Nachruf – Pavla Frýdlová: „Menschen sind nicht Objekte der Geschichte – sie schaffen sie.“

Nachruf

Wir nehmen Abschied von Pavla Frýdlová, einer beeindruckenden Frau, Feministin, Dokumentarfilmerin und Autorin, mit der die Heinrich-Böll-Stiftung eine langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft verbindet. Zu ihrem Gedenken veröffentlichen wir einen gekürzten Beitrag über ihr Leben und Werk von Marie Koval, der im tschechischen Original am 10. Mai in der Zeitschrift A2larm erschienen ist.

Pavla Frýdlovách

Der 7. Mai 2023 wird vielen als der Tag in Erinnerung bleiben, an dem die international renommierte Expertin für Oral History, Publizistin und Autorin zahlreicher Bücher Pavla Frýdlová verstorben ist. Sie setzte sich ihr ganzes Leben mit leidenschaftlichem Engagement für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ein.

Pavla Frýdlová wurde 1948 geboren und schloss ihr Studium an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag ab, wo sie Bohemistik, Philosophie, Geschichte und Filmwissenschaft studierte. Ab 1974 arbeitete sie als Dramaturgin in den Filmstudios Barrandov. Nach 1989 war sie an der Gründung der Nichtregierungsorganisation Gender Studies und proFEM beteiligt. Mit ihrem Mann, dem Filmregisseur und Maler Nenad Djapić, zog sie einen Sohn groß, lebte abwechselnd in Prag und Berlin und war eine leidenschaftliche Filmemacherin und Sammlerin von Frauengeschichten. Für ihren herausragenden Beitrag zur Frauenforschung in Mittel- und Osteuropa wurde sie 2008 mit dem Mary Zirin Prize ausgezeichnet. Über mehrere Jahre hinweg war sie Vizepräsidentin der Tschechischen Assoziation für Oral History (Česká asociace orální historie). Trotz ihrer langen und schweren Krankheit der letzten Jahre gelang es ihr, sich weiterhin über Dinge zu freuen und ihren wunderbaren Sinn für Humor beizubehalten.

Die Grande Dame der tschechischen Oral History

Es ist nur wenigen bekannt, dass es Pavla Frýdlová war, die im Sinne der feministischen Forschung und Ethik den Grundstein für Oral History in der Tschechischen Republik legte. Sie war mit Leib und Seele Feministin. „Feminismus bedeutet für mich, dass Frauen und Männer gleichberechtigte und gleich wichtige Personen sind. Das sollte jeder und jede verstehen und akzeptieren und die Gesellschaft sollte dem folgen. Ich folge dem auf jeden Fall und werde es auch für den Rest meines Lebens tun. Es gab eine Zeit, in der Feminismus ein Schimpfwort war. Aber ich habe mich immer offen dazu bekannt, auch wenn ich kein Schild trug, auf dem stand ‚Ich bin Feministin‛, war es durch meine Handlungen und Äußerungen einfach immer klar und so wird es auch immer bleiben“, sagte sie in einem Interview, das ich 2022 mit ihr führte.

Von 1996 bis 2008 koordinierte sie ein internationales und einzigartiges Oral History Projekt namens Women’s Memory, das von der Soziologin, Dissidentin und Mitbegründerin von Gender Studies, Jiřina Šiklová, initiiert wurde. Die Idee entstand nach einer Zugfahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn zur 4. Internationalen Frauenkonferenz in Peking im Jahr 1995. Während der langen Reise sprach Jiřina Šiklová mit Frauen aus der ganzen Welt und erkannte, wie wichtig es war, die Frage nach dem Status und der Identität der tschechoslowakischen Frauen im Sozialismus aufzuarbeiten. Pavla Frýdlová, die aus dem Dokumentarfilmbereich kam und sich seit ihrer Zeit in Deutschland Ende der 1980er Jahre, in der sie stark von der Frauenbewegung inspiriert wurde, mit der Stellung der Frau im Film befasst hatte, ergriff die Initiative und stellte ein Team von Frauen aus verschiedenen Berufen zusammen, mit denen die Aufzeichnung der ersten Oral History Interviews begann.

Die Kunst des Zuhörens

Das Women's Memory Project war ein offenes Bekenntnis zum Feminismus. Ziel war es, die Geschichte der Frauenemanzipation in Osteuropa zu erfassen und zu verstehen. Es schuf ein einzigartiges Archiv, das auf authentischen Geschichten, Erfahrungen und Meinungen von Frauen aus drei Generationen (geboren zwischen 1920 und 1960) basiert, die mit der Methode der mündlichen Überlieferung (Oral History) erfasst wurden, die Pavla Frýdlová und ihr Team zu dieser Zeit gerade erst erlernten. Dabei betonte sie stets die ethische Dimension der Interviewführung, den Respekt vor der Erzählerin, den Prozess der gemeinsamen Erarbeitung und die Kunst des Zuhörens. Sie widmete jeder Frau und jedem Lebensinterview besondere Aufmerksamkeit. Neben Frauen aus der ehemaligen Tschechoslowakei wurden im Rahmen des Projekts auch Frauen aus Deutschland, Polen, Serbien, Kroatien, der Slowakei, Montenegro und der Ukraine befragt. Insgesamt wurden mehr als 500 Interviews geführt, von denen 172 tschechisch waren. Dies ergibt mehr als 20.000 Seiten an Protokollen. Pavla Frýdlová war die einzige Person, die fast alle Interviews in Women’s Memory kannte. Sie sprach viele Sprachen fließend und führte die Interviews auf Deutsch, Russisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und Polnisch.

Auf die Frage nach ihrer Motivation für das Sammeln von Interviews antwortete sie: „Es geht um den Respekt vor den Menschen. Sicherlich geht es nicht darum, die Geschichte zu wiederholen, wie es viele Historiker tun. Sie beschreiben die Realitäten, die Chronologie, die Mechanismen. Aber darum geht es mir nicht, mir geht es um die Aufzeichnung der menschlichen Erinnerung, nicht um historische Objektivität. Ich interessiere mich für den Menschen, für sein Leben, seine Ansichten und Erfahrungen. Menschen sind nicht Objekte der Geschichte – sie schaffen sie. Für mich ist ihr Zeugnis aussagekräftiger als jede Fiktion“.

Eine Frau hält mehr aus als ein Mensch

Die Bemühungen feministischer Wissenschaftlerinnen, die Geschichte der Frauen aufzuzeichnen, bedeutete nicht nur, die „blinden“ Flecken der Geschichte zu füllen, sondern aktiv eine gleichberechtigte Gesellschaft zu gestalten. Wie Alena Wagnerová sagt:

„Die Essenz der wahren Gleichberechtigung und Emanzipation der Frauen ist das Recht auf ihre eigene Interpretation der Welt“.

Pavla Frýdlová betonte, dass feministische Oral History auch aus einem Prozess der Selbsterfahrung bestehe. „Im Fall von Women’s Memory war es auch wichtig, dass sich die Frauen durch Gespräche und eine bestimmte Art, Fragen zu stellen, ihrer selbst bewusstwurden." Der Prozess der eigenen Erfahrung war einer der Eckpfeiler unserer Gespräche, weil wir Women's Memory als ein eindeutig feministisches Projekt betrachteten.

„Wenn wir von irgendwoher kämen, um über die Emanzipation der Frauen zu sprechen, darüber, welche Rollen Frauen haben sollten und wie sie unterdrückt werden, würde uns niemand zuhören.“

Der Prozess des Selbstbewusstwerdens, das Verstehen der eigenen Rollen, Identitäten und deren Veränderungen, ist somit der rote Faden, der die verschiedenen Themen der Frauengeschichten und damit auch der feministischen Oral History im Allgemeinen miteinander verwebt.

Das Projekt „Women's Memory“ eröffnete eine Reihe von bisher tabuisierten Themen. Pavla Frýdlová und ihre Kolleginnen lernten, mit den Zeugnissen von Frauen zu arbeiten, die schwierige und traumatische Erfahrungen gemacht hatten.

„Mitunter hatte ich das Gefühl, dass ich die manchmal sehr tragischen Schicksale nicht mehr auf meinen Schultern tragen konnte. Das passierte mir vor allem mit der ältesten Generation, die die Schrecken des Krieges erlebt hatte. Die meisten Interviews führte ich mit Frauen, die ich kaum persönlich kannte. Und plötzlich erzählten sie mir Dinge, die sie noch nie jemandem erzählt hatten. Ob es sich um Vergewaltigung, Inzest oder andere Traumata handelte. Nach den Dreharbeiten eines solchen Gesprächs kann ich doch nicht einfach sagen: Danke und auf Wiedersehen. Das geht doch nicht. Mit vielen von ihnen stehe ich also seit Jahren in Kontakt, entweder schriftlich oder persönlich, und ich habe ihre Geschichten weiterverfolgt. Einige von ihnen haben meinen Freundeskreis erweitert.“

Basierend auf den Erinnerungen von Frauen veröffentlichte Pavla Frýdlová eine Reihe von Publikationen wie Všechny naše včerejšky I-II (All Our Yesterdays I-II), Ženská vydrží víc než člověk (A Woman Endures More Than a Person), Ženám patří půlka nebe (Half the Sky Belongs to Women). Sie hat an der Produktion der Radioserie von 2005 Válka očima žen (War Through the Eyes of Women) sowie des Dokumentarfilms Válka v paměti žen (War in the Memory of Women) mitgewirkt. Für das Projekt Women’s Memory stellte sie Sammlungen von Lebensgeschichten über Remigrantinnen, Romnija und Holocaust-Überlebende zusammen. Zudem veröffentlichte Pavla Frýdlová gemeinsam mit Barbora Baronová das Buch Women 60+, 2021 gab sie zusammen mit Kateřina Jonášová das Buch Nest des Feminismus (Hnízdo feminismu) heraus, das zum dreißigsten Jahrestag der Gründung von Gender Studies veröffentlicht wurde.

Sie nahm an unzähligen Diskussionen, Workshops und Konferenzen teil. Außerdem arbeitete sie viele Jahre als Dramaturgin für Kinder- und Jugendfilme bei Barrandov sowie als Filmpublizistin und Dozentin an der Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste FAMU in Prag. Neben den oben genannten Veröffentlichungen ist sie Mitautorin der Enzyklopädie Malý labyrint filmu (Das kleine Labyrinth des Films), einer Studie über Frauenfilme in Osteuropa, einer Studie über Gewalt gegen Frauen u.v.m.

Mein letztes Interview mit Pavla

Ich kenne Pavla seit Dezember 2019, damals arbeiteten wir intensiv an dem pädagogischen Oral-History-Projekt Československo v paměti žen (Die Tschechoslowakei in der Erinnerung von Frauen), das eine Fortsetzung des oben beschriebenen Projekts Women’s Memory war. Wir haben auch das Buch Hnízdo feminismu (Nest des Feminismus) zusammengestellt, das auf Interviews mit Frauen basiert, die an der Gründung von Gender Studies beteiligt waren und die feministische Bewegung in der Tschechischen Republik maßgeblich geprägt haben. Wir sprachen über Geschichte, feministische Themen, die neuesten Bücher, Musik und Kultur sowie über die Blumen, die gerade erblühten. Am Freitag, zwei Tage vor ihrem Tod, brachte ich ihr einen Frühlingsblumenstrauß. Ich war gerade dabei, ein Interview mit ihr über den Kontext des Projekts Women's Memory zu filmen. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ihr Pfingstrosen und Kamille oder die bunten Freesien und Schneeglöckchen besser gefallen würden. Am Ende habe ich Pavla beide Sträuße vorbeigebracht, worüber sie sich sehr gefreut hat.

Pavla Frýdlová widmete ihr ganzes Leben den Geschichten und Erfahrungen von Frauen verschiedener Generationen. Sie filmte über hundert Interviews, legte den Grundstein für Oral History in der Tschechischen Republik und leistete bedeutende Beiträge zur feministischen Forschung, Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte. Sie sagte mir, das einzige, was sie in ihrem Leben bereue, sei, dass sie nicht promoviert habe. Umso mehr ermutigte sie mich, meine Bewerbung für meine Promotion einzureichen. Wir versprachen uns, beim nächsten Mal einen weiteren Teil des Interviews aufzunehmen, diesmal einen biografischen, von ihrer Kindheit bis zur Gegenwart. Wir freuten uns auf das nächste Treffen, aber wir ahnten nicht, dass es nicht mehr stattfinden würde.

Der Artikel ist ursprünglich in tschechischer Sprache bei A2larm.cz erschienen. Er wurde gekürzt und redaktionell bearbeitet.