Drei Formen von Antisemitismus

Analyse

Seit dem 7. Oktober ist der Antisemitismus so sichtbar und bedrohlich wie schon lange nicht mehr. Doch um ihn zu bekämpfen, reicht es nicht, ihn diffus den „anderen“ zu unterstellen, dem politischen Gegner oder den Zugewanderten. Ein Plädoyer für Genauigkeit.

Antisemitische Schmiererei am Marx-Engels-Denkmal in Berlin
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Antisemitische Schmiererei am Marx-Engels-Denkmal in Berlin

7. Oktober 2023

Mit diesem Text nehme ich eine Aufforderung von Yuval Noah Harari auf, die er in einem Interview mit ZEIT Online ausgesprochen hat. Am Ende wurde er nach seiner Hoffnung gefragt. Darauf antwortete er: „Darüber können wir jetzt noch nicht reden, denn die Israelis und die Palästinenser sind jetzt versunken in ihrem Schmerz und unfähig, den Schmerz und die Gefühle der anderen anzuerkennen. Aber ich erwarte das von Außenseitern wie den Menschen in Deutschland. Seid nicht intellektuell faul und auch nicht emotional faul, indem ihr immer nur eine Seite dieser schrecklichen Realität seht! Haltet einen Raum offen für einen zukünftigen Frieden, weil wir diesen Raum jetzt gerade nicht offenhalten können.“

Antisemitismus ist nicht gleich Antisemitismus.
Wir brauchen dringend klarere Unterscheidungen

Wie verwirrt die deutsche Gesellschaft nach dem 7. Oktober im Umgang mit dem Antisemitismusbegriff ist, machte ein Interview mit Hubert Aiwanger (im BR am 27. 10.) deutlich. Die Journalistin frage ihn etwas naiv, was er vom Antisemitismus in unserem Land halte. Seine Antwort war klar. Mit ihm habe das Problem natürlich nichts zu tun, sondern allein mit denen, die in dieses Land eingewandert seien. Er gebrauchte umgehend die neue Formel vom ‚importierten Antisemitismus‘ und empörte sich pauschal über unkontrollierte Zuwanderung und die Gefahr, die inzwischen von den Migranten in Deutschland ausgehe. Mit seiner Antwort verband er einen scharfen Angriff gegen die Migrationspolitik der Ampelkoalition, die er für dieses Problem verantwortlich machte.

Für diese Form der Argumentation hat der Soziologe Rainer Mario Lepsius den Begriff ‚Externalisierung‘ geprägt. Durch Externalisierung wird man eine Bürde los, indem man sie auf andere auslagert. Das Rezept hat wieder mal funktioniert, denn einiges spricht dafür, dass man Aiwanger nicht trotz, sondern wegen des inkriminierten Flugblatts aus seiner Jugend gewählt hat. Die Wähler:innen hat offensichtlich beeindruckt, dass Aiwanger keine Reue gezeigt und sich nicht von seinen antisemitischen Obszönitäten distanziert hat, sondern sofort zum Angriff übergegangen ist und von einer „Schmutzkampagne“ gesprochen hat. In ihrer Sicht hat sich Aiwanger seinen Stolz bewahrt gegenüber einer erniedrigenden Gesinnungsprüfung und Pflichtübung. Seine Dreistigkeit in der Abwehr hat offenbar vielen Wähler:innen imponiert, die nicht hinter der deutschen Erinnerungskultur stehen und sie als eine moralische Gängelei beurteilen. Mit Antisemitismus kann man in Deutschland also Wahlen gewinnen! Es wäre naiv zu vermuten, dass die Wirkung der deutschen Erinnerungskultur mit Blick auf die Transformation der Gesellschaft aus sich heraus flächendeckend und nachhaltig gewesen sei.

Wie lässt sich diese Haltung erklären? Das ist gar nicht so schwer. Viele Menschen in diesem Land leben nach wie vor in der Ära der Schlussstrich-Politik von Adenauer, Strauss und Kohl. Damals galt die Regel: Ab jetzt ist die NS-Zeit Geschichte, darüber wird nicht mehr gesprochen, holt diese Vergangenheit nicht immer wieder hoch, das müssen wir endlich vergessen!
Wer so denkt, und es sind wohl nicht wenige, hat eine Wende in diesem Land nicht mitgemacht, die in den 1990er Jahren eingetreten ist. Ich nenne sie die Wende vom Schlussstrich zum Trennungsstrich. Denn während sich durchs Vergessen nichts verändert und nichts verändern muss, bedeutet der Trennungsstrich das genaue Gegenteil: aktive Erinnerung an die NS-Zeit, Perspektivenwechsel, Aufarbeitung und bewusste Distanznahme.

In der Berliner Synagoge Beit Zion am 9. November 2023 sagte Olaf Scholz:

„Jede Form von Antisemitismus vergiftet die Gesellschaft. Dabei darf es nicht darauf ankommen, ob Antisemitismus politisch motiviert ist oder religiös, ob er von links kommt oder von rechts, ob er sich als Kunst tarnt oder als wissenschaftlicher Diskurs, ob er seit Jahrhunderten hier gewachsen oder von außen ins Land gekommen ist“.

Das Beispiel Aiwanger aber zeigt, wie ein Antisemitismusbegriff den anderen überlagern kann. Deshalb brauchen wir gerade dringend eine Entflechtung dieser unterschiedlichen Antisemitismusbegriffe und ihrer Geschichten. Mein Vorschlag dazu besteht in einer Unterscheidung von drei Antisemitismuskomplexen: dem einheimisch rechtsextremen Antisemitismus, dem muslimischen Antisemitismus und dem linken Antisemitismus.

Der einheimische rechtsextreme Antisemitismus

… ist vom christlichen Abendland ausgegangen und hat eine 2000-jährige Geschichte. Die Grundkonstante ist ein ursprünglich christlich motivierter Judenhass, der sich in säkularer Form über nationalistische Blut-und-Boden-Ideologien und rassistische Verschwörungstheorien fortgesetzt hat. Die Botschaft, dass Juden pauschal als die Wurzel allen Übels anzusehen seien, und zu unterstellen, dass von ihnen eine besondere Bedrohung für die ethnisch-genetische ‚Substanz‘ der Nationen ausgehe, wird heute in rechtsextremen Kreisen durch Hassposts erneuert, von ‚Reichsbürgern‘ wiederholt und über Rockkonzerte verbreitet. Nicht nur haben antisemitische Symbole und Schmierereien in Deutschland stetig zugenommen, auch die Gewalt gegen Juden hat sich in diesem Land erheblich gesteigert.

Obwohl der Judenhass auch andere europäische Nationen erfasst hat und in diesen Nationen einige als Helfer und Mitvollstrecker an der Vertreibung und Ermordung von Juden beteiligt waren, ging der Holocaust eindeutig von Deutschland aus. Dieses ungeheure Menschheitsverbrechen und diese Geschichtslast ist nach dem Krieg erst langsam in seinem ganzen Ausmaß sichtbar geworden und hat in Deutschland seit den 1990er Jahren eine neue Form der Erinnerungskultur hervorgebracht. Der Inhalt dieser Erinnerungskultur umfasst drei Dimensionen:

  1. Die Selbst-Verpflichtung zur Aufklärung über die historische Schuld und Verantwortung für diesen ‚Zivilisationsbruch‘ (ein Begriff, den der Historiker Dan Diner geprägt hat),
  2. die Empathie mit den jüdischen Opfern überall auf der Welt und
  3. die deutsche Staatsräson, die darin bestehen soll, sich auch politisch für die Sicherheit der Juden in Israel einzusetzen.

Der rechtsextreme Antisemitismus geht in der Regel mit Formen einer Holocaust-Leugnung, - Relativierung oder Trivialisierung - einher. Ein Beispiel war der Rechtsstreit David Irving vs. Deborah Lipstadt in London im Jahre 2000. Auch um solchen Leugnern Einhalt zu gebieten, wurde in Stockholm im Januar 2000 eine transnationale Holocaust-Erinnerungs-Gemeinschaft (IHRA) gegründet, in der Deutschland eine besondere Rolle zukommt. Ihr Architekt ist der israelische Historiker und Mitbegründer von Yad Vashem, Yehuda Bauer. Das Ziel dieser Erinnerungsgemeinschaft ist die gemeinsame Selbstverpflichtung, die Erinnerung an den Holocaust im Sinne eines ‚Nie wieder!‘ über die Millenniumsschwelle in die Zukunft zu tragen und dafür zu sorgen, dass sie für nachfolgende Generationen in Gedenkstätten, Museen und Bildungsinstitutionen verankert wird. Deutschland steht mit seiner großen und niemals zu tilgenden Schuld im Zentrum dieser IHRA, was verständlicherweise auch mit politischen Verpflichtungen einhergeht, sich für die Existenz und Sicherheit des Landes Israel einzusetzen.

Dank dieser fest etablierten institutionellen Rahmenbedingungen kann man davon sprechen, dass heute etliche Staaten, und insbesondere Deutschland, in einer ‚Post-Holocaust-Welt‘ leben. Das ‚Post‘ bedeutet in diesem Fall nicht nur ‚Danach‘, sondern auch ‚Im Schatten bzw. Einflussgebiet von‘. Für die Deutschen ist der Holocaust zum zentralen historischen Schlüsselereignis geworden, das nicht ‚historisch‘ wird, weil es deutsche Identität dauerhaft bestimmt. Dieses Schlüsselereignis bestimmt nicht nur die Vergangenheit dieses Landes, sondern auch das Selbstverständnis seiner Bewohner:innen und ihre Zukunft. Ein Schlüsselereignis ist mehr als ein Narrativ. Narrative sind Interpretationen, die immer kontrovers und austauschbar sind. Das Geschichtsereignis jedoch ist zu einem nationalen Gründungsereignis geworden. So wie sich die Jüdinnen und Juden durch die Shoah als Jüdinnen und Juden neu konstituieren mussten, haben sich die Deutschen durch den Holocaust neu konstituiert. Diesen Rahmen der Identitätsprägung anzuerkennen, ist für die Politik des Landes ebenso verbindlich wie für die Zuwanderer, die in diesem Land eine neue Heimat gesucht haben und suchen.

Muslimischer Antisemitismus

Judenhass hat in der muslimischen Geschichte keine besondere Rolle gespielt. Juden ebenso wie Muslime wurden als Minderheiten aus Spanien vertrieben und haben sich über lange Strecken friedlich in der Diaspora miteinander arrangiert. Das änderte sich mit der Staatsgründung Israels im Nahen Osten. Inzwischen äußert sich auf muslimischen Demonstrationen auch ein neuer Judenhass. Der hat historisch jedoch nichts mit dem christlich-europäischen Antisemitismus zu tun.  Deshalb müssen wir hier klarer zwischen Judenhass auf der einen Seite und einer politischen Reaktion auf die Gründung des Staates Israel seitens der Nachbarn unterscheiden. Bezogen auf ihre lange Geschichte kennen die Muslime keinen vergleichbaren Judenhass und sind auch nicht (mit-)verantwortlich für den Holocaust. Im Gegenteil: Das einzige Land im Zweiten Weltkrieg in Europa, das keinen einzigen Juden ermordet oder ausgeliefert hat, war Albanien, so kann man auf der Homepage von Yad Vashem lesen. Was war der Unterschied? Albanien war ein Land mit einer muslimischen Regierung. Wir Deutschen dürfen unseren Antisemitismus deshalb nicht einfach auf die Palästinenser projizieren, sondern haben im Gegenteil die Verantwortung, ihre besondere Geschichte und Lage unabhängig von der unseren anzuerkennen. ‚Free Palestine from German guilt‘ – dieser Slogan ist also durchaus ernst zu nehmen: Statt die unterschiedlichen Geschichten – wie Claudius Seidl in der FAZ vom 25. Oktober 2023 – zu vermengen und zu überblenden, sollten sie klarer auseinandergehalten werden.

Wir Deutschen wären gut beraten, so erklärte mir ein jüdischer Kollege, deutlicher zwischen einer Post-Holocaust-Welt und einer Post-Nakba-Welt zu unterscheiden, in der ganz andere Schwerpunkte gesetzt werden. Während 1945 mit der Befreiung der Konzentrationslager der Holocaust endlich beendet wurde, fand drei Jahre später 1948 mit dem Unabhängigkeitskrieg Israels vom Britischen Mandat die Gründung des Staates Israel statt. Dieses Ereignis war eine direkte Folge des Holocaust, denn es war offensichtlich geworden, dass den Juden nichts so sehr fehlt wie ein sicherer Hafen in einem eigenen Staat. Die Entstehung dieses Staates Israel 1948 hatte aber eine Nebenwirkung, die bis heute Probleme macht, und das war die Flucht und Vertreibung von 700.000 Palästinenser:innen, die seit Jahrhunderten in der Region lebten. Sie mussten Hals über Kopf ihre Häuser verlassen und bewahren seitdem die Schlüssel dieser Häuser als Symbole ihres (im wahrsten Sinne des Wortes) historischen Schlüsselereignisses auf, die sie von Generation zu Generation weitervererben.

‚Shoah‘ ist das hebräische Wort für Katastrophe, ‚Nakba‘ ist das arabische Wort für Katastrophe. Das eine Wort bezieht sich auf die traumatische Auslöschung jüdischen Lebens und markiert mit dem Jahr 1945 das Ende der jüdischen Leidensgeschichte, das andere bezieht sich auf den traumatischen Verlust der Existenzgrundlage für palästinensisches Leben in der Region und markiert mit dem Jahr 1948 den Anfang einer palästinensischen Leidensgeschichte. Diese Begriffe und Ereignisse sind historisch eng miteinander verkoppelt, da sie aber gegensätzliche Schlüsselereignisse unterschiedlicher Gruppen markieren, haben sie die starke Tendenz, sich gegenseitig auszuschließen.

Der Antisemitismus der Muslime richtet sich also nicht gegen die Juden als solche, sondern gegen den Staat Israel als Verursacher ihrer über drei Generationen erfahrenen Leidensgeschichte. Hier gibt es ein ganzes Spektrum von Stimmen, angefangen mit den moderaten Stimmen, die bereit sind, auf der Basis des Status Quo neue Regeln eines friedlichen Zusammenlebens in ein oder zwei Staaten zu entwickeln, aber es gibt auch radikale Stimmen, die das Existenzrecht Israels grundsätzlich in Abrede stellen. So, wie die Rechtsextremen (inkl. Aiwanger) den Holocaust leugnen oder verunglimpfen, so ‚leugnen‘ diese radikalen Muslime den Staat Israel und bekämpfen ihn mit Attentaten, Raketen, Massakern und radikalen Vernichtungsparolen.

Dieser israelbezogene Antisemitismus hat eine genozidale Qualität. Er wird aufgeladen durch einen religiösen Fundamentalismus, der von Iran ausgeht und gegenwärtig die politischen Beziehungen auf globaler Ebene unter Druck setzt. Die Situation hat sich weiter verschärft, seit sich der Staat Israel auch zu einer ethno-nationalistischen und religiös-fundamentalistischen Politik bekennt. Die große Aufgabe wird darin bestehen, die Politik aus dieser religiös-fundamentalistischen Gewaltspirale herauszuholen und auf beiden Seiten moderate Stimmen zu Wort kommen zu lassen und Verhandlungspartner zu finden. Denn alle Palästinenser von vornherein unter Generalverdacht des Antisemitismus zu stellen und sie in ein einheitliches Feindbild zu pressen, wie es in den Medien immer öfter geschieht, und dieses Feindbild dann auch noch mit unserem eigenen Antisemitismus zu überblenden, zerstört jede Möglichkeit einer Deeskalation.

Der linke Antisemitismus

… unterscheidet sich vom muslimischen Antisemitismus durch seine säkulare und politische Ausrichtung. Die Gründung eines Nationalstaats Israel im Nahen Osten verstieß in der Wahrnehmung der Linken gegen die politische Ideologie des Kosmopolitismus, der nationale Bindungen grundsätzlich als reaktionär oder tribalistisch ablehnt und bekämpft. Aus der Perspektive der DDR zum Beispiel war Israel kein sicherer Hafen für diejenigen Juden, die dem Holocaust entronnen waren, sondern ein Besatzungsstaat, der die Palästinenser unterdrückte. Die radikale Terrororganisation RAF (Rote Armee Fraktion) kooperierte in den 1970er Jahren eng mit der DDR und radikalen Gruppen im Nahen Osten und ließ sich in Lagern der PLO (der Palästinensischen Befreiungsorganisation unter Jassir Arafat) als Kämpfer ausbilden. Von diesem militanten linken Antisemitismus distanziert sich eine humanistisch ausgerichtete linke Kritik am Staat Israel, die Hass und Gewalt verurteilt und sich für eine grenzüberschreitende Solidarität zwischen den Kriegsparteien einsetzt. Sie ist friedensorientiert und wird für eine Überwindung der gegenwärtigen politischen Ausweglosigkeit dringend gebraucht. Dieser Gruppierung Antisemitismus vorzuwerfen bedeutet, jegliche konstruktive Zukunftsperspektive von vornherein zu verbieten.

In der Post-Holocaust-Welt und in der Post-Nakba-Welt gibt es auf beiden Seiten gemäßigte sowie radikale Stimmen. Die einen sind auf die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens ausgerichtet und auf der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft, die anderen schließen jegliche Form eines Miteinander aus und sind auf einen Endkampf eingestellt. Für die Scharfmacher gibt es hier nur ein Armageddon, ein klares Entweder Oder: Auf beiden Seiten wird die Perspektive des Anderen radikal ausgeblendet, und es werden keine Differenzierungen zugelassen.

Solange ein diffuser Antisemitismus-Begriff als Drohung über allen schwebt, ist es unmöglich, auch die Geschichte der Palästinenser mit ins größere Bild hineinzunehmen und Brücken zu schlagen zwischen der Post-Holocaust-Welt und der Post-Nakba-Welt. Die Kritik an der Regierungspolitik Netanjahus darf nicht mit einer Aberkennung des Existenzrechts des Staates Israel einhergehen: Damit wäre eine rote Linie überschritten. Die Loyalität mit dem Staat Israel darf wiederum nicht so weit gehen, dass die Deutschen aufgrund ihrer Schuldgeschichte blind werden für die Kosten einer gewalttätigen Expansionspolitik, ganz egal, welche Namen man dafür erfindet. Denn hier geht es nicht um Worte und Nomenklaturen, sondern um die fortschreitende Normalisierung täglicher Gewalt, die nun in einem Krieg endete.

Verknüpfung zwischen der Post-Holocaust-Welt und der Post-Nakba-Welt

Die meisten Deutschen wissen inzwischen, was die Worte ‚Holocaust‘ oder ‚Shoah‘ bedeuten, aber das Wort ‚Nakba‘ haben viele noch nie gehört. Es existiert nicht in unserem Wortschatz, in den Medien taucht es kaum auf. Und auch nicht in den Schulen. Das sitzen inzwischen sowohl jüdische als auch palästinensische Zuwanderer mit unterschiedlichen Schlüsselerfahrungen. Wenn in der Schule von der Befreiung von Konzentrationslagern im Jahr 1945 die Rede ist, so schreibt der deutsch-palästinensische Comedian Abdul Chader Chanin, „dann sitzen drei oder vier palästinensische Schüler in der Klasse und denken: „Willst du mich verarschen? Erzähl mal weiter jetzt.“ Und wenn das dann nicht geschieht, sorgt das „für Resignation bei Muslimen.“

Wo es um erfahrene Ungerechtigkeit und Leidensgeschichten geht, die weiterbestehen, löst sich eine solche Geschichte mit der Zeit nicht einfach auf. Diese Geschichte von beiden Seiten kennenzulernen, und unsere eigene Geschichte auch aus ihrer Perspektive wahrzunehmen, könnte die Situation sehr entspannen. Die deutsche Erinnerungskultur und mit ihr das Wissen und die Verantwortung müssen sich erweitern und zusammen mit der Holocausterinnerung auch die Perspektive derer einschließen, die von den Auswirkungen des Holocaust bis heute indirekt betroffen sind. Nochmal Chanin: „Aber wenn du da weitergehst, das ändert alles. Ich kenne das selber, als zum ersten Mal Leute gesagt haben: Abdul, ich erkenne dein Leid an. Ich erkenne das Leid deiner Familie, deine Flucht an. Das hat dafür gesorgt, dass ich aufweichen konnte für die deutsche Perspektive.“

Eine klarere Differenzierung der Antisemitismusbegriffe ist wichtig, weil sie der verbreiteten Instrumentalisierung des Begriffs für politische Zwecke entgegenwirken kann. Denn je unentwirrbarer und aufgeladener ein Begriff ist, desto toxischer wird er. Von der negativen Aura dieses diffusen Begriffs gehen Drohungen und Emotionen aus. Die Ziele, die damit verbunden sind, sind immer dieselben: Sie dienen der Erhaltung von Macht durch Steigerung der Gewalt. Dass das langfristig jedoch genau die falsche Richtung ist, sollte inzwischen hinreichend klargeworden sein.

Der Beitrag erschien zuerst im Blog „Geschichte der Gegenwart“ Drei Formen von Antisemitismus – Geschichte der Gegenwart


Aleida Assmann lehrte von 1993-2014 Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. 2018 erhielt sie zusammen mit Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.