Ordnungspolitik: Zeit für faire Regeln

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Märkte werden über Gesetze und durch Aufsichtsbehörden reguliert. Doch Unternehmen wie Verbraucher*innen tragen mit ihren Entscheidungen ebenso Verantwortung dafür, dass die Vorgaben eingehalten werden und Wirkung zeigen. Problematisch sind dabei die schwindende Mitbestimmung in den Betrieben sowie ein oft zu leichtfertiger Umgang mit Daten.

Betriebe mit mindestens fünf Beschäftigten, in Prozent, 2023
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Der Gewinn liegt bei stark mitbestimmten, börsen- notierten Unternehmen im Schnitt um elf Prozent höher als in Firmen mit wenig oder keiner Mitbestimmung.

Die soziale Marktwirtschaft kann nur dann optimal gestaltet werden, wenn ihre Grundsätze in der Gesellschaft verankert sind und akzeptiert werden. Dazu zählt, Verbraucher*innen durch eine effiziente Wettbewerbskontrolle wirksam vor zu hohen Preisen und schlechten Rahmenbedingungen zu schützen. In den USA blieben solche Maßnahmen über Jahrzehnte aus. Erst seit Amtsantritt von Präsident Joe Biden gehen Kartellwächter entschiedener gegen Fusionen vor und treiben die Zerschlagung der entstandenen Internetgiganten Alphabet und Meta voran. Auch die deutsche Bundesregierung machte sich daran, über ein verschärftes Wettbewerbsgesetz erstmals Entflechtungen von zu mächtigen Konzernen zu ermöglichen.

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Der Wirtschaftsatlas 2024

Die Klimakrise, schwindende Ressourcen und Umweltverschmutzung fordern einen Wandel. Unternehmen und Banken müssen Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung priorisieren. Neue Gesetze sollen Verschwendung stoppen und die Infrastruktur modernisieren. Der Wirtschaftsatlas 2024 der Heinrich-Böll-Stiftung diskutiert die Maßnahmen und gibt einen Überblick über die Wirtschaftsgeschichte.

 

In Märkten, die zu Monopolen neigen wie Telekommunikation, Post, Gas, Strom, Eisenbahn oder Rundfunk sowie im sensiblen Bereich der Finanzen, wachen in Deutschland eigene Regulierungsbehörden über das Gewerbe. Die Bundesnetzagentur sowie das Bundesamt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) sollen Fehlentwicklungen vermeiden helfen. Wenn neue Produkte wie zum Beispiel rund um Künstliche Intelligenz (KI) entstehen, ist es wichtig, über begleitende Gesetze gesellschaftliche Nachteile zu verhindern.  

Für das Funktionieren der demokratisch verfassten sozialen Marktwirtschaft ist es notwendig, die ökonomische Führungsklasse sowie die Verbraucher*innen mit in die Verantwortung zu nehmen. Denn mit ihrem wirtschaftlichen Handeln entscheiden sie über den Erfolg oder Misserfolg von Produkten und Dienstleistungen. Ebenso wichtig ist es, Bürger*innen in ihrer Rolle als Arbeitnehmer*innen an der Wirtschaft teilhaben zu lassen. Daher verabschiedete die sozialliberale Bundesregierung im Jahr 1976 ein Mitbestimmungsgesetz für größere Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Mitarbeitenden. Die Sitze im Aufsichtsrat werden seitdem paritätisch zwischen Vertretern von Kapital und Arbeit (Betriebsräte, Gewerkschaften) geteilt. Diese Konstruktion soll Mitarbeitende motivieren, interne Konflikte dämpfen und sozialen Frieden sichern. Schon Anfang der 2000er-Jahre forderten der Bundesverband der Deutschen Industrie und konservative Parteien, die Mitbestimmung als „Relikt“ längst vergangener Zeiten zu beseitigen. Inzwischen ist jedes vierte der 40 Unternehmen aus dem Deutschen Aktienindex in die Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) gewechselt. Hier gelten die Mitbestimmungsgesetze ebenso wenig wie die deutsche Frauenquote, wonach mindestens 30 Prozent des Aufsichtsrats weiblich besetzt sein müssen. Nicht aber Demokratisierung gefährdet die Wirtschaft – vielmehr bedroht eine übermäßige Marktmacht die Demokratie durch die Fähigkeit, Lobbydruck zu erzeugen, PR-Kampagnen zu orchestrieren und über das Ausnutzen internationaler Steueroasen die eigene Steuerlast extrem zu minimieren. Apple, beispielsweise, hat 2014 nur 0,005 Prozent der Steuern auf seinen gesamten Gewinn innerhalb der EU gezahlt. Es ist ein Nehmen ohne Geben: Der Konzern profitiert zwar von der Kaufkraft des Wirtschaftsraums, den dieser auch aufgrund hoher, staatlich finanzierter Sozialleistungen entwickeln konnte – ohne aber seinerseits die Kassen der EU-Länder mit Steuern füllen zu wollen. 

Die Beiträge und empfangenen Gegenleistungen der einzelnen Akteur*innen sozialer Marktwirtschaften
Staatsaufgabe ist die Sicherung von Wettbewerb, sozialer Ausgleich, die Schaffung von ökologischen Leitplanken und die Förderung von Stabilität.

Kommt es zu Preisexzessen wie im Immobilienmarkt, wo sich die Mieter*innen bei jedem Eigentümer*innenwechsel vor stark steigenden Mieten fürchten müssen, zeigen sich weitere grundsätzliche Fragen: Das Grundgesetz gewährt das Recht auf Privateigentum, schreibt jedoch in Artikel 14 vor: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Angelehnt daran sieht das Modell der „Gemeinwohl-Ökonomie“ vor, der Spekulation mit Immobilien etwas entgegenzusetzen und nicht länger Finanzgewinn zum Maßstab zu machen, sondern Kooperation und den Nutzen zugunsten aller. Dem wollen etwa Stiftungen oder Genossenschaften dienen, die eine spekulationsfreie Nutzung von Boden oder alternative, ökologische Wohnformen fördern. Die Digitalisierung kann Demokratie in der Wirtschaft positiv unterstützen, indem sich etwa Nutzergruppen über Praktiken von Firmen austauschen und sie gegebenenfalls kritisieren („Shitstorm“). Andererseits geben Nutzer*innen im Netz oft noch bedenkenlos Daten her. Das erleichtert den Internetkonzernen eine rigorose Vermarktung, die von Wissenschaftler*innen als „Überwachungskapitalismus“ kritisiert wird. In den Händen autokratischer Herrscher führt die Auswertung digitaler Inhalte zur perfekten Kontrolle – so wie in China, wo individuelles Verhalten über einen „Social Score“ belohnt oder bestraft wird. Diese datengestützte Kontrolle stabilisiert die Autokratie ebenso wie ihr globales Netzwerk aus Handelsstützpunkten und Vasallenländern („Neue Seidenstraße“), über dessen milliardenschwere Infrastrukturprojekte man Abhängigkeiten schafft. Auch hat das Land wichtige Zukunftsmärkte definiert und erobert. Mit den USA ringt China nun um die Vorherrschaft bei der KI. Nachteilig ist in beiden Ländern jedoch eine hohe Verschuldung. Dennoch: Europa muss sich als Block zwischen den Antipoden USA und China ökonomisch weiter finden – und dabei unternehmerische Verantwortung und Teilhabe der Bürger*innen zu Grundprinzipien machen.