Planet Berlin im Covid-19-Modus: Tempelhofer Freiheit

Kolumne

Ewa Maria Slaska ist Archäologin und Autorin. Sie wurde in Polen geboren und lebt seit Mitte der 1980er-Jahre in Berlin. Sie liebt das Tempelhofer Feld und geht dort – in gebührendem Abstand – mit ihren Freundinnen spazieren.

Ewa Slaska - Planet Berlin

Ich wohne gegenüber vom Flughafen, was natürlich in jeder Stadt der Welt einen Horror bedeutet, nur in Berlin ist es eine unvorstellbare Freiheit. Deshalb hat mir der Begriff Tempelhofer Freiheit für das Gelände des ehemaligen Flughafens gut gefallen. Der Name kam fast mysteriös aus dem blauen Nichts und verschwand dann genauso geheimnisvoll wieder. Ich habe im Internet danach gesucht. Es fand sich das übliche Blabla: „Radfahren, Joggen, Skaten, Minigolf spielen, Drachen steigen lassen, Grillen und Gemüse züchten beim Urban Gardening – das Flugfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof wird von den Berlinern seit der Eröffnung am 8. Mai 2011 mit großer Begeisterung wahrgenommen.“

Joggen statt Grillen

Die Zeiten haben sich geändert, vieles davon ist inzwischen verboten und die Pandemie gab ihre Prise Salz dazu. Kein Grillen, kein Picknicken, aber sonst alles beim Alten: Das wunderbare Sich-Treiben-Lassen. Viele Parkbesucher joggen, ich nicht. Ich bin eine ältere Dame. Ich fahre auch kein Fahrrad oder Inlineskater, ich gärtnere nicht, meine Lieblings-Freizeitbeschäftigung ist seit eh und je vor allem Gehen. Gehen, Laufen, Marschieren, Pilgern, Gehen … Weniger Flanieren, obwohl notfalls auch Flanieren. Jemandem, der meistens vor dem Computer sitzt, hilft es, in Bewegung zu kommen. Aber Flanieren gehört für mich (vielleicht zu Unrecht) in die Kategorie Schaufensterbummeln, und das tue ich ungern. Früher als ich noch in Polen wohnte, mochte ich Shopping nicht, weil ich kein Geld hatte, und überhaupt war alles, was man kaufen konnte, schlicht schrecklich. Als ich in den Westen kam, wiederholte sich die Situation. Zuerst hatte ich kein Geld, und als ich endlich an Geld kam, waren die Kleider fast nie so, wie ich sie tragen wollte und außerdem zu teuer. Jetzt heißt es Zero-Waste und ist einer der Gründe, weshalb Flanieren nicht denselben Wert hat wie Gehen, Laufen, Marschieren.

Tempelhofer Feld ein idealer Ort zum Gehen und Reden

Die Tempelhofer Freiheit ist ein fantastischer Ort zum Gehen, Laufen, Marschieren. Wenn ich guter Laune bin, die Sonne scheint, meine Freudinnen mitmachen, verlangsamen wir unsere Schritte zu gemächlichem Schlendern. Um uns herum kreischen Jogger, Mountainbiker, Rollerer beiderlei Geschlecht, mit *in oder ohne. Vielleicht gar mehr von *innen. Wir ignorieren sie, wir gehen gemächlich, halten den vorgeschriebenen Abstand von circa anderthalb Metern ein und reden, reden, reden … Direktes Reden, von Angesicht zu Angesicht. Ein Kreislauf unseres Lebens. Reden mit den anderen. Was für ein Wunder. Ob wir die restlichen Tagesstunden alleine vor dem Computer oder vor dem Fernseher verbringen oder zu Hause mit Familien sitzen, über Bücher, Hefte oder Brettspiele gebeugt. Ob wir stundenlang telefonieren und uns darüber freuen, dass Telefon, Skype, Zoom, WhatsApp, Messenger, erfunden wurden – von wem? Alexander Graham Bell, klar, aber die anderen? Egal, Reden ist etwas, was nix, aber wirklich nix ersetzen kann. Wie hätte unsere Quarantäne ausgesehen, hätten wir nicht telefonieren können? Wie allein hätten wir uns gefühlt, wie miserabel wäre unser Leben.

Freiheit schätzen lernen

Aber auch die Erlaubnis spazieren zu gehen scheint ein bis dahin unterschätzter Wert gewesen zu sein. Spazieren auf der Tempelhofer Freiheit. Freiheit, die nicht jedem gegönnt ist. In meinem Land, Polen, kann man von der Polizei angehalten, zurück nach Hause geschickt, seit Kurzem sogar mit schwerer Geldbuße bestraft werden. Man durfte dort bis vor kurzem nicht in einem Park spazieren, schon gar nicht im Wald und auf dem Feld auch nicht.

Ja, sagt ein Freund aus Stettin, mit dem ich telefoniere, das ist die Folge der omnipotenten polnischen Zentralisierung. In Warschau gibt es zwei, drei Parks für die ganze Millionenstadt. An einem sonnigen Sonntag drängten sich alle, aber wirklich alle, im königlichen Łazienki-Park. Am nächsten Tag wurde in ganz Polen ein Spazierverbot eingeführt, ohne Ausnahmen.*

Ja, denke ich, er hat Recht. Wie schön also, dass wir hier in Deutschland in einem föderalistischen Staat leben. Und wir Berliner sogar noch besser, weil unser Land gleich unsere Stadt ist, und unsere „Herrscher*innen“ dieselben Ausgehmöglichkeiten benutzen wie wir, oder?

Allerdings, hat jemand Frau Merkel mal bei einem Spaziergang durch Berlin getroffen? Interessant. Beim Einkaufen schon. Ich jedenfalls. Bei Ullrich zum Beispiel, in der Wilhelmstraße, als sie, wie ich, russische Pelmeni kaufte. Wir lächelten uns an, obwohl wir uns gar nicht kennen. Ist ja egal, man lächelt sich in Deutschland öfter an als in Polen. Unverbindliches Anlächeln. Auf einem Waldpfad, auf einer engen Straße, im Treppenhaus, und – schon obligatorisch – im Fahrstuhl.

Also doch Tempelhofer Freiheit. Ob ich dazu nun Zeit habe oder nicht, ich muss unbedingt wissen, was hinter dem Namen steckt. Wo ist die Freiheit abgeblieben? Oh, Internet! Wie fantastisch du bist für alle, die hungrig nach unnützen Informationen sind. Klar finde ich, was ich suche: „Eine Volksinitiative wendete sich gegen den Namen Tempelhofer Freiheit, da damit die NS-Geschichte dieses historischen Ortes verharmlost werde.“ – „Die Nazi-Geschichte des Ortes“, liest man weiter, „macht es unmöglich, diesen historischen Ort unkritisch (…) als Ort der Freiheit, des Vergnügens und der Toleranz zu feiern.“

Huh… Also der Krieg. Meine Leser*innen! Merkt Euch, bitte! Nicht ich bin diejenige, die einen leichten Text mir nichts dir nichts auf den Krieg bringt. Man sagt uns, den Polen, nach, dass wir gern leiden und unser Märtyrertum pflegen. Unsere berühmte „polnische Seele“ soll dafür stehen, dass wir überall Grund zum Leiden finden und uns im Gefühl des Opfer-Seins suhlen. Diesmal war aber eine deutsche Volksinitiative am Werk. Mea culpa, werte deutsche Volksinitiative, daran habe ich nicht gedacht, mir ging es nur um die Freiheit. So ein feines Wort. So leicht zu verlieren.

Wollen wir überhaupt über unsere Köpfe hinweg geschützt werden?

Als wir auf dem Tempelhof spazieren, wir, das heißt ich und meine zwei Freundinnen, by the way, alle drei alte Schachteln, reden wir selbstverständlich über die Freiheit. Selbstverständlich, weil wir natürlich, wie alle, die Quarantäne als Beschränkung unserer Freiheit empfinden. Wir sind alt, und die Beschränkungen sollen uns alte Menschen schützen. Sie sind also für uns. Wie schön! Wollen wir überhaupt über unsere Köpfe hinweg geschützt werden? Ist es nicht eine Sorge, die zu weit geht? Wird sich der oktroyierte Zwang, alte Menschen zu schützen, gegen uns drehen, wenn die Gesellschaft erkennt, was ihr durch diese Sorge verloren geht? Wenn Jugendliche nicht Abitur machen werden, nicht Arbeit oder Ausbildungsstelle finden, wenn die Insolvenzwelle übers Land rollt? Und was, wenn sich der Spieß umdreht, weil der ganzen Gesellschaft der Begriff „Sorge um die Älteren“ wie eine Fischgräte in der Kehle stecken bleibt? Werden wir mit Hassworten beschimpft, wenn die jungen Menschen an langen Sommertagen nicht an den Strand und abends nicht in eine Disko gehen dürfen? Werden wir dann nicht dazu verdammt, selber die Last der Lockerung der Quarantäne zu tragen? Was, wenn wir und nur wir weggesperrt werden, damit die Jungen wieder an die frische Luft kommen? Wird man uns einen Chip einpflanzen, mit Zwangsmaske stigmatisieren?

Wird man uns in Lager sperren?

Ewa Maria Slaska wurde in Polen geboren, sie lebt seit Mitte der 1980er-Jahre in Berlin. Die studierte Archäologin hat mehrere Bücher geschrieben, sie engagiert sich im bilateralen Kulturaustausch und publiziert Texte in verschiedenen Medien, sie war Gründerin und Vorsitzende des Deutsch-Polnischen Literaturvereins WIR e.V. 2003 gewann sie den Deutsch-Polnischen Journalistenpreis. Ihre Texte kann man auf ihrem Blog lesen.


Über die Kolumne:

Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.

In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.

Nächste Woche schreibt Chi Nguyen.


* Das Spazierverbot wurde in Polen inzwischen wieder aufgehoben. Aktuelle Informationen zu den Beschränkungen finden Sie auf der Website des Auswärtigen Amtes.