Tunesien: „Ich kann meine Rolle als Aktivistin nicht aufgeben“

Interview

Die tunesische Journalistin Rim Benrjeb ist seit vielen Jahren politisch aktiv. Im Interview erzählt sie von den wirtschaftlichen und politischen Problemen in Tunesien seit der Revolution – und warum sie ihr Land dennoch niemals verlassen würde.

Eine Frau auf einer Demonstration

Hannah El-Hitami: In Ihrem Essay „Notizen einer vermoderten Revolution“ erzählen Sie von einer Ihrer ersten Erfahrungen auf einer Demonstration. Sie waren noch Schülerin und hatten eine Solidaritätsdemo für die Menschen in Gaza organisiert. Sie beschreiben, wie Ihr Vater Sie dort vor den Augen der Teilnehmer:innen und der Polizei beschimpfte und körperlich angriff. 14 Jahre später haben Sie jede Menge Erfahrung mit politischem Aktivismus, haben eine Revolution miterlebt. Wenn Sie in der Zeit zurückreisen könnten, was würden Sie dem jungen Mädchen von damals sagen?

Rim Benrjeb: Ich habe mir den Text kürzlich mal wieder durchgelesen und war überrascht darüber, dass ich heftig weinen musste. Mir wurde klar, dass mir nach all den Jahren immer noch eine tiefe Wunde und ein großer Schmerz geblieben sind. Wenn ich zurückgehen könnte, würde ich mir selbst sagen, dass es richtig war, mich für meine Überzeugungen eingesetzt zu haben. Der jungen Rim würde ich sagen: „Das hast du gut gemacht.“

Sie sprechen von einer vermoderten Revolution und sehen die Ursache in „schlechten ökonomischen und soziokulturellen Bedingungen“. Was ist damit gemeint?

Einerseits ist es normal, dass nach einer Revolution keine Stabilität besteht und dass die Wirtschaft starken Schwankungen ausgesetzt ist. Doch in Tunesien haben alle Regierungen, die nach der Revolution kamen, nur an den Machterhalt gedacht. Niemand konzentrierte sich darauf, wo Tunesien wirtschaftlich hin soll und wovon die Menschen in Zukunft leben werden. Dem aktuellen Präsidenten Kais Saied scheint nicht einmal bewusst zu sein, dass wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden. Dabei sind wir an einem Punkt angekommen, wo wir Nahrungsmittelhilfe benötigen. Es gibt keine Grundnahrungsmittel wie Zucker, Mehl oder Öl. Es gibt keine Eier, keine Milch, kein Benzin. Die Bauern können ihre Kühe nicht füttern, weil das Futter so teuer ist, und darum gibt es keine Milch. Das kann selbst ein Grundschulkind verstehen. Doch Kais Saied tritt im Fernsehen auf und verbreitet irgendwelche Verschwörungstheorien.

Wer ist schuld an diesen Problemen?

Auf jeden Fall die Regierung. Klar gibt es Korruption in allen Teilen der Gesellschaft, aber der Hauptverantwortliche ist die Regierung. Unter Ben Ali war es so, dass die regierende Familie sehr viel Geld vom Staat gestohlen hat. Tunesien gehörte quasi ihnen. Doch zumindest wussten wir damals, wer die Diebe sind. Seit der Revolution ist die Korruption überall. Alle stehlen! Vom kleinen Angestellten bis zum großen Boss, auch wenn das bei letzterem natürlich ganz andere Dimensionen hat. Es gibt einfach keine wirtschaftlichen Berater, die durchdringen und uns aus dieser Lage befreien könnten.

Dazu kommen die harten Sparmaßnahmen, die Bedingung für IWF-Kredite sind.

Der IWF schreibt sehr strenge Regeln vor, die das Leben der Menschen stark beeinträchtigen. Und doch rennen wir ihm hinterher, damit er uns einen Kredit gibt. Ich persönlich bin komplett gegen den IWF. Eine der Bedingungen, die er uns auferlegt hat, ist ein mehrjähriges Verbot von Anstellungen im staatlichen Sektor. Meine Schwester kann seit Jahren nicht als Lehrerin arbeiten, weil Leute wie sie nur temporäre Arbeitsverträge bekommen, die sie ihrer Rechte berauben und sehr schlecht bezahlt sind.

Wie hat sich die Rolle der Zivilgesellschaft in Tunesien seit 2011 verändert?

Vor der Revolution war die Zivilgesellschaft sehr unterdrückt. Es gab nur staatliche Organisationen, weil es nicht erlaubt war, Parteien oder Organisationen zu gründen. Alles fand im Geheimen statt. Nach der Revolution war das wie eine Explosion: Tausende von Organisationen haben sich gegründet, weil alle Regeln fielen und es endlich Versammlungs- und Organisationsfreiheit gab. Die Zivilgesellschaft ist heute wirklich das Beste, was es gibt in Tunesien. Sie übt Druck auf die Mächtigen aus und übernimmt teilweise die Arbeit des Staates: feministische Organisationen haben zum Beispiel Frauenhäuser für Opfer häuslicher Gewalt eingerichtet.

In Ihrem Essay schreiben Sie, Tunesien sei „ein Großraumgefängnis für Frauen, für queere Personen, für Jugendliche mit Träumen, für Menschen mit Behinderung, für schwarze Menschen, für Kinder.“

Genauso ist es. Natürlich hat es nach der Revolution neue Gesetze zu Gunsten von Minderheiten gegeben, aber diese werden nicht richtig umgesetzt. Um nur ein Beispiel zu nennen: es gab bis vor Kurzem  eine Frauenquote in der Politik. Jede Wahlliste für die Lokalwahlen musste ebenso viele Frauen wie Männer enthalten. Das Problem war aber, dass es bei den Wahlen um das nationale Parlament keine Regeln gab, an welcher Stelle der Hierarchie diese stehen müssen. Daher haben die meisten Parteien immer noch Männer an der Spitze. Das Gesetz an sich ist also gut, aber es funktioniert nicht richtig, und genauso ist es mit vielen weiteren.

Sie schreiben, dass alles in Tunesien einem vermittelt: „Geh doch ins Ausland.“ Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht auszuwandern?

In den letzten Jahren schon manchmal, weil ich Angst davor habe, hier alt zu werden und keine medizinische Versorgung zu bekommen. Die Mutter einer Freundin hat Brustkrebs. Es fehlen die grundlegendsten Medikamente für ihre Behandlung. Der Arzt ist völlig verzweifelt, und das in einem privaten Krankenhaus, wo man viel bezahlen muss. Im öffentlichen Krankenhaus wäre ihr Termin für die Chemotherapie im Jahr 2024 gewesen. Bis dahin wäre sie doch längst tot und begraben! Diese Dinge machen mir große Angst, auch wenn ich an meine Eltern denke. Doch ich lehne mich auf gegen das Auswandern.

Was hält Sie im Land?

Ich könnte Tunesien nicht verlassen. Das ist mein Land, ich bin hier geboren, hier sind die Themen, für die ich mich einsetze und die Menschen, die mir ähnlich sind. Ich kann meine Rolle als Aktivistin nicht aufgeben. Seit Jahren kämpfen meine Freunde und ich dafür, dass wir und andere in Würde leben können. Wenn ich nach Europa ginge, worüber sollte ich dann schreiben und für wen? Wen sollte ich verteidigen? Ich glaube, Tunesien braucht mich, genauso wie es alle anderen braucht.

Zuletzt stellten Tunesier:innen die zweitgrößte Gruppe von Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa reisten. Würden Sie an diese Menschen appellieren, in ihrem Heimatland zu bleiben?

Ganz im Gegenteil. Ich würde ihnen sagen: geht ruhig und lernt etwas Neues! Lebt in einem anderen Land in Würde, denn das könnt ihr in eurem eigenen Land nicht. Leider erlaubt die Politik der Grenzen den Menschen nicht zu verreisen. Europäer mit ihrem roten Pass können quasi die Tür zu unserem Land eintreten und reinkommen. Wir aber müssen in ewigen Schlangen stehen, uns kleinmachen und hoffen, dass sie uns ein Visum geben. Dann müssen wir uns am Flughafen tausende Fragen stellen lassen, nur weil wir andere Namen haben. Wenn ich sage, ich möchte in Tunesien bleiben, dann weil ich bestimmte Privilegien habe: Ich bin gut ausgebildet, habe ein gutes Netzwerk, komme aus einer toleranten Familie, und habe wirtschaftliche Sicherheit. Das ist anders bei den Menschen, die über das Mittelmeer ausreisen, in dem Wissen: entweder sterbe ich im Wasser oder ich komme an und fange ein neues Leben an. Dieser gefährliche Weg ist für sie würdevoller als an dem Ort zu bleiben, wo sie sind.