Planet Berlin im Covid-19-Modus: Bergauf

Kolumne

Priya Basil wurde in London in einer Familie mit indischen Wurzeln geboren, sie wuchs in Kenia auf und lebt heute in Berlin. Sie läuft den Berg im Humboldthain hinauf und denkt dabei auch über die Weltgemeinschaft nach.

Der Humboldthain in Berlin unter blauem Himmel

Wie lange noch? Das fragte ich mich ein ums andere Mal, während ich den anfangs endlos scheinenden Hang hinaufkeuchte. Meine Frage hatte weder mit dem Hügel zu tun – der ist gerade einmal fünfundachtzig Meter hoch –, noch mit meiner Fitness – die ist durchschnittlich. Einen Gipfel zu bezwingen, selbst einen kleinen, bedeutet, etwas zu beweisen oder zu erreichen – oder zumindest den Eindruck zu haben, dies zu tun. In guten Zeiten wäre das eine lahme Metapher, und selbst in schwierigen Zeiten, wenn wir bereitwillig überall Zeichen erkennen, die wir auf Bedeutung, Hoffnung, ein gutes Omen hin abklopfen – selbst dann ist der Hügel als Symbol etwas dünn. Und doch … und doch …

Ich habe versucht, dem Hügel auszuweichen, diese Zeilen anders zu schreiben, aber er wölbte sich immer weiter in mein Blickfeld hinein, so wie er nun tagtäglich im Volkspark Humboldthain vor mir auftauchte, mich an- und hinaufzog, auch wenn ich wenig Lust und Energie verspürte, ihn zu erklimmen. Früher war es genau dieser Hügel inmitten einer ansonsten flachen Umgebung gewesen, der mich vom Park abgehalten hatte. Ich war selten dort - obwohl er keinen Kilometer von meiner Haustür entfernt ist. Mir waren weite, offene Flächen lieber, wo ich in die Ferne sehen konnte, ohne erst einen Gipfel besteigen zu müssen.

Wie lange noch?

Der Kindheits-Singsang langer Autofahrten und langweiliger Nachmittage, aus einer Zeit, die keine Uhren kannte, kehrte auf meine erwachsenen Lippen zurück. Nur dass ich damit jetzt nicht meinen Eltern, sondern mir selbst in den Ohren lag. Die Eltern waren zuhause, jeder für sich, in England, in Kenia: ihre Kinder anderswo verstreut, in Deutschland, in Australien. Die Entfernung zwischen uns, die ich so lange in Flugstunden gemessen hatte - zwei Stunden, acht, neunzehn -, vergrößerte sich plötzlich an einem Dienstag Mitte März. Flugzeuge, die nicht starten durften, und Reiseverbote enthüllten die wahre Natur des zwischen uns liegenden Raumes; die Geografie der Welt, die für manche von uns durch häufiges Reisen geschrumpft war, zeigte sich wieder in all ihrer herrlichen, schmerzhaften Weite. An diesem Tag fand der alte nörgelnde Halbsatz einige ebenso nervige Pendants: Bis das hier vorbei ist? - Bis wir uns wiedersehen? – Du es hattest? – Ich es hatte? - Wir alle es hatten?

Alle Vorstellungen von Zeit und Raum, von jeglicher Form von Absehbarkeit wurden mit einem Mal neu konfiguriert: Landesgrenzen wurden geschlossen, soziale Restriktionen verhängt, Zeitpläne für die Isolation festgelegt. Der Humboldthain winkte: Dort würde ich hinspazieren und mich trotzdem an die Auflagen halten können. So stapfte ich also fast jeden Tag bergauf und wiederholte dabei jene Frage, die mir den Atem raubte, auch wenn es der Hügel längst nicht mehr tat.

Szenen der Leere im März

Die Bäume oben am Hang hatten in diesen ersten Tagen noch keine Blätter, die verschiedenen Linien der Zweige und Äste teilten den Blick über den Park und die Stadt dahinter in bunte Trencadís: Szenen der Leere, verlassene Straßen und ein flugzeugloser Himmel, einsame Jogger oder Leute mit Hunden, einzelne Mütter und Väter mit Smartphones und Kindern im Schlepptau. All dies sah ich, während ich den schmalen Weg zum Gipfel hinaufging und daran dachte, dass diese Erhebung von Menschenhand erschaffen wurde, um den darunterliegenden Bunker zu bedecken, dass dies ein Schauplatz des Verlangens, dann der Verwüstung, dann der Verwandlung war.

Fragen bilden immer einen unebenen Untergrund, voller Höhen und Tiefen, man steigt auf zur Hoffnung, stürzt ab in Verzweiflung, dazwischen liegen die Hochebenen der Grübelei. Wie lange noch? war nicht nur ein Hügel, sondern eine ganze Hügelkette, die überall war. Sie schlängelte sich durch Diagramme mit Achsen, die für verschiedene Werte standen - Todesfälle, Tests, Infektionen, Tage -, deren genaue Bedeutung nicht vollständig zu entziffern, deren Wert nicht zu ermessen war. Man sprach von der Kurve, dabei war es eigentlich nur ein weiterer Hang, den verschiedene Menschen an verschiedenen Orten auf und ab liefen. Jede Kurve hatte ihre eigene, sich täglich verändernde Steigung, und zusammen - so hieß es - ergaben all diese Linien die Landschaft der Pandemiewelt. Eine wandelbare Gegend, die dazu einlud, die Zahlen zu bewältigen, als wäre das möglich, als gäbe es nicht zu viele Variablen, Unbekannte und Ungleichheiten, als würde die Gegend uns etwas Neues verraten und nicht nur unsere lang gehegten Vermutungen bestätigen.

Der Humboldthain und Außengrenzen

Der Humboldthain wurde im späten 19. Jahrhundert zu Ehren Alexander von Humboldts angelegt, seine Vorstellung vom Kosmos beeinflusste die Gestaltung. Jegliche Ähnlichkeit mit einem geordneten, harmonischen System wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, als die Nazis auf dem Areal einen Bunker und einen Flakturm bauten und von dort aus im belagerten Berlin bis zum Ende kämpften. In den 1950er Jahren wurde der Park neu gestaltet, Kriegsrelikte wurden gesprengt, Trümmer dieser und anderer Ruinen in der Nähe dienten dazu, die übrigen Reste zu verhüllen. Der Bunker konnte nicht vollständig abgerissen werden und steht bis heute – ein Betonkörper als Hügelskelett.  

Auf halber Höhe – ein verlockender Blick in den Rosengarten, auch er abgeriegelt. Tabu, wie die Kinos, Museen, Theater, Restaurants, wie der Rest der Welt. An dieser Stelle, als ich stehen blieb, um mir die Schuhe zuzubinden, kam sie mir – die schmerzliche Erkenntnis: Wirst du krank, kann ich nicht zu dir kommen. Und einen Augenblick später ein noch heftigerer Schlag: Für so viele Menschen überall auf der Welt ist dieses Schicksal trauriger Alltag. Anschließend ging mir das Recht auf Familienzusammenführung nicht mehr aus dem Kopf, dass es für Geflüchtete und Migranten auf der ganzen Welt erschwert oder sogar ausgesetzt oder verweigert wurde, nicht zuletzt in der EU, deren Außengrenzen sich seit langem immer weiter verhärten und deren Binnengrenzen nun auch größtenteils geschlossen sind. Das Streben nach Einheit in Vielfalt erstreckt sich nicht ganz bis zur Einheit in der Not.

Von einem Tag auf den anderen, so schien es, trugen die Bäume im Park dichtes Laub, waren die Sträucher höher und buschiger. Die Wege am Hügel wurden zu Alleen: Ich lief unter einem Dach aus elektrischem Grün entlang, in einem der reichsten Länder der Welt mit einem der besten Gesundheits- und Sozialwesen. Ich lief, behütet und doch voller Angst – und das nicht nur wegen der Jogger, die vorbeischnauften und -keuchten und, fest entschlossen, ihren ganz persönlichen Gipfel zu erreichen, unbeirrt ihre potenziell tödlichen Atemwolken verbreiteten.

Mir kam der Gedanke, dass die Trümmer, über die wir alle in unserem eigenen Tempo, auf unserem eigenen Weg laufen, nicht allein die Trümmer des Zweiten Weltkriegs sind. Es sind die Trümmer der Gegenwart. So wie nach dem imperialistischen Trieb, fremdes Territorium zu besteigen, zu erobern und für sich zu beanspruchen, weltweit riesige Gebiete in Trümmern lagen, so finden wir uns aufs Neue in den Trümmern des Imperialismus wieder: Er hat andere Formen angenommen, war aber nicht weniger heimtückisch. Seine Opfer befanden sich meist anderswo, jedenfalls glaubten das manche von uns und ließen sich nicht dazu herab, die Schäden überall um uns herum zu bemerken, an den Menschen, am Planeten und all seinen Lebewesen.
    
Ich bin noch immer außer Atem. Vielleicht liegt es an der Lernkurve, die uns die Zeit der Pandemie auferlegt hat. Der steile Anstieg, um erneut die älteste aller Lektionen zu lernen – die wir im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gelernt und vergessen und erneut gelernt haben: Wie fern wir einander körperlich auch bleiben mögen - gewaltsam oder freiwillig oder notgedrungen -, der Raum zwischen uns ist porös, zart, kostbar. Wie in jedem Kosmos sind wir einander stets auf irgendeine Weise verbunden, unsere Schicksale unwiderruflich verflochten.

Es ist an uns, die Zeit als Weltgemeinschaft zu gestalten

Vom Hügel aus sahen die bloßen Bänke zwischen den sorgfältig gepflegten Beeten und akribisch geschnittenen Buchsbaumhecken im Rosengarten des Humboldthains aus wie Bindestriche – wie pointiert sie diese Unterbrechung der gewohnten Abläufe unterstrichen, eine Unterbrechung, von der die Rosen bestimmt keinerlei Notiz nehmen werden. Sie fragen nicht: Wie lange noch? Ich stelle mir diese Frage nicht mehr so häufig, auch wenn ich ihre Dringlichkeit noch immer spüre. Die Entfernung, die Zeit zwischen dem, wo wir sind und wo wir als Weltgemeinschaft sein könnten, hat sich nie so formbar angefühlt wie heute. Es ist an uns, sie zu gestalten: Steigen wir auf oder ab, gehen wir schnell oder langsam? Sehen kann ich sie nicht, aber ich stelle mir die ersten samtigen Rosenknospen vor, die voller Verheißung zwischen den Dornen an den dicken grünen Stängeln wachsen.

 

Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender.

Priya Basil wurde in London in einer Familie mit indischen Wurzeln geboren, sie wuchs in Kenia auf und lebt heute in Berlin. 2017 startete sie eine Kampagne für einen offiziellen Europäischen Feiertag in ganz Europa. Ihr letztes Buch “Gastfreundschaft” ist im 2019 bei Suhrkamp/Insel erschienen.


Über die Kolumne:

Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.

In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.