem Fall mögen innenpolitische Ziele eine wichtigere Rolle gespielt haben als kluges außenpolitisches Kalkül. Denn die Opposition, allen voran die konservative Neue Demokratie, fordert energische Antworten auf die türkischen Grenzüberschreitungen, und sie spekuliert dabei auch auf Spannungen innerhalb der links-rechten Regierungskoalition, deren kleinerer Partner, die rechtsnationalen Unabhängigen Griechen, mit ihrem Parteichef Kamenos den Verteidigungsminister stellen.

Andere Konfliktlinien: Zypern, Asylanträge türkischer Militärs in Griechenland

Mit neuen Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei war schon seit Wochen gerechnet worden. Die Zypern-Gespräche hatten einen für die Türkei gefährlichen Punkt erreicht, an dem klargestellt werden musste, ob die Türkei bereit ist, nach einer Übergangszeit ihre Besatzungsarmee von der Insel abzuziehen und Sicherheitsgarantien für die türkischen Inselbewohner an den gemeinsamen Staat der Inseltürken und Inselgriechen als Mitglied der EU zu übertragen. Bis zum Referendum ist in dieser Frage von türkischer Seite keine Bewegung zu erwarten. Kompromisse werden als Zeichen der Schwäche vermieden. Dabei erscheint es ausgeschlossen, dass auf dem Boden eines vereinten EU-Mitglieds Zypern auf Dauer eine türkische Besatzungsarmee verbleibt.

Den anderen Streitpunkt zwischen Griechenland und der Türkei bildet die Entscheidung des höchsten griechischen Gerichts, dass acht türkische Offiziere, die in der Nacht des Militärputsches in Griechenland Asyl beantragt haben, nicht an die Türkei ausgeliefert werden dürfen. Es gebe ernste Zweifel, besagt das Urteil, dass sie in der Türkei ein rechtsstaatlich faires Gerichtsverfahren erwarte. Über den Asylantrag selbst muss ein anderes Gericht entscheiden. Dieses Urteil wird für April erwartet. Inzwischen haben zwei weitere türkische Offiziere, die sich mit Hilfe von Schleusern über den Evros-Fluss nach Nordgriechenland bringen ließen, Asyl beantragt. Ihre Anträge sind noch brisanter und werden die Spannungen erhöhen. Denn im Unterschied zu den anderen acht Offizieren haben sie bei Befragungen zugegeben, sich am Putsch gegen Erdogan beteiligt zu haben.

Sollte das griechische Gericht die Auslieferung der acht Offiziere verweigern, so hatten viele in Griechenland kurz vor dem Gerichtsentscheid erwartet, würde die Türkei am folgenden Tag die Grenzen für Flüchtlinge und Migranten öffnen. Das ist nicht geschehen. Denn damit wären nicht nur griechische, sondern europäische Interessen massiv verletzt worden. So weit will die Türkei nicht gehen. Sie sucht eher den bilateralen Konflikt. Im Verhältnis zu Griechenland hat das 1996 schon einmal an den Rand eines Krieges um die auch von der Türkei beanspruchte Insel Imia geführt. Damals gelang es der NATO schließlich, beide Seiten zum Abzug der mehr als 30 zusammengezogenen Kriegsschiffe zu bewegen.

NATO und Europäische Union helfen, die griechische Souveränität zu sichern

Die türkischen Provokationen finden fern vom Seegebiet statt, das von der NATO überwacht wird und das die Flüchtlinge und Migrant/innen auf dem Weg zu den griechischen Inseln durchqueren müssen. Die Türkei stimmte diesem NATO-Mandat erst nach einigem Zögern und auf Druck der EU zu. Auf türkisches Drängen sind von dem Mandat zwei Seeregionen ausgenommen. Und ausgerechnet hier finden jetzt, abseits der Zeugenschaft der NATO, die türkischen Grenzüberschreitungen statt.

Die führende Regierungspartei SYRIZA hatte nach ihrem Wahlsieg 2015 noch mit der Idee einer Annäherung an Russland gespielt und ist seit der Oppositionszeit, und besonders seit der Zeit der Militärdiktatur in Griechenland (1967-1974), traditionell kritisch gegenüber den USA und der NATO eingestellt. Sie spricht sich weiterhin gegen die Russland-Sanktionen aus. Sie macht sich zurecht keine Illusionen über die NATO als vermeintliche Wertegemeinschaft. Die NATO kann auch mit einer autokratisch regierten Türkei leben, so wie sie bei der Auswahl ihrer autokratisch regierten Mitglieder im Balkan schweigend über eklatante Verletzungen der Normen einer demokratischen Kultur hinweggeht. Geopolitik überwiegt Demokratiepolitik.

Dennoch: die griechische Regierung lernt verstehen, dass die NATO ein realpolitisch agierender Ordnungsfaktor ist und dass die Mitgliedschaft in der NATO und deren Präsenz einen wirksamen Schutz griechischer Souveränität darstellen. Der NATO-Einsatz bedeutet keine „Militarisierung der Flüchtlingspolitik“, sondern Sicherung des fragilen Friedens zwischen NATO-Partnern, der auch Flüchtlingen und Migranten zugute kommt. Und diese Sicherung könnte vielleicht noch umfassender sein, würde sich das NATO-Mandat in der Ägäis auf ein größeres Seegebiet erstrecken.

Die EU hat für Griechenlands Sicherheit mehr getan als griechische Drohungen jemals könnten

Auch zur EU hatte die griechische Regierung zunächst ein ambivalentes Verhältnis. Die ideologisch fremden Partner aus dem linken Bündnis SYRIZA und der rechten Partei „Unabhängige Griechen“ hatten sich unter der Überschrift „Vorrang für den griechischen Souverän“ auf ein gemeinsames Regierungsprogramm verständigt, das im Namen der demokratischen Selbstbestimmung die einschränkenden fiskalpolitischen Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in EU und Eurozone („Austerität“) bei fortbestehender Mitgliedschaft loswerden wollte. Angesichts des sich zuspitzenden außenpolitischen Konflikts mit der Türkei erkennt die griechische Politik den Wert der EU als Schutzgemeinschaft. Ob die EU ihre Wertegemeinschaft auch in Zukunft durch die NATO und die USA absichern wird oder verstärkt durch eine Europäische Verteidigungsunion, ist derzeit Gegenstand der Debatten über die Zukunft der EU als eine Werte- und Schutzgemeinschaft.

Aber bereits heute gilt: Geteilte Souveränität erhöht den Schutz der territorialen Souveränität. Das wurde deutlich, als Präsident Erdogan Ende 2016 den Vertrag von Lausanne aus dem Jahre 1932 infrage stellte und die EU ihm energisch entgegentrat. Der Vertrag regelte den Bevölkerungs- und Landtausch zwischen Griechenland und der Türkei nach dem griechisch-türkischen Krieg und den ihn begleitenden Vertreibungen der 20er Jahre. Für den Präsidenten, der in Symbolik und Vollmachten an das osmanische Sultanat anzuknüpfen scheint, hatte die Türkei damals zu viele Besitztümer des osmanischen Reichs preisgegeben, darunter auch die Inseln vor der türkischen Küste, die heute zu Griechenland gehören.

Die EU hat diese Infragestellung eines friedenserhaltenden Grenzregimes umgehend zurückgewiesen und damit für Griechenlands Sicherheit mehr getan als jede Drohung von griechischer Seite und jedes Aufsteigen von Abfangjägern jemals könnte. Voraussetzung für den Einfluss auf die Türkei bleibt natürlich, dass die EU die Türkei nicht aus den Verpflichtungen des Beitrittsprozesses entlässt, ungeachtet der Tatsache, dass dieser Beitritt erst in fernerer Zukunft mit einer demokratischen Türkei nach Erdogan Wirklichkeit werden kann.