Planet Berlin im Covid-19-Modus: Wolliner Straße

Kolumne

Olga Bolycheva befindet sich gerade nicht in Berlin. Kurz vor der Verhängung der Ausgangssperre reiste sie nach Russland und ist seitdem dort. Sie denkt gerne an ihre Wohnung in der Wolliner Straße und die Offenheit, die Berlin für sie ausstrahlt.

Bild von der Wolliner Straße und einem Selfie von Olga

Berlin. Eine Liebeserklärung

Das letzte Mal war ich Ende März in Berlin. Ich traf meine Freunde und neue, interessante Leute, wir machten Pläne für den kommenden Sommer. Ich mischte mich am 8. März unter die Demonstrierenden zum Internationalen Frauentag und lief durch Berlins Zentrum vom Dorotheenstädtischen Friedhof bis zum Alexanderplatz mit. Nach Russland kehrte ich zwei Tage vor der offiziellen Grenzschließung zurück und musste mich sofort in zweiwöchige Quarantäne begeben.

Ich arbeite im Musiktheater des Kaliningrader Gebietes als Dramaturgin und Leiterin der Literaturabteilung und lebe im Kurort Svetlogorsk (Rauschen) allein in einem Haus. Ich arbeite häufig von zu Hause aus, daher fühlte ich mich am Anfang meiner Selbstisolierung auch gar nicht so schlecht. Vom Schreibtisch aus kann ich das Meer sehen. Lebensmittel wurden mir geliefert. Die Pandemie-Nachrichten machten mir Angst, aber sie schienen weit weg und unwirklich. Natürlich machte ich mir große Sorgen um meine erwachsenen Kinder, die in Amerika und Österreich leben und studieren. Es wurde bald klar, dass wir uns in diesem Sommer vermutlich nicht sehen werden. Zwei Wochen lang gab es nur Telefonate mit den Kindern, Freunden und Kollegen. Eigentlich kann man sagen, dass ich nichts entbehrte, aber gleichzeitig vermisste ich verzweifelt lebendige Kontakte.

Nur die Katzen konnten meine seelische Leere ausfüllen

Zwei Wochen nach meiner Rückkehr aus Berlin war klar, dass ich mich in Berlin nicht angesteckt hatte. Ich wollte unbedingt wieder arbeiten gehen. Aber da galt das Prinzip der Selbstisolierung schon für das ganze Land. Alle Theater schlossen. Gastspiele und Festivals wurden abgesagt oder auf unbestimmte Zeit verschoben. Als Freiwillige anderen zu helfen, ging nicht, denn mit 59 Jahren war ich nahe an der Risikogruppe. So wurde ich zur passiven Zuschauerin. Nur die Katzen konnten meine seelische Leere ausfüllen, es zog sie auf der Suche nach Nahrung aus den verlassenen Sanatorien zu meinem Haus. Ich organisierte Futter für sie und verfolgte ihr katzenhaftes Dasein. Dann erwachten die Igel aus dem Winterschlaf und auch sie zog es zum Futtertrog.

Svetlogorsk ist eine kleine Stadt. Vielleicht gab es deshalb keine Schlangen vor den Läden und keine Nahrungsmittelengpässe. Hotels, Sanatorien, Cafés, Vergnügungsparks wurden geschlossen, wie ausgestorben war die Stadt. Fremden wurde nicht gestattet einzureisen, es fuhren weder Busse noch Vorortzüge.

Ich konnte mich nicht zum Schreiben zwingen

Am Anfang ermunterte ich mich selbst, machte Pläne für die Zukunft, erörterte mit meinen Kolleg*innen neue Projekte, überarbeitete mein altes Stück und begann den Morgen sogar mit Gymnastik. Dann fiel ich in eine Depression. Das war mir erst gar nicht bewusst. Die Tage verliefen in sich dehnender Faulheit, die Zeit floss in einem zähen Strom wechselnder Serien auf dem Fernsehbildschirm dahin. Das Schicksal sandte mir einen Rettungsring, in Form eines Auftrags. Ich sollte einen Artikel für «Russkij Mir» über den Nationalpark Kurische Nehrung schreiben, mit dem ich mich wirklich sehr gut auskenne.

Das erste Mal in meinem Leben habe ich einen Auftrag nicht erfüllt, weil ich mich nicht zum Schreiben zwingen konnte. Sobald ich mich dem Computer näherte, überkamen mich Übelkeit und Schwindel. Das Naturschutzgebiet war für unbekannte Zeit geschlossen. Das Vergangene schien mir für immer fort zu sein und die Zukunft war unbekannt.

Nach fünf Wochen Selbstisolierung begann ich, die Vorschriften zu ignorieren. Ich stand mit der Sonne auf, überwand die Absperrungen und ging zum Meer, wie viele andere, die zwischen fünf und sechs Uhr am Morgen am Strand spazierten, joggten, Rad fuhren, ihre Hunde ausführten. Meine Stimmung wurde besser, die Angst verschwand. Ich konnte mich trotzdem nicht zum Schreiben zwingen. Das gab es auch früher. Dann fuhr ich gewöhnlich nach Berlin. Für eine Woche, nicht länger. Das half mir meistens, meine künstlerische Krise zu überwinden.

Für mich ist Berlin viel mehr als eine Stadt. Es ist mein Kraftquell, Impulsgeber für Kreativität.

Ich entdeckte Berlin 1998, als ich als Journalistin zur Internationalen Tourismusbörse in die Stadt kam. Unser Quartier lag am Stadtrand, in Marzahn. Von dort brachte man uns zur Messe und ins Stadtzentrum. Ich sonderte mich ab und streifte durch die Stadt. Es war Liebe auf den ersten Schritt. Die Straßen, das Kopfsteinpflaster, vielstimmige Plätze, riesige Dome und Wohnhäuser „wie bei uns“ machten die Stadt für mich zu etwas Fremdem und Vertrautem gleichzeitig. Nicht ganz zufällig suchte ich in der Architektur Berlins die Ähnlichkeit mit Kaliningrad (Königsberg), wo ich geboren und aufgewachsen war. Meine Kindheit verbrachte ich in einem deutschen Haus, wie wir alle alten Häuser nannten, die Wohnung teilten wir mit einer großen jüdischen Familie. Ich spielte in der deutschen Kirche Basketball, man hatte sie zur Turnhalle umfunktioniert. Ich ging in Parks spazieren, wo früher deutsche Friedhöfe waren. Und ich liebte meine Stadt. Es war eine kindliche unbewusste Liebe. Mit Berlin war es ganz anders. So erkennt man wahrscheinlich «seinen Menschen» in der Menge. Ich wünschte, ich könnte ein Teilchen dieser Stadt werden, mich auflösen, mit ihr verschmelzen. Wenn auch immer nur für kurze Zeit.

Wolliner Straße – Der Ort, wo die Mauer fiel

Mein ältester Sohn ging zum Studium nach Berlin, und ich kam häufiger hierher. Als er nach Russland zurückkehrte, behielt ich seine kleine Berliner Wohnung in der Wolliner Straße. An dieser Straße stehen Linden, wie früher in meiner Kindheit. Vielleicht bedeutet mir die Wohnung deshalb so viel. Überhaupt ist mir dieser Ort, an der Grenze zwischen Mitte, Wedding und Prenzlauer Berg besonders wertvoll. Ich liebe es, an der unsichtbaren Mauer entlang zu spazieren, die ein Volk in zwei Welten trennte. Grenzen bedeuten für mich schmerzhafte und schwere Prüfungen. Deshalb liebe ich genau diesen Ort, wo die Mauer fiel – für immer.

Wenn ich mich nach Frieden und Ruhe sehne, dann schaue ich mir andächtig die Zionskirche und die Menschen auf dem Platz davor an. Dafür gehe ich in ein winziges Restaurant gleich nebenan. Es gehört einer vietnamesischen Familie. Sie kennen mich gut. Ich weiß gar nicht, ob ich die asiatische Küche ihrer kulinarischen Begabtheit oder der Freundlichkeit wegen so liebe.

In der Gegend, auf dem Arkonaplatz neben der Wolliner Straße gibt es am Wochenende einmal im Monat einen Flohmarkt. Für mich ist es ein Fest. Vor vielen Jahren fand ich hier meinen Talisman — ein kleines gusseisernes Schweinchen mit Flügeln, das in meiner Berliner Wohnung wohnt und dort auf meine Ankunft wartet.

Mit dem Glockengeläut, das von der Zionskirche in die Wollliner Straße getragen wird, aufzuwachen, gefällt mir sehr. Mir gefällt es, die Küchenfenster zu öffnen, in die morgendliche blätterrauschende grüne Welt des Innenhofes zu schauen. Das Wichtigste aber ist – es schreibt sich hier leicht. Ich fühle mich in Sicherheit, als könnte mir in Berlin nichts Böses widerfahren. Eine Illusion, die in der Kindheit wurzelt.

Ich war oft in der Stadt in den letzten Jahren – eigentlich jeden Monat. Wenn ich nicht fahren konnte, hatte ich Sehnsucht. Vielleicht scheint dieser Lebensrhythmus vielen ungewöhnlich, aber mir half er, die innere Balance zu wahren, Energie zu tanken und kreativ zu sein.

In all diesen Jahren durchstreifte ich immer wieder die Stadt und ihre Museen und Kunstorte. Meine Freunde aus Russland, Weißrussland und der Ukraine folgten meinen Routen durch Berlin. Jedes Mal, wenn ich hierher zurückkehrte, entdeckte ich etwas neues. Ein Ereignis, einen Ort, einen Menschen. Zum Beispiel machte ich Bekanntschaft mit der gebürtigen Königsbergerin Walli Braun, der mein Stück „Ich schließe die Augen und küsse dich“ gewidmet ist. Wenn auch als körperloses Wesen, als Widerhall des Gedächtnisses, flüchtige Erinnerung, so kehrte Walli Braun doch in ihr Königsberg zurück – ein gewöhnliches deutsches Mädchen, vom Krieg überwältigt. Ich hoffe sehr, dass Walli auch diese schwere Zeit der Pandemie übersteht. Wir werden uns wiedersehen, ich werde ihr erzählen, wie es unserer Heimatstadt geht.

Mir gefallen die Berlinerinnen und Berliner durch ihre Offenheit, gepaart mit rebellischer Unabhängigkeit und unnachahmlicher Individualität. Eine graue gesichtslose Masse sind sie nicht. An Plätzen wie dem Gendarmenmarkt oder am Märchenbrunnen finde ich die Vorbilder für Held*innen meiner Stücke und Libretti.

Von meiner Freundin Petra, Begleiterin an die verborgenen Orte Berlins, lernte ich die Freude an einfachen Dingen, ohne Angst vor der Zukunft zu leben. Deshalb ist es so inspirierend. Letztes Jahr lud mich Petra zum Russischen Abend in den Nachbarschaftsclub KiezOase ein. Ich hörte einen russischen Emigranten auf dem russischen Akkordeon, dem Bajan, zu, trank Bier und aß russischen Borschtsch, den Deutsche gekocht hatten. Aus diesen Eindrücken heraus schrieb ich den „AntiWagner“. Die Inszenierung wurde zum Theaterfestival MonoFest nach Perm eingeladen. Es ist wegen der Pandemie verschoben worden. Ich träume davon, das Stück in jener KiezOase in Berlin aufzuführen, wo die Idee geboren wurde. Ich werde mich damit gedulden müssen.

Ich bin traurig, weil ich diesen Sommer meine Berliner Freunde nicht treffen werde, ich werde die Linden, die unter meinen Fenstern in der Wolliner Straße stehen, nicht blühen sehen, keinen Spargel von meinem Lieblingsmarkt kochen, den Deutschkurs werde ich nicht besuchen. Das kann alles warten. Aber ich war so oft in Berlin, dass ich mir eine Blume angeschafft habe, eine Orchidee, die auf mich wartet. Sie hat sich über ein Jahr gehalten. Jetzt ist sie wohl für immer verwelkt.

Übersetzung aus dem Russischen: Elke Bredereck


Über die Kolumne:

Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.

In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.