Anna Redko: „Die Tränen sind wie Treibstoff“

Interview

Viele belarussische Künstler*innen engagieren sich mit ihren Werken für die belarussische Protestbewegung. Eine von ihnen ist Anna Redko. Im Interview spricht sie über die Proteste und ihre Kunst.

Maria Kolesnikowa

Viele belarussische Künstler*innen und Designer*innen engagieren sich mit ihren Werken für die belarussische Protestbewegung und bringen die Ereignisse in ihrem Land in starken Bildern, Plakaten, Illustrationen zum Ausdruck. Eine von ihnen ist Anna Redko, eine Künstlerin und Illustratorin aus Brest. Einige ihrer Bilder zu aktuellen Ereignissen in Belarus sind bereits jetzt ikonisch geworden. Die Illustrationen von Anna Redko zeigen politische Gefangene, Protagonisten der demokratischen Protestbewegung und Schlüsselmomente jener Ereignisse, die den manipulierten Präsidentschaftswahlen folgten. Das belarussische Online-Magazin Tut.by führte ein Interview mit der Künstlerin und fragte sie nach ihren Inspirationen, nach ihrer Sicht auf die Protestereignisse der letzten Monate und ob sie selbst, bei dem was sie tut, keine Angst empfindet. Die Heinrich-Böll-Stiftung dokumentiert in Zusammenarbeit mit den „Stimmen aus Belarus“ dieses Interview in deutscher Sprache.

 

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Maria Kolesnikowa
Maria Kolesnikowa, Bürgerrechtlerin, Mitglied des Koordinierungsrats der belarussischen Demokratiebewegung. Am 7.09.2020 wurde Kolesnikowa entführt, nach einem Ausweisungsversuch, den sie verhinderte, inhaftiert. Das Bild von Anna Redko zitiert ein berühmtes sowjetisches Plakat aus dem Jahr 1941: „Die Mutter Heimat ruft!“. Statt Gewehren und Bajonetten im Hintergrund zeigt das Bild von Anna Redko weiße Rosen und statt des Textes mit dem Fahneneid der Soldaten, wie im Original, hält Maria Kolesnikowa ihren zerrissenen belarussichen Ausweis in der Hand. Kolesnikowa zerris ihren Ausweis und verhindert damit ihre Zwangsausweisung.

„Ich bin in Brest geboren und aufgewachsen. Zeichnen und Malen lernte ich in der einzigen Kunstschule der Stadt bei hervorragenden Pädagogen. Zusammen mit meiner Schwester studierte ich an der Staatlichen Universität Brest. Nach meinem Studium wurde mir klar, dass ich mit leeren Händen dastehe und keine Ahnung habe, wie ich Geld verdienen soll. Ich war dann für zwei Jahre an einen Pflichtarbeitsplatz gebunden und in dieser Zeit lernte ich selbständig alle notwendigen Graphikprogramme. Kurze Zeit später schenkten mir Freunde ein Grafiktablet. Ich bekam einen Job in einem IT-Unternehmen, wo Apps für Smartphones entwickelt wurden. Und dann lernte ich meinen Mann kennen, der ein sehr kreativer Mensch ist. Zusammen entwickelten wir die Marke „Wazhnyj Gusj“ (Dt. „Die wichtige Gans“, Anm. d. Ü.). Wir waren mit die Ersten, die damit anfingen Postkarten und Prints im besonderen belarussischen Stil „sviadomyja“ herzustellen.“

2012 ging Anna nach Moskau und setzte ihre Ausbildung fort. Unter der Anleitung von Artemij Lebedew (russischer Designer, Anm. d. Ü.) malte sie jeden Tag eine Illustration. Dafür wählte sie verschiedene Orte aus, angefangen mit einem Haus, in dem 60 Hunde leben bis zu Katakomben, die „so tief wie Metrotunnel“ unter der Erde liegen. So entwickelte Anna ihren eigenen Zeichenstil. Sie kündigte ihren Job beim IT-Unternehmen und arbeitete von da an als selbständige Grafikdesignerin.

„Liebe rettet die Welt“

„Und alles würde genau so weiter gehen, wenn nicht der 9. August (Der Tag der Präsidentschaftswahl, Anm. d. Ü) passiert wäre“, sagt die Künstlerin. „Alle waren von dem, was da vor sich ging, schockiert und ich auch. Ich hatte mir alle möglichen Zusatzprogramme heruntergeladen und installiert, trotzdem hatte ich keinen Zugang zum Internet. Nachrichten erfuhr ich über Gerüchte.

„Liebe rettet die Welt“
„Liebe rettet die Welt“

Als die Internetverbindung am 13. August wiederhergestellt war, fing ich als erstes an, die Nachrichten zu lesen. Ich war völlig geschockt und deprimiert von der Willkür, die in meinem Land um sich griff. Am nächsten Tag versammelte ich über Mundpropaganda Künstler aus Brest für die Aktion „Künstler gegen Gewalt“, die auf der Treppe der Ausstellungshalle stattfand. Wir hatten alle Angst, dass sie uns holen kommen, aber wir sind trotzdem rausgegangen um unsere Meinung zu vertreten.

Das war der erste Schritt und danach wurde mir besser zu Mute. Aber ungefähr nach einer Woche hatten sich so viele Informationen angesammelt, dass sie sich zu einer Brühe vermischten, die in mir drin ständig am Kochen war. Nach einer gewissen Zeit wurde diese Brühe fester. Und für mich persönlich war es notwendig, all das aus mir rauszubringen. Ich wollte eine riesige Leinwand kaufen und auf ihr mit Schwarz und Grau Polizeiknüppel malen und all sowas. Doch mir wurde plötzlich klar, dass es nur die emotionale Gewalt verstärken würde.“

In dieser Zeit malte Anna ihr erstes Bild über die Proteste.

„Pray for Belarus“

Pray for Belarus
„Pray for Belarus“

„Dieses Bild heißt „Pray for Belarus“. Ich malte es aus dem Gefühl der totalen Ohnmacht und als ich fertig war, fühlte es sich so an, als sei ein schwerer Stein von meiner Seele gefallen. Völlig unbekannte Menschen fingen an, mir dafür zu danken. Anfangs war das ungewohnt. Üblicherweise überweist ein Auftraggeber das Honorar, brummt ein „Danke“ hinterher und das wars. Dieses Bild malte ich nicht damit es jemanden gefällt, eher für mich selbst, und trotzdem überkam mich eine Welle der Dankbarkeit.

Circa zehn weitere Bilder malte ich in Brest. Und wenn ich mit einem fertig war, schaute ich es mir an und dachte: „Das war‘s, genau für dieses Bild wirst du im Gefängnis landen“.

Zurzeit lebt Anna nicht mehr in Belarus. Sie sagt, wegen der Situation vor Ort war sie gezwungen das Land zu verlassen.

„Ich liebe Belarus und es lastet sehr schwer auf mir. Ich will unbedingt zurückkehren, wenn alles wieder in Ordnung ist. Das wichtigste Kriterium dafür wird die Befreiung aller politischen Gefangenen sein. Wenn sie freikommen, dann wird das Leben wieder sicher sein“.

Politische Gefangene werden oft zu Protagonisten von Annas Bildern.

Maxim Znak und Nina Baginskaja

Maxim Snak
Maxim Snak, belarussischer Rechtsanwalt, Mitglied des Koordinierungsrats, politischer Gefangener, von Sicherheitskräften am 9.09.2020 entführt, seitdem in Haft.

„Lange habe ich versucht zu verstehen, warum etwas Wichtiges und Bedeutungsvolles mich nicht zum Malen bringt, aber etwas Kleines und Unscheinbares einen ganzen Sturm der Gefühle in mir auslöst. Es geschieht alles sehr intuitiv. Ich habe Maxim Znak, Maria Kolesnikowa und Nina Baginskaja gezeichnet, weil diese Menschen und ihre Handlungen ein starkes Echo in mir ausgelöst haben. Maxim und Maria hatten die Möglichkeit ins Ausland zu gehen und dort ihre Arbeit fortzusetzen, ohne ein Risiko für sich und ihre Gesundheit einzugehen. Aber sie sind hier geblieben, bei den Menschen, und das beeindruckt mich sehr.

Ich hoffe, dass diese Helden, in die Geschichte eingehen werden. Und Nina Boginskaja ist einfach wunderbar. Ich glaube, wenn all das vorbei sein wird, dann wird zu ihren Ehren in jeder Stadt ein Denkmal stehen.“

Nina Boginskaja
Nina Boginskaja ist eine 73 Jahre alte Frau, die seit den 1990er Jahren viele Male, auch ganz allein, zum Protest auf die Straße ging und eine große, internationale Bekanntheit in den letzten Monaten erlangte.

Anna sagt, dass für sie die Geschichten von einfachen Belarussen, die in eine schwierige Lage geraten sind, eine große Inspiration ist:

„Im Bauch des Gefangenentransporters wird ein Bürger geboren“

„Zum Beispiel, das Bild „Im Bauch des Gefangenentransporters wird ein Bürger geboren“, ist nicht meine Idee. Die habe ich von einem Freund, der am 9. August festgenommen wurde.“

Auf ihrem Instagram-Account, unter diesem Bild, erzählt Anna die Geschichte von Kolja aus seiner Sicht: „Mir wird bewusst, dass ich letztlich in der Embryonalstellung auf dem Boden des Gefangenentransporters liege und dann verstehe ich, hier, im Bauch des Gefangenentransporters, wird gerade ein Bürger geboren. Ein echter, sich seiner selbst bewusster Bürger von Belarus“.      

"Im Bauch des Gefangenentransporters wird ein Bürger geboren"
"Im Bauch des Gefangenentransporters wird ein Bürger geboren"

Roman Bondarenko, „Ich gehe raus…“

Die Künstlerin sagt, dass der Tod von Roman Bondarenko sie sehr getroffen hat.

„Das ist so schmerzhaft und grundlos. Es macht mir Angst; an seiner Stelle hätte ich sein können oder jemand meiner Nächsten“, sagt sie und fügt hinzu:

„Als es passierte, fingen alle an sein Foto in Uniform zu teilen und ich wollte gerne eine Alternative anbieten. Ich wollte zeigen, dass er auch ein Künstler war, denn bei mir persönlich rufen Menschen in Uniform keine positiven Assoziationen hervor.“

Roman Bondarenko
„Ich gehe raus…“ - Die letzten Worte von Roman Bondarenko in der Chatgruppe der Nachbarschaft vom "Platz des Wandels“ in Minsk. Am 13.11.2020 erlag Roman Bondarenko seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus, nachdem er zuvor von vermummten Schlägern in Zivil im Hof zwischen den Wohnhäusern, am „Platz des Wandels“, angegriffen wurde.

Roman habe ich sehr schnell gezeichnet. Durchschnittlich brauche ich vier Stunden für eine Illustration und seine schaffte ich innerhalb von zwei. Ich zeichnete und weinte dabei. Die Tränen sind wie Treibstoff, etwas hat mich berührt, ich weine, sammele mich und male.

Annas Illustration werden oft von belarussischen und internationalen Medien verwendet. Ihre Arbeit „Die Heimat ruft“ zierte das Titelbild von The Guardian und wurde bei Euronews gezeigt.

„Jetzt bekomme ich praktisch jeden Tag persönliche Nachrichten mit der Bitte meine Arbeiten bei Veröffentlichungen oder bei Ausstellungen verwenden zu dürfen. Es freut mich, wenn mein Urheberrecht respektiert wird, auch wenn meine Arbeiten im Internet zugänglich sind und sie jeder runterladen kann.“

 


Übersetzt aus dem Russischen von Wanja Müller für „Stimmen aus Belarus“ und die Heinrich-Böll-Stiftung.

Quelle: Tut.by