Der dunkle Geist der Türkei

Frauen in Istanbul kurz vor dem Sturm
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Ein härterer Kurs der Türkei gegenüber dem Ausland ist nicht unwahrscheinlich

Der türkisch-kurdische Konflikt, ein versuchter Putsch und die Anschläge des IS: In der Türkei geht ein Jahr der Gewalt zu Ende. Präsident Erdoğan konnte sein autoritäres Projekt weiter ausbauen.

„Manchmal“, sagt der bekannte Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz, „denke ich, dass als diejenigen, die in diesem Land eigentlich wohnten, von hier vertrieben und ermordet wurden, sich ein Fluch auf dieses Land gelegt hat. Es ist ein dunkler Geist, der diejenigen nicht erträgt, die von Frieden und Gerechtigkeit sprechen. Deshalb wird jeder, der in diesem Land für diese Werte kämpft früher oder später ermordet.“

Im Kulturzentrum Bakirköy im Westen von Istanbul sitzen an diesem 29. November alle, die in der Menschenrechtsszene in der Türkei Rang und Namen haben. Es ist der erste Jahrestag der Ermordung des prominenten Menschenrechtsanwalts Tahir Elci, der genau vor einem Jahr während einer Kundgebung in der Altstadt der kurdisch-dominierten Stadt Diyabakir erschossen wurde.

Elci, der selber mehrfach im Gefängnis saß, hatte die PKK und den Staat dazu aufgerufen, damit aufzuhören, die kurdischen Innenstädte in Kriegsschauplätze zu verwandeln. Wenige Minuten nach seinem Aufruf war er tot. Erschossen von unbekannten Attentätern. Bis heute fehlt jeder Hinweis auf die Täter und ob diese aus den Reihen der Polizei oder der PKK stammten. Gleichzeitig scheint die Staatsanwaltschaft bisher wenig Anstrengungen unternommen zu haben, den Fall ernsthaft zu untersuchen, zumindest Teile von Videoaufnahmen, die den Vorfall zeigen, wurden vom Staat gelöscht.

2015/16 war ein blutiges Jahr für die Türkei und Elci das Symbol eines Landes, in dem vieles aus den Fugen zu geraten scheint. Elci ist dabei nur einer, aber vermutlich der prominenteste der Toten der letzten anderthalb Jahre. Darunter die mindestens 1,700 Opfer, die der türkisch-kurdische Konflikt seit Sommer 2015 gefordert hat, die 265 Toten aus der Putschnacht und die über 200 Personen, die seit 2015 Anschlägen des IS zum Opfer gefallen sind.

Parallel dazu gehen neben Menschenleben auch demokratische Strukturen immer weiter verloren. Die spätestens seit den Gezi-Protesten von 2013 offensichtliche Tendenz der AKP, das Land in eine autoritärere Zukunft zu steuern, hat seit dem gescheiterten Militärputsch vom Juli nochmal enorm an Geschwindigkeit zugenommen.

Drei Wellen der Repression

In drei Wellen ist der Staat seit dem Sommer gegen echte oder vermeintliche Gegner/innen vorgegangen. In der ersten Welle, gleich nach dem Putsch waren die Gülenisten dran, die die Regierung als einzige Schuldige des Putsches ausgemacht hat. Dabei gibt es keine Frage, dass es Gülenisten unter den Putschisten gab und vermutlich gab es auch eine über das Militär hinausreichende Organisationsform. Die pure Masse der Verhaftungen und Entlassungen aber lässt große Zweifel an den Beteuerungen der türkischen Regierung aufkommen, alles folge den Regeln des Rechtsstaats: Allzu pauschal klingt der Vorwurf, jede Person, die irgendwelche Verbindungen zur Gülenbewegung hat - und sei es ein Konto bei einer Gülen-nahen Bank –, sei Teil eines terroristischen Netzwerks.

Zweifeln an der Zukunft der Demokratie nähren nicht nur zahlreiche von Menschenrechtsorganisationen berichtete Fälle, in denen Richter und Anwälte von Sicherheitskräften unter Druck gesetzt wurden. Auch einige der seit Juli verabschiedeten Präsidialdekrete haben das Ihrige dazu getan, den türkischen Rechtsstaat bis zur Unkenntlichkeit auszuhöhlen. So bestimmt eine neue Verordnung, dass Gespräche zwischen Anwalt und seinem Mandanten im Polizeigewahrsam grundsätzlich aufgezeichnet werden und für die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft verwertbar sind.

Es mehren sich die Berichte über Misshandlungen und Folter in Polizeigewahrsam – eine Praxis, die unter AKP-Herrschaft im letzten Jahrzehnt fast ausgestorben ist. Die türkische Regierung weist fast alle diese Anschuldigungen zurück, konkrete Gegenmaßnahmen oder zumindest ernsthafte Untersuchungen der Vorfälle sind aber bisher ausgeblieben.

Die zweite Welle traf das, was der Staat pauschal als PKK bezeichnet: Linke Medien, Nichtregierungsorganisationen, Verbände und Intellektuelle. Ähnlich wie schon bei den KCK-Prozessen von 2010 sind dabei eine Masse an Personen verhaftet und Organisationen und Medien geschlossen worden, denen der Staat vorwirft, durch zivilgesellschaftliches oder journalistisches Engagement für die PKK zu werben. Richtig ist, dass aufgrund der starken Nähe links-türkischer und links-kurdischer Zivilgesellschaft tatsächlich bei vielen dieser Personen Sympathien für die kurdische Bewegung bestehen. Sehr unwahrscheinlich ist es aber, dass die verhafteten Personen Teil einer PKK-Kommandostruktur sind oder in irgendeiner Weise Terroranschläge unterstützt haben.

Die dritte Welle der Verhaftungen und Organisationsschließungen brach dann vor gut drei Wochen über die Zivilgesellschaft herein. Über 370 Nichtregierungsorganisationen wurden geschlossen, viele von ihnen Frauenrechtsorganisationen. Die Regierung verhaftete dazu eine Reihe von Journalisten der kemalistisch-oppositionellen Zeitung Cumhuriyet unter dem Vorwurf des Geheimnisverrats. Wieder waren vor allem Personen betroffen, bei denen eine Verbindung sowohl zum Putsch, als auch zur PKK unwahrscheinlich erscheint.

Die meisten Türk/innen zweifeln nicht an den Notstandsgesetzen

Einige der Organisationen kamen augenscheinlich auf Verlangen des türkischen Generalstabs ins Visier der Behörden. Einem geleakten Schreiben zu Folge, befürchtet die Armeeführung, dass einige dieser NGOs mit ihren Berichten über den Krieg in den kurdischen Gebieten Beweise für evtl. Prozesse gegen türkische Soldaten vor internationalen Gerichten sammeln könnten.

Es sind diese Repressionen, die dazu geführt haben, dass in der internationalen Berichterstattung nur noch wenig von der wirklichen Aufarbeitung des Putsches die Rede ist und dass internationale Politiker, die zu Besuch in der Türkei sind, fast formelhaft die Wichtigkeit rechtsstaatlicher Aufarbeitung beschwören. Allein, die Zweifel am türkischen Justizsystem werden von einem Großteil der türkischen Bevölkerung nicht geteilt. Laut aktuellen Umfragen fühlt sich ein Großteil der Türkinnen und Türken von der weiterhin geltenden Notstandsgesetzgebung nicht stark in ihrem täglichen Leben eingeschränkt, wer nicht politisch engagiert ist und keinen Bezug zur Gülenbewegung hat, kann sein Leben in großen Teilen weiterleben wie bisher.

Zwar sind viele, auch nicht oppositionell eingestellte Menschen vorsichtiger geworden, was sie in der Öffentlichkeit sagen oder wie sie kommunizieren, aber die größte Auswirkung der instabilen Situation besteht für die Masse der Türkinnen und Türken in der sich stetig verschlechternden Wirtschaftslage und besonders im abstürzenden Wechselkurs der Lira.

Debatten wie in der Echokammer

Im Land gibt es trotz der Schließungswellen weiterhin kritische und oppositionelle Medien, aber nur eine Minderheit nutzt sie. Der Mainstreamdiskurs gerade im Fernsehen wird bis auf Ausnahmen dominiert von den immer gleichen Köpfen, die mehr oder weniger die Regierungslinie nachbeten. Besonders eindrucksvoll ist das aktuell bei der Debatte um die Wirtschaftslage zu beobachten. Die immer gleichen, regierungsnahen Analystinnen versichern dem Publikum, dass die türkische Wirtschaft stabil, die Gründe für die Währungsabwertung nicht hausgemacht seien (was nicht komplett falsch ist, der starke Dollarkurs trägt seinen Teil bei) und mit einer baldigen Erholung zu rechnen sei.

Zwar ist es noch nicht ausgemacht, dass die Türkei unaufhaltsam in eine Rezension schlittern wird, der fortwährende und bisher relativ erfolglose Versuch des Präsidenten, Druck auf die Zentralbank aufzubauen, damit diese den Leitzins nicht anhebt, weckt aber nicht gerade Vertrauen bei Investoren. All diese Aspekte spielen aber keine Rolle in der öffentlichen Debatte. Genau wie bei den anderen drängenden Themen Terrorismus, Verfassungsreform oder dem Abbau der Demokratie hat die Regierung es geschafft die Gesellschaft in eine Echokammer zu drängen, in der sowohl Politiker, als auch die Medien den immer gleichen Sermon vorbeten.

Auch wenn Regierungsmitglieder sich im privaten Austausch durchaus konzilianter geben als Präsident Erdoğan mit seinem polternden Ton in den Medien, so bewegen Europäer und Türken sich meist in zwei verschiedenen Welten. Die türkische Regierung, die nach der Erfahrung des Putsches, aber auch in Zeiten zunehmender internationaler Unsicherheit ganz auf einen unilateralen Schutz des Staates setzt, wittert überall Feinde bzw. wirft dem Ausland vor, diese zu unterstützen. Dabei ist unklar, ob dieses Narrativ, das besonders den in der Türkei schon immer latenten Nationalismus aktiviert, von allen ernst gemeint ist, oder ob es viele in AKP und Regierung aus Angst vor Repressionen übernommen haben.

Erdoğans Strategie geht auf

Auch die Opposition ist in Teilen schon auf diesen Diskurs eingeschwenkt. Die rechts-nationalistische MHP ist, nachdem sie im letzten Jahr noch vollmundig versprochen hatte, sich gegen eine Verfassungsänderung zu Gunsten Präsident Erdoğans zu stellen, auf den Regierungskurs umgeschwungen. Augenscheinlich verlockt von aussichtsreichen Posten in Regierung und Verwaltung und hoch zufrieden mit dem harten Vorgehen gegen die PKK wird man bei einem wahrscheinlichen Verfassungsreferendum im Frühjahr/Sommer 2017 für die Selbstentmachtung des Parlaments stimmen.

Der AKP gelingt es mit diesem Schwenk nach rechts noch stärker als bisher, die Wählerbasis der MHP abzugraben; das heißt die MHP bekommt zwar mehr Mitspracherechte, macht sich aber gleichzeitig selbst obsolet. Mit der Kriminalisierung der links-kurdischen HDP bleibt im linken Spektrum nur noch die republikanische CHP als Alternative. Da diese, vermutlich aus Angst in die Nähe der Vorwürfe gegen die HDP zu geraten, bisher einen Zick-Zack-Kurs fährt – mal in Unterstützung einer harten Linie im Kampf gegen die PKK, mal kritisch gegenüber dem Regierungskurs – hat sie den Versuch, eine schlagkräftige Oppositionsfront von links zu bilden, zum Scheitern verdammt.

Die Strategie des Präsidenten, das Parlament schrittweise zu marginalisieren, das Parteienspektrum auf ein Zweifrontensystem (AKP vs. CHP) herunterzuschmelzen und schlussendlich als Verkörperung des von ihm fortdauernd beschworenen Volkswillens als einzig relevante Machtinstanz übrig zu bleiben, scheint also aufzugehen. Dabei brodelt es auch im Regierungslager durchaus, nicht alle sind glücklich über den Kurs des Präsidenten, und es ist unklar, ob die neue Allianz, die Erdoğan mit Nationalisten im Militär geschlossen hat, zu halten ist.

Die Aussichten für EU und Zivilgesellschaft

Anknüpfungspunkte für europäische Politik, für eine demokratischere Türkei ergeben sich daraus kaum. Auch wenn die türkische Regierung weiterhin bekräftigt, an der EU als Partner festhalten zu wollen - und sei es auch nur aus Mangel an realistischen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Alternativen, die weder Russland, noch China bieten können -, die Möglichkeiten europäischer Außenpolitik auf den Kurs der Türkei einwirken zu können, sind ebenso gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan in nächster Zeit maßgeblicher Widerstand aus dem Inneren erwächst.

Selbst eine Verschlechterung der Wirtschaftslage muss jetzt kein automatisches Aus für das Erdoğan-Projekt bedeuten. Wahrscheinlich ist nur, dass in dem Maße, in dem die Luft für die AKP dünner wird, die Regierung zukünftig andere Mittel aufbietet. Ein zunehmend noch härterer und nationalistischerer Kurs gegenüber dem Ausland ist nicht unwahrscheinlich.

Die EU mag noch so sehr um Dialog werben. Solange in Ankara die Überzeugung vorherrscht, dass es sich dabei nur um leere Worte handelt, wird der Einfluss der EU begrenzt bleiben. Aber auch mit handfesteren Anreizen werden nur partielle Erfolge erzielbar sein - etwa bei der Forderung, die Folter wieder zurückzudrängen. Auf das Große und Ganze wird man den Einfluss vorläufig nicht zurückgewinnen können, gerade solange der Regierungskurs die Unterstützung einer Mehrheit in der türkischen Bevölkerung hat.

Der Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz scheint also Recht zu behalten: der dunkle Geist ist in die Türkei zurückgekehrt. Für zivilgesellschaftliche, kritische Kräfte sind dies keine guten Aussichten. Gleichzeitig sollte man sie noch nicht abschreiben. Erst vor einer Woche marschierten anlässlich des Welttages gegen Gewalt gegen Frauen tausende Frauenrechtsaktivistinnen durch Istanbul. Ihr Slogan war einer, den in abgewandelter Form auch der Menschenrechtler Cengiz zitierte: Wir schweigen nicht!