„Das saubere Bild der ‘Modelldemokratie‘ ist eher Außensicht als Realität in Senegal.“

Analyse

Nach tagelangen gewalttätigen Protesten in Senegal reflektiert der Journalist Hamadou Tidiane Sy über deren Genese, den Zustand der Demokratie im Senegal und über die Forderungen der Demonstrierenden.

Protestierende und Polizisten in Senegal

Was ist eigentlich passiert? Die Affaire "Ousmane Sonko-Adjii Sarr"

Vielleicht ist es noch zu früh, um die gesamten Ereignisse der vergangenen Wochen im Senegal zu verstehen. Noch schwieriger ist es, alles entschlüsseln zu können. Halten wir uns an die offensichtlichen und zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestätigten Fakten. Hier sind sie:

Der zur Zeit wichtigste Oppositionspolitiker Ousmane Sonko, Abgeordneter und ehemaliger Präsidentschaftskandidat von 2019, wird von der Gendarmerie vorgeladen. Hintergrund sind Ermittlungen aufgrund einer Anzeige wegen Vergewaltigung durch Adjii Sarr, Mitarbeiterin in einem Massagesalon, den Sonko frequentiert. Ousmane Sonko bestreitet weder, die Masseuse zu kennen, noch an besagtem Tag vor Ort gewesen zu sein. Dafür streitet er aber kategorisch jeglichen Akt der Vergewaltigung ab. Was genau passiert ist, wissen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur die junge Frau und Sonko. Sonko beruft sich auf seine Immunität als Abgeordneter, widersetzt sich der Befragung, verspricht jedoch Antworten, sobald seine parlamentarische Immunität aufgehoben wird. Gleichzeitig spricht er von einem Komplott seiner „Gegner“, zuallererst des Präsidenten Macky Sall, dem er vorwirft, ihn politisch „liquidieren“ zu wollen, um seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zu verhindern. Die Gemengelage wird also schnell zur hochpolitischen Affaire "Sonko-Adjii Sarr". Trotz der Aussageverweigerung Sonkos wird der Fall der Justiz übermittelt, und schließlich entscheidet die Nationalversammlung, die Immunität des Abgeordneten aufzuheben. Entgegen seiner eigenen Versprechen und gegen das gute Zureden von ihm wohlgesinnten Vertretern aus Religionsgemeinschafen und Zivilgesellschaft widersetzt sich Sonko der Vorladung zur Anhörung. Stattdessen mobilisiert er die Anhänger seiner Partei und viele unzufriedene junge Menschen zu Protesten. Es kommt zu ersten Festnahmen, bevor schließlich die Wut gegen das Regime gewaltsam durchschlägt.

Dies ist der Ausgangspunkt der Szenen sonst rarer Gewalt, deren Bilder um die Welt gegangen sind. Aus der ursprünglich privaten Affäre Sonko-Adji Sarr in einem Massagesalon gelangen wir in eine politische Affäre, in der einige radikale Gruppen den Rücktritt von Macky Sall fordern.

Der politische Kontext der Affäre "Sonko-Adjii Sarr"

Den Hintergrund der derzeitigen Ausschreitungen bieten insbesondere die Wahlen 2024. Da wäre zunächst die große Frage nach einer möglichen oder unmöglichen erneuten Kandidatur von Präsident Macky Sall. Dieser befindet sich in seinem zweiten – und gemäß der senegalesischen Verfassung für einen Staatschef letzten – Mandat.

Inzwischen gab es jedoch eine Verfassungsänderung, die Jurist/innen und Analytiker/innen jede auf ihre eigene Art interpretieren. Während die einen argumentieren, dass Salls erstes Mandat von der neuen Verfassung nicht betroffen ist, er also ein weiteres Mal kandidieren könne, schließen andere seine erneute Kandidatur aus. Der Präsident selbst hat in der Vergangenheit versprochen, kein drittes Mandat anzustreben. Wir befinden uns also in einem Kontext einer quasi ständig den Wahlen bevorstehenden Zeit – obwohl es noch drei Jahre bis zu den Präsidentschaftswahlen sind. In einer derartigen Stimmung also kommt es zur „Affäre Sonko-Adji Sarr“.

Vom Gesundheitszustand der senegalesischen Demokratie

Über der senegalesischen Demokratie lag immer eine große Aura als „Ausnahmedemokratie“ der Region, die von ihrer Realität weit entfernt ist

Einerseits gehört Senegal noch zu den wenigen Ländern in Westafrika bzw. in Afrika, in dem es seit seiner Unabhängigkeit weder Militärdiktatur noch Staatsstreich gegeben hat.

Während viele afrikanische Länder von Einparteienregimen geführt wurden, gab es im Senegal ein Mehrparteiensystem und regelmäßige Wahlen. 2000 und 2012 kam es zu friedlichen Machtübergaben an der Staatsspitze. Zahlreiche Menschen und Organisationen kritisieren offen die Machthaber. Sie haben die Gelegenheit dazu und setzen ihre Kritik weiter fort. Es gibt eine rechtlich abgesicherte Opposition, die ihre Funktion als solche ausübt. Es gibt immer noch eine private Presse, die Gewerkschaften sind erlaubt und die Zivilgesellschaft aktiv.

Auf der anderen Seite steht die zentrale staatliche Macht, die nach wie vor sehr stark ist und vor allem in den Händen des Präsidenten der Republik konzentriert ist.

Und so prangern in der Affäre „Sonko-Adjii Sarr“ neben den politischen Gegner/innen auch unabhängige Stimmen aus der Zivilgesellschaft und der Presse regelmäßig den Rückgang öffentlicher Freiheit, die mangelnde Unabhängigkeit der Judikative, die übermäßige Macht des Staatspräsidenten und die Verschwendung öffentlicher Mittel ohne jegliche Rechenschaftspflicht an.

Eine Gruppe von hundert Universitätsangehörigen unterzeichnete ein Manifest über die Bedrohungen des Rechtsstaats. Ihrem Beispiel folgten zahlreiche Akteur/innen und Gruppen der Zivilgesellschaft.

Einige gehen sogar so weit zu behaupten, dass Senegal eine Diktatur sei. Es stimmt, dass es zahlreiche Versäumnisse, Ungerechtigkeit, ein Ungleichgewicht zwischen den Machtbereichen und zuweilen sogar Machtmissbrauch, Vetternwirtschaft und Korruption gegeben hat und gibt. Aber macht all das Senegal zu einer Diktatur? Die Realität ist wohl differenzierter.

Was aber stimmt ist, dass die Machthaber jedes Mal, wirklich jedes Mal, wenn sie sich bedroht gefühlt haben, hart durchgreifen. So wurden beispielsweise Akteur/innen der Zivilgesellschaft im Laufe der letzten Demonstrationen verhaftet, Demonstrationen und Versammlungen von Gouverneuren und Präfekten verboten; Dissident/innen verhört oder verhaftet, wenn sie sich gegen die Interessen der Machthaber aussprachen.

Die kürzlich erfolgte Verhaftung von Boubacar Sèye, einem Aktivisten der Zivilgesellschaft, der sich zu Migrationsfragen kritisch äußert, ist dafür ein Beispiel. Auch das fortgesetzte Festhalten von Guy Marius Sagna, einem vielseitig agierenden und sehr regimekritischen Aktivisten, trägt zum Imageverlust von Senegal bei, das lange als „Vitrine der Demokratie“ bezeichnet wurde.

Einige Gesetze zur Einschränkung der freien Meinungsäußerung oder des Rechts auf Demonstrationen die aus der Vergangenheit stammen, sind weiterhin in Kraft. Sie zeichnen kein gutes Bild von der senegalesischen Demokratie. Alle Machthaber haben sich bisher dieser Gesetze bedient, um die Stimmen von Dissident/innen auszuschalten. Alle Oppositionspolitiker/innen haben diese Gesetze, die von der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsorganisationen als unzeitgemäß angesehen werden, verurteilt. Ironischerweise nutzen aber Politiker/innen in dem Moment, in dem sie aus der Opposition in die Machtposition wechseln, genau diese Gesetze für den eigenen Machterhalt.

 

Polizisten in Senegal

 

Alle politischen Regime in der Zeit seit der Unabhängigkeit hatten Momente, in denen sie es mit der Angst zu tun bekommen haben und fast die Kontrolle verloren hätten. Einer nach der anderen drohte jeder Regierung zu bestimmten Zeitpunkten die Absetzung durch den Zorn der Bevölkerung, kam es daraufhin zu heftigen Beschuldigungen und zu Gewaltakten: 1968, 1988, 1994 und 2011, um nur die markantesten Daten für jeden der ehemaligen Präsidenten zu nennen. In diesen Momenten sah sich die Regierung gezwungen, Gewalt gegen die erboste Bevölkerung anzuwenden.

Und jedes Mal hatten wir als Bevölkerung Angst um die Demokratie, die Freiheit und die Einhaltung der Menschenrechte.

Aber im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen politische Gewalt und Repressalien fast schon chronisch geworden sind und zuweilen ein alarmierendes Ausmaß annehmen, ist es in Senegal immer wieder gelungen, Ruhe einkehren zu lassen und zu einem Dialog zwischen Machthabern und Opposition zurückzukehren.

Dies ist fast schon eine Konstante, dank der sehr einflussreichen und effizient wirkenden Kreise in der senegalesischen Gesellschaft am Rande der politischen Macht, wie den religiösen Anführern, Akteur/innen der Zivilgesellschaft und Gruppen von Mediator/innen im Hintergrund - was auch die jüngsten Demonstrationen wieder bewiesen haben.

Die Forderungen hinter den Demonstrationen und Protesten

Zu Beginn der Demonstrationen gab es keine strukturierten politischen Forderungen. Es muss daran erinnert werden, dass sich anfangs vor allem Anhänger/innen und Sympathisant/innen von Ousmane Sonko zu dessen Schutz zusammengefunden hatten. Er sollte nicht der Justiz „ausgeliefert“ werden, einer Justiz, der man vorwarf, im Sold des Präsidenten zu stehen.

Doch die Ereignisse nahmen sehr bald einen anderen Verlauf. Mehrere gegnerische Kräfte der Machthaber schlossen sich der Sache an. Und die Forderungen wurden politisch. Es entstand flugs eine Bewegung namens M2D ("Bewegung zur Verteidigung der Demokratie"), bestehend aus einer Vielzahl von Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft. Diese nutzte das entstandene Chaos und die ungünstige Haltung der Regierung, um politische Forderungen zu stellen.

Dazu zählte der Verzicht des Präsidenten auf ein drittes Mandat und die garantierte Organisation von Kommunalwahlen im Jahr 2021, Parlamentswahlen im Jahr 2022 und von Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024.

Eine weitere Forderung war die Eröffnung einer unabhängigen Untersuchung zur Ermittlung der Ordnungskräfte, die sich der Gewaltanwendung gegen Demonstrant/innen schuldig gemacht haben.

 

Senegal als friedliche Insel der Region?  

Die Situation in Senegal ist vor allem deshalb besorgniserregend, weil es eines der wenigen Länder der Region ist, das bisher eine gewisse Stabilität erhalten und die Sicherheit seiner Bürger/innen und von Ausländer/innen gewährleisten konnte. Nicht umsonst haben sich zahlreiche Länder, internationale Organisationen, multinationale Konzerne und Nichtregierungsorganisationen das Land als Sitz für ihre Regionalbüros ausgesucht.  

Mali, unmittelbares Nachbarland an der Ostgrenze, befindet sich seit Jahrzehnten in chronischer Instabilität, da sich vor Ort religiöse, radikale und bewaffnete Bewegungen aufhalten und einen Teil des Territoriums von Mali besetzt halten.

Guinea und Guinea-Bissau, die beiden Nachbarländer an der Südgrenze, sind oft politischen und militärischen Erschütterungen ausgesetzt, die alles andere als stabilisierend wirken. Mit Gewalt bei den Wahlen und Militärputschen sind beide Guineas ziemlich symbolisch für Afrika und dafür, was Machtstreben an menschlichen Dramen mit sich bringen kann.

Etwas weiter weg, in Burkina Faso und im Niger, ist die Situation ähnlich, da eine mit den Jahren chronisch gewordene Unsicherheit vorherrscht und bewaffnete Banden ganze Landesteile kontrollieren.

Auch hier kann sich der Senegal als die friedliche Insel inmitten eines Ozeans von Unsicherheiten auf seine „Ausnahmerolle“ berufen, während anderswo tödliche Überfälle zur Normalität gewordenen sind, und die Bilder davon täglich durch die Presse gehen.

Das Bild von Senegal als „friedlicher Insel“ ist natürlich übertrieben, wenn wir bedenken, dass das Land seit 1982 bewaffnete Auseinandersetzungen in der Casamance, angeführt von der MFCD ("Bewegung der demokratischen Kräfte der Casamance"), im Süden des Landes erlebt.

Für die verschiedenen Regierungen stand aber nie ein „offener Bruderkrieg“ gegen das MFDC zur Debatte. In Senegal beschränkte man sich auf einen kleinen Krieg, unterbrochen von Verhandlungen.

Der Verzicht auf offene und allumfassende Gewalt konnte im Senegal Horrorszenarien verhindern, die wir in anderen afrikanischen Ländern in fast identischen Situationen wie in Senegal beobachten konnten. Doch all das ist keine Garantie und letztlich kann sich die Situation auch schnell ändern, wie Länder der Region beweisen. Mali wurde vor dem Einfall der Dschihadisten für seinen erfolgreichen Übergang zur Demokratie und für die friedliche Ablösung der Staatsspitze gelobt. Burkina Faso lebte vor dem Sturz von Blaise Compaoré im Jahr 2014 relativ friedlich, auch wenn die politischen Wahlmöglichkeiten und Freiheiten eingeschränkt waren. Côte d’Ivoire war vor den Ausschreitungen 2011 für die gesamte Bevölkerung des Landes eine Insel des Friedens, bevor es dann in Gewalt und Bürgerkrieg versank. Es lässt sich tatsächlich schwer voraussagen, wann ein Land kollabiert und wann dieser Punkt erreicht ist. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass politische Gewalt, wie sie der Senegal in den letzten Tagen erlebt hat, ein Weg hin zu chronischer Gewalt und Instabilität ist.

Aus Gewalt entstandene Rache lässt neue Rache aufkommen, die wiederum zu neuen Formen von Gewalt führt. Die Profiteure der Kriegswirtschaft, im Inland wie im Ausland, lauern immer auf derartige Situationen und auf eine Fortsetzung der politischen Gewalt, um dieser Einlass zu gewähren.

Nichts spricht dagegen, dass bei Fortbestehen der politischen Gewalt oder einer Wiederholung der gewaltsamen Handlungen der vergangenen Woche, die in der Sahelzone (Mali, Niger, Burkina Faso) agierenden terroristische Gruppierungen, die Spezialisten zufolge seit langem einen Korridor zum Meer suchen, sich hier niederlassen.

Eben diese Gruppen haben bereits in Côte d’Ivoire und Benin zugeschlagen, als sie die Strategie verfolgten, sich Zugang zum Meer zu verschaffen. Eine geschwächte Stadt Dakar könnte ihnen leicht diese Möglichkeit bieten. Dies ist durchaus realistisch, denn die besagten Gruppen haben bereits mehrmals, bisher vergeblich, versucht, die Grenze von Mali zu durchdringen.


 

Hamadou Tidiane Sy
Hamadou Tidiane Sy

Hamadou Tidiane Sy ist ein senegalesischer Journalist. Er ist Gründer der (mehrfach ausgezeichneten) Informationsseite https://www.ouestaf.com/ und voner E-jicom, der Ecole Supérieure de Journalisme des Métiers de l’Internet et de la Communication gegründet.

Vor Beginn seiner eigenen Projekte war er für große internationale Medien tätig, hierbei für die BBC, AFP (l’Agence France Presse), Global Radio News und Channel Africa (SABC, Südafrika).