Planet Berlin im Covid-19-Modus: Alexanderplatz

Kolumne

Annett Gröschner ist Stadtarchäologin, Chronistin und Palimpsest-Entschlüsslerin. Sie mag die Geheimnisse der Stadt, die Untergründe, die Hinterzimmer, Souterrains, die weitverzweigte Kanalisation. Und sie mag den Alexanderplatz. Auch in der Corona-Krise. 

Planet Berlin im Covid-19-Modus: Alexanderplatz /Annett Gröschner

Der Alexanderplatz - vielen gilt er als hässlichster Platz Berlins, wenn nicht der Welt. Mir nicht. Schon als Kind, noch nicht in Berlin zu Hause, war es ein großer Moment, wenn wir, mit der S-Bahn von Schöneweide kommend, wo die Fernzüge in den siebziger Jahren ankamen, aus dem Bahnhof Alexanderplatz traten und plötzlich diese Weite da war. Das war als Kind meine Vorstellung von Weltstadt, auch wenn andere es für Sibirien hielten oder nur für den Platz, auf dem das Centrum-Warenhaus stand, wo es Dinge gab, von denen man in der Provinz nur träumte. Andere sahen ihn als Treffpunkt. An der Weltzeituhr werden heute noch Beziehungen gestiftet. Die Schriftstellerin Svenja Leiber hat sie im letzten Jahr in ihrem Text „Damaskus Berlin“ mit dem Schatzhaus Qubbat al-Chazna auf dem Hof der Umayyaden-Moschee in der Altstadt von Damaskus verglichen.

„Wieder ein merkwürdiges Vieleck, an dem sich die Leute verabreden oder aufeinander warten, die aber nicht den Ort der Zeitlosigkeit, das Paradies, darstellen, sondern die Zeit selbst, stehend auf einer einzigen statt auf acht Säulen, nicht gleich am Ort eines uralten Wettergottes, tatsächlich aber exakt an der Stelle, wo früher einmal eine alte Wettersäule, und zwischendurch wohl auch einmal die Figur der Berolina gestanden hat. Und darüber keine Kuppel, kein geschlossenes Himmelsgewölbe, sondern der offene Kosmos, eine sozialistisch-modernistische Metallkonstruktion des Sonnensystems mit seinen Planeten und deren symbolisch gestalteten Bahnen.“

Schön isser nich, der Alex, könnte ich mit dem typischen Berliner Pragmatismus sagen, aber man kann den Sternenhimmel an keiner Stelle in Mitte besser sehen. Auch dieser riesengroße orange Mond letzte Woche war hier am besten sichtbar. Noch besser wäre der Ausblick auf dem Fernsehturm gewesen, aber der hat „aus den bekannten Gründen“, wie es allerorten auf den Schildern diverser öffentlicher Treffpunkte heißt, geschlossen.

Der Platz lebt seine Paradoxien

Einst im sozialistischen Sinne umgebaut „als eine Art Utopie aus Glas, Stahl und Beton, ein Stadtraum für Großinszenierungen, wo der Einzelne in der Masse unterging“, wie Stefan Wolle es in seinem aktuellen Buch „Ost-Berlin. Biografie einer Hauptstadt“ beschreibt, war er am 4. November 1989 gerade groß genug, um eine halbe Million Individuen aufzunehmen, die für Demokratie und Meinungsfreiheit und gegen die Regierung auf den Platz geströmt waren. Von „Komparsen einer Inszenierung einer sozialistischen Menschengemeinschaft“ waren sie zum Souverän geworden. Einer, der dabei war, hat es auf den Punkt gebracht: „Ein Volk hat sich aus seiner Geducktheit erhoben und seine Lage angstfrei, souverän und mit Witz zur Sprache gebracht. Ein großer Moment.“

Jetzt ist das Demonstrationsrecht seit vier Wochen faktisch abgeschafft. Die Forderungen, die sonst auf einer Demo gerufen worden wären, wie zuletzt am 8. März, als ein paar tausend Feminist*innen sich schon mit einem gewissen Abstand, aber fröhlich auf dem Platz bewegten, sind nun mit Kreide auf den Platz gemalt: #LeaveNoOneBehind.

Corona hat den Alexanderplatz schöner gemacht 

Der Grund: Es gibt keine Vergnügungsmärkte mehr. Seit acht Wochen fehlen die Buden, die zu jedem sich bietenden Anlass den Platz zu einer ästhetischen Zumutung machen. Und wenn ich mir etwas wünschen dürfte für die Zeit nach der Coronakrise, so wäre das neben den größeren Forderungen, wie einer Rekommunalisierung der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die Befreiung des Alexanderplatzes vom Budenzauber.

Seit der Kontaktsperre betreibe ich täglich etwas, das ich Flaniersport nenne. Ich verbinde meinen Wunsch nach (behördlich erlaubter) Bewegung mit der Arbeit des Beobachtens und Beschreibens. Ein Ort meiner Recherchen ist der Alexanderplatz. Tagsüber ist er ein Durchgangsort vor allem für Leute mit Berufen, die im Moment als „systemrelevant“ gelten und die ihn meist nur benutzen, um schnell wieder wegzukommen, indem sie der Straßenbahn hinterherrennen. Die Kaufhäuser und Geschäfte haben zu und das Kontaktverbot hat die Weltzeituhr vom Treffpunkt zu einer schnöden Zeitansage gemacht. Abends aber kann man hier der Stadt beim Ausatmen zusehen. In meinem Roman „Walpurgistag“ habe ich den Alexanderplatz im Eingangskapitel um Mitternacht des 30. April 2002 zum Schauplatz eines Obdachlosen und zweier Polizisten gemacht. Das war Fiktion. Am 18. März 2020, als ich anfing, den noch ungewohnten Lockdown am Alex zu besichtigen, konnte ich sehen, dass meine Fiktion Wirklichkeit geworden war. Es war nicht einmal 22 Uhr und die Stadt nahezu ausgestorben. Nur ein Obdachloser lag laut schnarchend auf den Stufen unter dem Kaufhausdurchgang in einem Schlafsack, und zwei Polizisten fuhren in ihrem Dienstfahrzeug im Schritttempo zu ihrer Wache, die vor drei Jahren zwischen Weltzeituhr und öffentlichen Toiletten errichtet wurde, weil der Alex plötzlich als Kriminalitätsbrennpunkt galt. Vor allem freitags, wenn die Jugendlichen aus dem Umland kamen, um die Sau rauszulassen. Das kann man sich im Moment nicht vorstellen. Die S-Bahnen und Züge fahren fast leer in den Bahnhof ein und ebenso leer wieder heraus. Auch die Straßenbahnen überqueren den Platz ohne Fahrgäste in ihrem Inneren, nur die Fahrerinnen sitzen verloren in ihren Kabinen.

Am nächsten Abend war der einzige Mensch auf der Welt ein Betrunkener, der beim Schwanken den ganzen Platz einzunehmen schien und dabei etwas zwischen Marseillaise und Eigenkomposition brüllte. Mitternacht kurz vor Ostern war dann gar kein Mensch mehr anwesend, nur das Wasser plätscherte aus dem Brunnen der Völkerfreundschaft. Irgendjemand, vielleicht bei den Wasserwerken, musste die Aufforderung bekommen haben, dass Frühling sei und die Brunnen demzufolge zu laufen haben. Auch wenn niemand bis auf Weiteres dort am Brunnenrand einfach nur sitzen darf.

Nur die Vögel sind zu hören

Ich lebe seit 37 Jahren in Berlin, aber noch nie habe ich auf dem Weg zum Alexanderplatz in der Prenzlauer Allee die blühenden Bäume gerochen. Manchmal ist es sogar tagsüber mangels Verkehrs ganz still, nur die Vögel sind zu hören. Was für einen Krach die machen. Wenn es noch lange so geht, wird auf dem Alexanderplatz ganz ohne Zutun des Menschen ein Heimtattierpark eröffnen können. Mit Füchsen und Rehen und Waschbären und Luchsen, Eichhörnchen, Zaunkönigen und Hufeisennasen. Die Ratten sind nur die Vorhut.

 

Annett Gröschner lebt seit 1983 in Berlin, die meiste Zeit in Prenzlauer Berg. Berlin ist auch das bevorzugte Thema ihrer Bücher. Im Frühjahr erschien „Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten“ bei der Edition Nautilus Hamburg.


Über die Kolumne:

Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.

In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.

Nächste Woche schreibt Ewa Slaska.