Der Kampf um eine neue Verfassung in Chile

Analyse

Die chilenische Zivilgesellschaft hat einen historischen Sieg erreicht: Das Parlament hat den Weg zu einer neuen Verfassung freigegeben. Es ist ein Wendepunkt im Musterland des Neoliberalismus.

Das Bild zeigt protestierende Menschen mit Fahnen in Chile
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Niemals zuvor waren die Bürger/innen Chiles direkt in einen verfassungsgebenden Prozess eingebunden.

Nach massiven Protesten und Demonstrationen, die einen Monat andauerten, hat die chilenische Zivilgesellschaft einen historischen Sieg erkämpft. In den Morgenstunden des 15. November arbeiteten Parlamentarier und Parlamentarierinnen fast aller im Kongress vertretenen Parteien ein Abkommen aus, das den Weg zu einer neuen Verfassung freigibt. Sie könnte die bisher gültige ersetzen, die noch von der Pinochet-Diktatur stammt. 

Eckpunkte des historischen Abkommens vom 15.11.2019

Das Abkommen sieht vor, dass die chilenischen Bürger und Bürgerinnen zunächst in einer Volksabstimmung, die im April nächsten Jahres stattfinden soll, darüber entscheiden können, ob sie die alte Verfassung beibehalten oder eine neue Verfassung wollen. Gleichzeitig werden sie auch über den Mechanismus entscheiden, nach dem die neue Verfassung erarbeitet werden soll, sofern denn die Option der Verfassungsänderung die notwendige Mehrheit der 14,5 Millionen wahlberechtigten Bürger/innen findet. Nach den Ereignissen der letzten Wochen gilt die Verfassungsänderung als wahrscheinlich, auch wenn offen ist, wie sie ausgeht.

Zentrale Forderung der vielfältigen, zumeist friedfertigen und massiven Demonstrationen war der Ruf nach einer neuen Verfassung. Inzwischen haben selbst Teile der politischen Rechten ihre Zustimmung zu einer neuen Verfassung signalisiert, da sie sonst anhaltende Unruhen und weitere negative wirtschaftliche Folgen befürchten. Das in den Morgenstunden ausgehandelte Abkommen schlägt zwei mögliche Mechanismen vor:

  1. ein gemischter Verfassungskonvent, der zur Hälfte aus Parlamentarier/innen und zur Hälfte aus Bürger/innen bestehen und
  2. eine Verfassungsgebende Versammlung, die sich zu 100 Prozent aus Bürger/innen zusammensetzt.

In beiden Fällen werden alle Delegierten in offenen, freien Wahlen – und nicht von Parlament oder Regierung – bestimmt. Sollte die Option der Verfassungsänderung die notwendige Mehrheit finden, so hätte der demokratisch gewählte Konvent maximal ein Jahr Zeit, um die neue Verfassung auszuarbeiten. Alle Artikel bedürften der Zustimmung von zwei Dritteln der Delegierten. Nach der Ausarbeitung durch den Verfassungskonvent, würde die neue Verfassung erneut dem Souverän (d.h. den wahlberechtigten Bürger/innen) zur Abstimmung vorgelegt und, sofern sie mehrheitliche Zustimmung fände, anschließend vom Parlament ratifiziert.

Die Verfassung von 1980: Der Geburtsfehler der chilenischen Demokratie

Niemand hätte es Anfang Oktober für möglich gehalten, dass im angeblich demokratischen Musterland Lateinamerikas eine mäßige Fahrpreiserhöhung von umgerechnet vier Cent für die Metro in der Hauptstadt Santiago eine massive und hartnäckige Protestwelle von Bürger/innen fast aller Schichten und Altersklassen in allen Landesteilen hervorrufen würde, die bis heute anhält und die Eliten zwang, den Weg zur Korrektur des Geburtsfehlers des nachautoritären politischen Systems freizugeben.

Anders als in anderen demokratischen Übergangsprozessen, in denen – wie etwa im Nachbarland Argentinien nach der Niederlage im Malvinas-Krieg - die militärischen Machthaber und deren Anhänger/innen geschwächt aus der autoritären Phase hervorgingen, waren es in Chile Militärs und Eliten, die vom Putsch profitiert hatten, gelungen, die demokratische Machtübergabe aus einer Position der Stärke zu kontrollieren.

Die Opposition musste hinnehmen, dass die 1980 von den Militärs ausgearbeitete und in einem nicht-demokratischen Ratifizierungsprozess angenommene Verfassung weiterhin Gültigkeit behielt. Aus demokratischer Sicht war dies mehr als bedenklich, da die Verfassung eine ganze Reihe von autoritären Enklaven enthielt, so etwa ein wenig demokratisches Wahlsystem, das der Rechten die Wahlchancen mittels eines spezifisch hierfür zugeschnittenen sog. binominalen Wahlsystems, einer Variante des Verhältniswahlrechts mit Zweipersonen-Wahlkreisen, erhöhte; nicht zu vergessen die vom Präsidenten ernannten Senatoren, die ohne demokratische Legitimierung Mehrheiten im Parlament sicherten. Die designierten Senatoren wurden erst im Jahr 2006 abgeschafft.

Wesentlich später noch, bei den letzten Parlamentswahlen vom Oktober 2017, wurde das verzerrende binominale Wahlsystem durch ein gerechteres Verhältniswahlsystem ersetzt. Ein weiterer Streitpunkt war die Kontrolle der Streitkräfte und der uniformierten Polizei durch die demokratisch gewählten Regierungen, die nur langsam erkämpft werden konnte. Die Verfassung war nach dem Willen ihres intellektuellen Vaters Jaime Guzmán so angelegt, dass selbst „wenn die Gegner an die Macht gelangen sollten, sie sich gezwungen sähen, ähnliche Politiken zu verfolgen wie meine eigenen“.

In der Tat sind in der chilenischen Verfassung Reformen zahlreicher Politikbereiche – insbesondere diejenigen, die die Absicherung des Privateigentums und die Einschränkung von sozialen Rechten betreffen – mit hohen Mehrheitsanforderungen von zwei Dritteln oder drei Fünfteln abgesichert. Dies bedeutet in der Praxis, dass wichtige Bereiche der Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik, die in anderen politischen Systemen eher dem normalen politischen Prozess (und einfachen Mehrheiten) vorbehalten sind, durch Sperrminoritäten kontrolliert werden.

Dies ermöglichte es der Rechten in der nachautoritären Zeit, den Status quo – abgesehen von den bereits erwähnten Reformen – weitgehend zu erhalten. Während Indices wie Freedom House oder Bertelsmann Chile regelmäßig Bestnoten hinsichtlich der Einhaltung von zivilen und politischen Rechten innerhalb Lateinamerikas gaben, blieben die strukturellen Einschränkungen der Demokratie durch das mittels Verfassung vorgegebene Institutionengefüge weitgehend aus der politikwissenschaftlichen Debatte ausgeblendet.

Der gescheiterte Verfassungsprozess unter der Präsidentschaft von Michelle Bachelet (2014-2018)

Im nachautoritären Chile wurde das Thema der Verfassungsreform zunächst lediglich von einer kleinen Gruppe von Verfassungsanwälten, linken Intellektuellen und Künstler/innen politisiert. Bereits vor mehr als sechs Jahren hatte die Kampagne „Marca AC“ („Stimme für AC = Asamblea Constituyente“), die darauf angelegt war, die Wahlzettel für die Präsidentschaftswahlen von 2013 mit einer Präferenz für die Verfassungsänderung mittels einer Verfassungsgebenden Versammlung zu markieren, einen Achtungserfolg erzielt. Immerhin 10,3 Prozent der gültigen Stimmen vermerkten AC als Präferenz auf ihren Wahlzetteln.

Während der zweiten Regierung Bachelet wurde ein zunächst hoffnungsvoller Prozess für einen verfassungsgebenden Prozess eingeleitet, an dem Tausende von Bürger/innen organisiert in cabildos (Basisversammlungen) teilnahmen, der dann jedoch in einem Desaster endete: Die Ergebnisse der basisdemokratischen Diskussionsprozesse wurden in einem wenig transparenten Prozess zusammengefasst und in Vorschläge zur Reform der autoritären Verfassung von 1980 umgesetzt. Ferner versäumten es die Organisator/innen, die indigenen Völker in diesen Prozess einzubeziehen, weshalb diese ein Veto gegen den Reformvorschlag einlegten. Mit dem Amtsantritt von Präsident Piñera im März 2018 schien es daher zunächst so, als ob die Hoffnungen auf eine neue Verfassung endgültig zu Grabe getragen worden seien.

Verfassungsgebende Versammlung und neue Verfassung: Die Forderungen der Protestbewegung

Umso überraschender war, dass die Forderung nach einer neuen Verfassung mittels Verfassungsgebender Bürger/innenversammlungen sich als eine der zentralen Forderungen der spontanen, massiven und durch keine Partei oder soziale Bewegung angeführten Massendemonstrationen herauskristallisierte. Bereits in den ersten Demonstrationen, noch während des von der Regierung diktierten Ausnahmezustandes, als die Militärs auf den Straßen patrouillierten, war auf zahlreichen selbst produzierten Plakaten zu lesen: „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre Ungerechtigkeit“, „Wir wollen soziale Gerechtigkeit und eine neue Verfassung“, „Verfassungsgebende Versammlung“.

Forderungen nach öffentlicher und kostenloser Bildung, der Zugang zum Gesundheitssystem, ein gerechteres Rentensystem, Fragen der Geschlechtergerechtigkeit subsumierten sich bald in einem lautstark vorgebrachten kollektiven Wunsch nach einem neuen Gesellschaftsvertrag. Auch als die Regierung – unter dem Eindruck der massiven und nicht nachlassenden Massenmobilisierung, die das gesamte Land umfasste – in Rekordzeit lange blockierte Sozialreformen verabschiedete, ließ sich der Ruf nach einer neuen Verfassung nicht mehr eindämmen.

Die Erhöhung des Mindestlohnes, die Absenkung der Arbeitszeit auf eine 40-Stundenwoche, Nachbesserungen in der Gesundheitsvorsorge und bei der Bedürftigen-Rente wurden mäßig wohlwollend von den Gewerkschaften und zentralen sozialen Bewegungen, wie etwa der Rentenbewegung zur Kenntnis genommen, um gleichzeitig auf der Notwendigkeit von Strukturreformen mittels Verfassungsreform zu beharren.  Während die internationale Presse, wie auch Teile der Rechten in Chile noch der Ansicht waren, dass es insbesondere um Sozialreformen ginge und diese zu einer raschen Demobilisierung der Protestbewegung führen würden, stellten die Demonstrant/innen die Systemfrage und forderten ein Ende des langen Schattens der Diktatur.

Die brutale und systematische Gewalt der chilenischen Sicherheitskräfte

Präsident Piñera reagierte zunächst mit einer Politik der harten Hand auf die Massenproteste. Zwischen dem 18. und 28. Oktober wurde der Ausnahmezustand verkündet und die Militärs auf die Straße geschickt, um die Polizeikräfte zu verstärken. Innerhalb eines Monats wurden mehr als 6.362 Personen verhaftet, bisher starben mindestens 23 Personen bei den Unruhen, fast 2.400 Menschen wurden verletzt, mindestens 222 Demonstrant/innen wurden an den Augen verletzt bzw. verloren ihr Augenlicht gänzlich. Menschenrechtsorganisationen und Vertreter/innen der Ärztevereinigung und der medizinischen Fakultät der Universität von Chile sprachen von einer systematischen Verstümmelung, die der Einschüchterung der Demonstrierenden dienen sollte. Ferner kam es zu zahlreichen sexuellen Übergriffen aus Demonstrant/innen, Vergewaltigungen und anderen Formen der Folter.

Das Nationale Institut für Menschenrechte (Instituto Nacional de Derechos Humanos = INDH) hat bereits 384 Klagen von Menschenrechtsverletzungen seitens der Ordnungskräfte eingereicht. Gleichzeitig sind mehrere internationale Menschenrechtsdelegationen gegenwärtig damit beschäftigt, die gravierenden Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Zwischen dem 18. und 21.11. wird eine Delegation der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) unter der Leitung von Paulo Abrão eine Untersuchung in Chile durchführen. Nach langem Zögern hatte die Regierung Piñera einer Einladung des CIDH zugestimmt.

Dies ist ein positives Zeichen. Denn eine der zentralen Forderungen der Demonstrierenden ist es, dass die massiven Menschenrechtsverletzungen systematisch aufgearbeitet und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. „No a la impunidad“, („Nein zur Straflosigkeit“) steht ganz oben auf dem Forderungskatalog, gleich neben der neuen Verfassung und den Sozialreformen. Letzte Woche hat ein chilenisches Strafgericht in Santiago eine Klage gegen den Präsidenten wegen seiner Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit für zulässig erklärt.

Am 19.11. reichten Abgeordnete der Kommunistischen, der Sozialistischen Partei, der PPD (Partido por la Democracia) und des Frente Amplio eine Verfassungsklage gegen den Präsidenten Piñera ein. Auch wenn derzeit unklar ist, ob sich die notwendigen parlamentarischen Mehrheiten finden werden, um den Impeachment-Prozess erfolgreich durchführen zu können, stellt die Anklage einen weiteren Schlag gegen das national wie international stark beschädigte Image des Präsidenten dar. Einige politische Beobachter/innen zweifeln deshalb derzeit sogar, ob Piñera seine zweite Amtszeit wird beenden können.

Ein historisches Abkommen, das wenig Freude hervorruft

Nachdem die massive Protestwelle auch nach der Ankündigung weitreichender Sozialreformen nicht abebben wollte, sah es am Dienstag letzter Woche zunächst so aus, als ob Präsident Piñera erneut den Ausnahmezustand ausrufen und die Militärs wieder auf die Straße senden wollte.

Zur Überraschung vieler Beobachter/innen, kündigte der Präsident dann jedoch einen Dialog für Frieden, Gerechtigkeit und eine neue Verfassung an, der schließlich in das besagte Abkommen mündete. Anscheinend war bereits ein entsprechendes präsidentielles Dekret vorbereitet, um die Militärs erneut zu mobilisieren, das dann jedoch auf Druck von Teilen der Rechten, die am stärksten mit dem modernen Unternehmertum verbunden sind, wieder einkassiert wurde.

Auch wenn die genauen Hintergründe des historischen Abkommens, das hinter verschlossenen Türen von Regierungs- wie Oppositionsparteien ausgehandelt wurde, (noch) nicht bekannt sind und zu bezweifeln ist, ob die Erfolgsstory wie sie etwa von der Zeitung La Tercera (die von der Bergbaulobby finanziert wird) derzeit verbreitet wird, glaubwürdig ist, lässt sich doch festhalten, dass ein wesentlicher Anschub für das historische Abkommen von diesen Teilen der politischen Rechten kam.

Nachdem der Dollar zeitweilig über die 800-Pesos-Grenze geschossen war und die Börsennotierungen zahlreicher Unternehmen in den Keller fielen, erhöhte sich der Druck aus dem Unternehmertum auf Regierung und Rechtsparteien, einen politischen Ausweg aus der Krise zu suchen. Angesichts der hohen ökonomischen Kosten der massiven und anhaltenden, landesweiten Demonstrationen war ein Teil der Unternehmerschaft bereit, nicht nur bei den Sozialreformen nachzulegen, sondern auch den Widerstand gegen eine neue Verfassung aufzugeben. Entscheidend in den Verhandlungen waren die Abgeordneten Mario Desbordes und Manuel Antonio Ossandón der rechten Partei Renovación Nacional, die eine Brückenfunktion zu den Abgeordneten der Opposition übernahmen.

Obwohl das Abkommen den Weg zu einer Verfassungsreform mittels Verfassungsgebender Versammlung freigab, wurde es von Teilen der Oppositionsparteien (so u.a. den Grünen, der Humanistischen Partei und anderen Teilen des Frente Amplio, von den Kommunisten und der Federación Regionalista Verde Social) sowie von den in der Mesa de Unidad Social zusammengefassten Gewerkschaften und sozialen Bewegungen scharf kritisiert. Aber insbesondere auch aus der Bevölkerung kamen kritische Stimmen, die ihrer Verärgerung darüber Ausdruck verliehen, dass die Parteien, deren Legitimitätswerte derzeit bei bedenklichen neun Prozent liegen, das Abkommen ohne Abstimmung mit den Kräften aushandelten, die es überhaupt erst ermöglicht hatten, den Bürger/innen.

Die Parteienverdrossenheit erklärt sich daraus, dass ein Großteil der heute im Parlament vertretenen Kräfte als Teil der Verteilungskoalition wahrgenommen werden, die sich gemeinsam mit den Unternehmern lukrative Wirtschaftszweige und privatisierte Unternehmen unter sich aufgeteilt haben. Dies gilt nicht nur für rechte Parteien, die dem Unternehmertum nahestehen, sondern für Parteien aller Couleur, mit wenigen Ausnahmen (so etwa dem jungen Frente Amplio). So hat etwa die Sozialistische Partei in Autobahnkonzessionen und in privatisierte Wasserwerke investiert, zahlreiche Christdemokraten verfügen über Wasseraktien.

Während Parlamentier/innen Diäten erhalten, die das Dreißigfache des Mindestlohnes ausmachen, ist ein Großteil der chilenischen Bevölkerung lediglich auf der Basis von Konsumkrediten in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein einziges Lebensereignis wie etwa ein Unfall oder eine chronische Krankheit können dazu führen, dass Familien wieder in die Armut abrutschen. Dies erklärt teilweise die Wucht der Mobilisierungen der letzten Wochen und die Wut, die sich gegen die „politische Klasse“ richtet.

Die zentralen Kritikpunkte am Abkommen vom 15. November

Die ultrarechte republikanische Bewegung des rechtspopulistischen Abgeordneten José Antonio Kast hat bereits angekündigt, die Kampagne des „Nein“ zum Verfassungsprozess anzuführen. Die Rechte wird somit gespalten in die Wahlen zum Verfassungsprozess gehen. Während der Teil des politischen Spektrums, der die moderne, in die internationalen Finanzmärkte integrierte Wirtschaft repräsentiert und eine neue Verfassung unterstützt, mehrheitlich wohl für den gemischten Verfassungskonvent stimmen wird und bereits jetzt die Kräfte bündelt, um die Kontrolle über die Inhalte einer neuen Verfassung zu kontrollieren, beharren Teile der illiberalen Rechten auf dem Fortbestehen der Verfassung des Militärregimes.

Wesentlich komplexer sieht die Lage jedoch im Oppositionslager und in der Zivilgesellschaft aus. Gerade die Protagonisten in denjenigen Sektoren, deren Zustimmung dringend notwendig ist, um die Zustimmung für eine Verfassungsgebende Versammlung zu erhalten, haben sich hinsichtlich der Ergebnisse des Abkommens, das im Morgengrauen von den beteiligten Parteien hinter verschlossenen Türen ausgehandelt worden war, heillos zerstritten.

Dies führte dazu, dass die mehr als 200 in der Mesa Social zusammengefassten Gewerkschaften und sozialen Organisationen, darunter auch der Gewerkschaftsdachverband CUT (Central Unitaria de Trabajadores, das chilenische Äquivalent zum Deutschen Gewerkschaftsbund), die Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten ANEF (Agrupación Nacional de Empleados Fiscales) sowie die Bewegung „No más AFP“ (die den Widerstand gegen das rein kapitalgedeckte Rentensystem bündelt), die Vereinigung der Lehrer und einige feministische Vereinigungen das Abkommen in einer gemeinsamen Erklärung ablehnten.

Die Kritik der Mesa Social konzentrierte sich auf vier Punkte:

  1. das hohe Quorum von zwei Dritteln, das zur Verabschiedung jedes einzelnen Artikels notwendig sein soll und somit der Rechten eine Sperrminorität einräume,
  2. den Ausschluss der Altersgruppe zwischen 16 und 18 Jahren von den Wahlen,
  3. die mangelnde Verankerung der Geschlechterparität bei der Wahl der Delegierten und die Abwesenheit von Quoten für Repräsentant/innen von indigenen Völkern und
  4. die Kontrolle des Auswahlprozesses der Delegierten für die Asamblea Constituyente seitens der Parteien.

Dieser Kritik schlossen sich auch einige Sektoren des Frente Amplio, die Kommunistische Partei und die Federación Regionalista Verde Social an, die dem Abkommen die notwendige demokratische Legitimität absprachen.

Der steinige Weg zur neuen Verfassung

Trotz aller berechtigter Kritik stellt das Abkommen einen historischen Moment in der Geschichte Chiles dar. Niemals zuvor waren die Bürger/innen Chiles direkt in einen verfassungsgebenden Prozess eingebunden gewesen. Ob sich unter diesen Bedingungen die notwendigen Mehrheiten für die Verabschiedung einer neuen Verfassung mittels einer Verfassungsgebenden Versammlung finden werden, ist derzeit noch offen. Während sich bereits deutlich abzeichnet, dass sich der Sektor der modernen Rechten, die in die internationalen Finanzmärkte eingebunden sind, organisiert, um eine möglichst hohe Kontrolle über die Instrumente der Befragung und die Inhalte der Verfassung zu bewahren, verstrickt sich das Reformlager in Grabenkämpfe.

Die Kritik an der mangelnden Beteiligung der zentralen Akteure der Massendemonstrationen und an den Konditionen des Abkommens ist sicherlich in den wesentlichen Punkten berechtigt ist. Die strategisch wenig durchdachte fundamentalistische Ablehnungshaltung einiger Sektoren gegen das ausgehandelte Abkommen könnte jedoch zu einem ernsthaften Problem für die Verfechter/innen der Asamblea Constituyente werden.

Zwar ist derzeit eher unwahrscheinlich, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen eine neue Verfassung aussprechen wird. Die Zustimmungswerte liegen nach den letzten Umfragen bei 82 Prozent. Allerdings ist unter den derzeitigen Bedingungen nicht klar, ob sich die Option „Verfassungsgebende Versammlung“, die sich ausschließlich aus Bürger/innen zusammensetzt, bei den Wahlen im April 2020 durchsetzen wird.

Widerstand gegen das hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Abkommen kommt vor allem von den jungen Feminist/innen und anderen potenziellen jungen Wähler/innen, die zentral für den Erfolg einer Wahlkampagne sind, sich derzeit aber noch in einer expliziten Boykotthaltung befinden. Eine niedrige Wahlbeteiligung und das Wegbleiben junger Wähler/innen, die zentral für den Sieg der Option der Bürgerversammlung sind, könnten zu einem Legitimationsverlust für den Verfassungsgebenden Prozess führen. Um diese Wählergruppen zu motivieren, bedarf es Garantien, dass die Kontrolle der Parteien über den Wahlprozess gelockert, die Geschlechterparität bei der Auswahl der Delegierten garantiert und den indigenen Völkern eine hinreichende Repräsentation eingeräumt wird.

Der Kampf um einen neuen sozial-ökologischen Gesellschaftsvertrag

Neben der Demokratisierung des Wahlprozesses, der Korrekturen bedarf, um die Kandidaturen von unabhängigen Bürger/innen zu stärken und eine hinreichende Repräsentation von Frauen, Minderheiten und indigenen Völkern zu garantieren, wird es auch notwendig sein, bestehende Konfliktlinien zu überwinden, um einen Diskussionsprozess über die grundlegenden Inhalte der neuen Verfassung zwischen den verschiedenen Sektoren zu ermöglichen, die die Protestbewegung im Wesentlichen tragen.

In zahlreichen, spontan aus dem Boden geschossenen cabildos (Basisversammlungen) wird bereits landesweit eifrig diskutiert. Die 150 innerhalb der Plattform SCAC (Sociedad Civil por la Acción Climática) organisierten Umweltorganisationen fordern einen sozial-ökologischen Gesellschaftsvertrag und kritisieren, dass die Linke bisher die Verbindungen zwischen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit übersieht. Der Legitimationsverlust von Teilen der Linken in den Regionen erkläre sich insbesondere aus neo-extraktivistischen Reformprogrammen, die die notwendigen Einnahmen für Sozialreformen aus den Einnahmen der Rohstoffrente finanzieren und somit vorhandene Ungleichheitsstrukturen reproduzieren.

Deshalb fordern die Umweltorganisationen ein grundsätzliches Umsteuern hinsichtlich des Wirtschaftsmodells und der Wirtschaftsverfassung. Es gehe nicht nur darum, das Recht, in einer Umwelt frei von Verschmutzung leben zu dürfen, in der neuen Verfassung zu verankern, sondern auch um den Schutz von Gemeingütern, allen voran des Wassers. Laut einer Studie des World Resources Institute ist Chile unter den weltweit 18 Ländern mit dem höchsten Wasserstress. Um das Wasser, das derzeit fast vollständig privatisiert ist, als Gemeinschaftsgut schützen zu können, bedarf es einer umfassenden Reform der Wirtschaftsverfassung, um zu verhindern, dass die Verfassung weiterhin Privatpersonen zeitlich unbegrenzte Eigentumsrechte auf Wasser zusichert. Insbesondere bedarf es jedoch der Verankerung eines anderen Staatsmodells, das es öffentlichen Institutionen zukünftig ermöglicht, stärker regulierend zum Schutz von öffentlichen und Gemeingütern einzugreifen.

Diese Ansicht wird auch von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen geteilt, die eine eher klassische Sozialagenda propagieren: Das Grundrecht auf Bildung, Gesundheit und ein gerechtes Rentensystem sollten ebenso in der Verfassung verankert werden, wie das Streikrecht und das Recht auf kollektive Verhandlungen, das von der Pinochet-Verfassung grundlegend eingeschränkt wird. Auch hier konzentrieren sich die Vorschläge auf die Stärkung eines regulierenden Staates mit Eingriffsrechten in den Schutz des Privateigentums, wenn dies das Allgemeinwohl fordert.

Die Feminist/innen fordern insbesondere die Abschaffung des antiquierten Frauen- und Familienverständnisses, das von Männern entworfen wurde, die Opus Dei nahe stehen, und eine Stärkung der Geschlechtergerechtigkeit, sowie der Rechte sexueller Minderheiten. Regionalisten und indigene Völker fordern eine Abkehr vom zentralistischen Staatsmodell, eine Stärkung der Kompetenzen der substaatlichen Ebene, die Anerkennung des Prinzips der Multinationalität und der Verankerung von Prinzipien der Selbstverwaltung in der Verfassung.

Wie es weitergehen muss

Die politische Situation in Chile bleibt somit weiterhin spannend. Das historische Abkommen vom 15.11. 2019 hat den Weg für eine demokratische Verfassung grundsätzlich freigemacht. Die Umsetzung dürfte jedoch schwierig werden. Zum einen hat die Rechte bereits wieder damit begonnen, Teile des Abkommens in Frage zu stellen. Sollte der neue Verfassungstext keine Zustimmung von zwei Dritteln der Delegierten finden, so Vertreter von Unión Democrática Independiente, (UDI), Evopoli und Renovación Nacional (RN), würde die Verfassung Pinochets nach wie vor gültig bleiben.

Dies hat bereits scharfe Kritik seitens der Oppositionsparteien ausgelöst, die das Abkommen unterzeichnet hatten. Der Teil der Zivilgesellschaft und der sozialen Organisationen, der dem Abkommen feindselig oder distanziert gegenübersteht, deren Stimmen aber für den Erfolg des Prozesses entscheidend sind, muss davon überzeugt werden, dass ihre Forderungen nach einer gleichberechtigten, transparenten Einbindung in die Entscheidungsprozesse auch ernst genommen und umgesetzt werden.

Dies heißt, dass mindestens folgende Forderungen umgesetzt werden müssen:

  • die paritätische Besetzung der Verfassungskommission
  • positive Diskriminierung für Vertreter/innen indigener Völker
  • Stärkung der Partizipationsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Delegierter ohne parteipolitische Bindung.

Eine aktive Beteiligung der politischen Parteien am verfassungsgebenden Prozess ist zwar dringend erforderlich, Parteien werden jedoch auch von den Bürger/innen – und berechtigterweise – als Teil des Problems und der Verteilungskoalitionen wahrgenommen. Dies erfordert insbesondere im parteipolitischen Lager eine kritische Hinterfragung der eigenen Praktiken und eine ernsthafte Suche nach einem konstruktiven Dialogprozess auf Augenhöhe mit den Wutbürger/innen, die diesen Aufstand wochenlang mitgetragen haben.

Nach den Erfahrungen der letzten Wochen, die in einen kollektiven Lernprozess mündeten, ist nicht davon auszugehen, dass die Konflikt- und Organisationsfähigkeit der Protagonist/innen des Oktoberaufstandes nachlassen wird. Die latente Drohung, das Land jederzeit wieder lahmlegen zu können, dürfte hoffentlich dazu beitragen, dass die Forderungen der Bevölkerung nun auch umgesetzt werden. Neben der Ausarbeitung und Verabschiedung der neuen Verfassung bedeutet dies auch, den sozialen Reformprozess zu vertiefen und die massiven Menschenrechtsverletzungen systematisch aufzuarbeiten.