Proteste in Chile: Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre Ungerechtigkeit

Analyse

Chile befindet sich seit drei Tagen im Ausnahmezustand mit nächtlichen Ausgangssperren. Eine Analyse der gegenwärtigen Lage von unserer Leiterin des Regionalbüros Cono Sur in Santiago de Chile.

Verzicht Piñera
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Cacerolazo - eine lautstarke Form des Protests. Überall gibt es Menschen, die auf leere Töpfe und Pfannen schlagen.

Dies ist der erste Artikel, den ich während einer Ausgangssperre schreibe. Meine Nachbarn im hippen Mittelstandsviertel Barrio Italia, in der chilenischen Hauptstadt Santiago, trotzen der Ausgangssperre. Sie haben sich, wie auch bereits in den drei Nächten zuvor, auf der menschenleeren Straße Salvador versammelt und trommeln seit mehr als einer Stunde auf ihren Kochtöpfen. Topfschlagen ist die traditionelle chilenische Protestform. Es ist 21 Uhr. Zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens wurde seitens der chilenischen Regierung kollektiver Hausarrest angeordnet. Chile befindet sich seit drei Tagen im Ausnahmezustand mit nächtlichen Ausgangssperren. Nach einer Erhöhung der Fahrpreise der Metro um 30 Pesos (umgerechnet weniger als 5 Cent) auf 830 Pesos hat die chilenische Regierung mehr als 10.500 Polizeikräfte und Militärs auf die Straße geschickt, um dem Vandalismus Einhalt zu gebieten, der zahlreiche U-Bahnstationen in der chilenischen Hauptstadt verwüstet und zu Plünderungen und Brandschatzung in mehreren Supermärkten geführt hatte.

Chilenische Zivilgesellschaft solidarisiert sich

Nachdem die Regierung mit unverhältnismäßig brutaler Polizeigewalt gegen Schüler/innen vorgegangen war, die aus Protest gegen die Fahrpreiserhöhungen zum Schwarzfahren aufriefen, Sonderkommandos und Hundestaffeln auf die Kinder und Jugendliche hetzte und ankündigte das Gesetz der inneren Sicherheit anzuwenden, verwandelte sich lange latenter Unmut über die krassen sozialen Ungleichheiten und die mangelnde Bereitschaft breiter Kreise der politischen Eliten, diese zu bearbeiten, in offene Rebellion. Die sonst eher „zahme“ und regelkonforme chilenische Zivilgesellschaft solidarisierte sich nicht nur mit den Schwarzfahrer/innen, sondern blies auch zum konzertierten Angriff auf die Privilegien der ökonomischen und politischen Eliten, die lediglich ein Prozent der Bevölkerung umfassen, aber ein Drittel aller Einkommen auf sich vereinigen. Mehr als die Hälfte aller Chilen/innen verdient gerade einmal 400 000 Pesos monatlich oder weniger, das sind umgerechnet ca. 500 Euro. Das reicht bei weitem nicht, um die hohen Kosten für das privatisierte Bildungs- und Gesundheitssystem zu tragen. Strom- und Wasserpreise sind im regionalen Vergleich extrem hoch. Ein Großteil der Chilen/innen ist hoch verschuldet, weil die geringen Einkommen nicht ausreichen, um die Lebenshaltungskosten zu decken.

Forderungen nach Reformen wurden von den politischen und ökonomischen Eliten in feudaler Gutsherrnmanier blockiert: die Forderungen der Generation der Studierendenrevolte von 2011 nach kostenloser, öffentlicher Bildung ebenso wie die Forderungen nach Reformen des Gesundheits- und Rentensystems. Neben der hartnäckigen Blockade notwendiger Sozialreformen, waren es auch die Arroganz und Doppelmoral der Oberschicht die zu einer Überwindung der Fragmentierung der Zivilgesellschaft auf der Basis des geteilten Zorns führte: Während die jugendlichen Schwarzfahrer wegen geringer Geldsummen wie Schwerverbrecher behandelt wurden, blieben groß angelegte Steuerhinterziehungen seitens der Oberschicht weitgehend ungeahndet, bzw. lediglich mit der Auflage des Besuchs von Ethikunterricht verbunden.

Friedliche Demonstration neben Vandalismus

Als die Regierung am Wochenende die Rückkehr der Preiserhöhungen ankündigte, war es bereits zu spät. Eine Minderheit der Chilen/innen hatte ihrem Unmut über die krassen Ungleichheiten in blinder Zerstörungswut Luft gemacht. Der Vandalismus gegen das Metrosystem Santiagos ist weniger Ausdruck mangelnder Rationalität der Hooligans, kein Betriebsunfall, sondern die traurige Konsequenz neoliberaler Sozialisierung, die öffentlichen Gütern nur geringen Wert beimisst. Weitaus gefährlicher für die kleptokratischen und wenig egalitären Grundzüge des chilenischen politischen Systems dürfte jedoch die große Mehrheit der Demonstrierenden sein, die zwar friedlich, aber nachdrücklich, weitreichende Strukturreformen und einen neuen Sozialvertrag einfordert.

Die Regierung reagierte auf das politische Problem zunächst mit militärischen Maßnahmen: Am Wochenende ließ der Präsident ein Pressefoto veröffentlichen, in dem er in martialischer Pose im Kreise seiner Minister, Militärs und Polizeikräfte Dekrete unterzeichnet, die die demokratische Grundrechte einschränken. „Wir sind im Krieg mit einem mächtigen, unerbittlichen Feind, der nichts und niemanden respektiert und bereit ist, Gewalt und Verbrechen ohne jegliches Limit anzuwenden“. Dies rief, insbesondere in der älteren Generation der Chilen/innen, Erinnerungen an die Pinochet-Diktatur und die Konstruktion des „inneren Feindes“ wach: anstelle des Kommunismus nun das organisierte Verbrechen oder die Bandenkriminalität, ohne dass hierfür konkrete Anhaltspunkte vorliegen.

Harte militärische Maßnahmen

Der für die Sicherheit Santiagos zuständige General Javier Iturriaga hatte am Montagmorgen einen besonneneren Ton angestimmt und den Ausführungen des Präsidenten in offener Rebellion widersprochen. Iturriaga erklärte, dass er ein glücklicher Mann sei, der sich mit niemandem im Krieg befinde. Nachmittags musste er diese Aussage jedoch relativieren, um sich den Forderungen des Präsidenten nach einer harten Hand und militärischen Lösungen anzuschließen. Das harte Durchgreifen von Polizeikräften und Militärs forderte bereits fünf Todesopfer, weitere zehn Personen kamen bei Bränden, vermutlich verursacht durch Plünderungen ums Leben. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH = Instituto Nacional de Derechos Humanos) gibt es 123 Verletzte aufgrund von Schusswechseln, 1692 Personen wurden festgenommen. Es kam zu mehreren Fällen von Übergriffen – auch sexueller Gewalt – gegen Festgenommene. In den sozialen Netzwerken kursieren zahlreiche Amateurvideos, die zeigen, wie die Militärs hart gegen Demonstrierende vorgehen und auch auf diejenigen schießen, die unbewaffnet sind und keine Gewaltbereitschaft zeigen.

Die Verhängung des Ausnahmezustands und der Einsatz der Militärs haben den Zorn der Bürger/innen weiter angestachelt. Am Wochenende haben zahlreiche Demonstrant/innen auf zentralen Plätzen Santiagos die Militärs aufgefordert, in ihre Kasernen zurückzukehren. Ein junger Mann, der sich direkt vor einen Panzer gestellt hatte, schrie: „Geht nach Hause, zu Euren Familien. Lasst Euch nicht wieder benutzen, wir sind ein Volk, wird sind alle Chilenen“. Eine junge Frau riet den Militärs, mehr zu lesen, sich zu bilden, um besser über die Hintergründe des Protestes informiert zu sein. Andere Demonstrant/innen trugen Fotos von Verschwundenen bei sich und konfrontierten die Rekruten mit der wenig rühmlichen Rolle der Streitkräfte als Gehilfen der Wirtschaftseliten während der Militärherrschaft. Am Sonntag organisierten besorgte Bürger/innen ein spontanes Familienfest auf der Plaza Ñuñoa, an der sich Tausende von friedlichen Demonstrant/innen beteiligen. Zahlreiche Künstler/innen und Musiker/innen haben sich mit den Forderungen der Teilnehmer/innen solidarisiert: Es geht nicht um 30 Pesos, sagen die Plakate und Spruchbänder, es geht um 30 Jahre sozialer Ungerechtigkeit und um 30 Jahre verletzte Würde.

Zentrale Forderungen sozialer Gerechtigkeit

Die Demonstrant/innen fordern ein Ende der Privatisierung von öffentlichen Gütern wie Bildung und Gesundheit, ein faires Rentensystem sowie bezahlbaren Wohnraum sowie Zugang zu Wasser als Menschenrecht, das während der Militärherrschaft fast vollständig privatisiert wurde. Das, was Parteien und Führer/innen sozialer Bewegungen in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen war, hat nun die Empörung über eine eher marginale Fahrpreiserhöhung bewirkt: die fragmentierten Gruppen der Zivilgesellschaft in einer gemeinsamen, von allen Gruppen geteilten, politischen Agenda zu einen. Ein neuer Sozialvertrag und eine neue Verfassung sind die zentralen Forderungen der Demonstrant/innen in Ñuñoa, aber auch an anderen Orten der Hauptstadt Santiago und zahlreichen anderen Städten Chiles, auf die die Protestwelle überschwappte. Auffällig ist ferner, dass der Protest weder von den politischen Parteien noch von den Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen angeführt wird. Treibende Motoren des Protestes sind vielmehr eine große Anzahl von Wutbürger/innen unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Couleur.

Während eine Minderheit von gewaltbereiten Hooligans und Anarchist/innen nennenswerte Sachschäden in der Höhe von schätzungsweise 200 Millionen Euros verursachten, fordert das Gros der friedlichen Demonstrant/innen einen Abbau der eklatanten sozialen Ungerechtigkeiten, die von den nachautoritären Regierungen eher perpetuiert, denn abgebaut wurden. Dies umfasst auch eine Kritik am Wirtschaftsmodell, das auf gnadenlosen Rohstoffabbau ausgerichtet ist und die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten weiter verschärft. Besonders deutlich zeigt sich das am Kampf um das Grundrecht auf Wasser, das in dem Land, das von wachsender Trockenheit betroffen ist, zu einem knappen Gut wurde, dessen Preis jedoch – nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage festgelegt wird.

Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell grundsätzlich in Frage gestellt

Spannend an der aktuellen Protestbewegung ist die Tatsache, dass sie alle Altersklassen und Bevölkerungsschichten umfasst: die Forderungen der eher Jüngeren nach dem Grundrecht auf Bildung, die Forderungen der älteren Generationen nach gerechten Renten, die Sorge der ländlichen Bevölkerung um den Zugang zu Wasser, die Sorge der städtischen Bevölkerung um bezahlbaren Wohnraum und das grundsätzliche Problem unzulänglicher und teurer Gesundheitsversorgung. Gefährlich für die gegenwärtige Regierung unter Präsident Piñera, einem millionenschweren Unternehmer, ist vor allem die Tatsache, dass anders als bei den Protestwellen zuvor nicht nur begrenzte, sektorale Forderungen erhoben werden, sondern das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell grundsätzlich in Frage gestellt und weitreichende Reformen zum Abbau sozialer und ökologischer Ungerechtigkeit gefordert werden.

Der derzeitige Konflikt hat somit politische Ursachen und bedarf politischer Lösungsansätze, die alle beteiligten Akteure an einen Tisch bringen müssen. Die Unternehmerschaft, die angesichts des präzedenzlosen Paktes zwischen Mittel- und Unterschichten um den Privilegien- und Kontrollverlust fürchtet, sieht das, die Falken in der Regierungsmannschaft blieben tagelang blind und taub. Gerade das Trommelkonzert meiner zornigen Nachbar/innen aus dem Bildungsbürgertum zeigt wie brenzlig die Lage für die privilegierten Oberschicht ist, die lediglich 1% der Bevölkerung ausmacht, aber 33% der Einkommen auf sich vereinigt. No country for (white) old men, spottete ein anonymer Regierungsvertreter in Anlehnung an den Kinofilm der Brüder Coen gestern in der Online-Zeitung El Mostrador.

Nicht die lapidare Fahrpreiserhöhung, sondern die systematische Plünderung öffentlicher und Gemeingüter seitens der ökonomischen und politischen Eliten hat den Volkszorn hervorgerufen. Der millionenschwere Unternehmer Andrónico Luksic hat bereits vor Tagen die planlose Regierung zum Handeln aufgefordert: “Die politische Klasse, kann das Problem der Renten, der Bildung, der Gesundheit und des öffentlichen Transportsystems heute lösen. Worauf warten sie. Jetzt müssen wir handeln, nicht morgen. Viele Mitbürger können nicht mehr warten. Und diejenigen, die in der Lages sind, müssen helfen, die Rechnung zu zahlen“. Bloomberg kritisierte Präsident Piñeras Haltung als “kompromisslos”. Ein populärer CNN-Journalist führte die Krise auf crony capitalism zurück: Wenige Familien des Landes haben Marktsektoren unter sich aufgeteilt und sichern sich durch unlautere Absprachen Renten weit über den Marktpreisen. Dies ist vor allem bei Toilettenpapier, Hühnchenfleisch und Medikamenten an Tag gekommen. Javier Ruiz-Tagle von der Universidad de Chile schätzt die Verluste der Staatskasse durch Preisabsprachen und Steuerhinterziehung auf ca. 4,9 Mrd. US $.

Gefahr vs. Hoffnung

Nach fünf Tagen reagierte der Präsident inzwischen und kündigte am Dienstagabend eine Reihe von Sozialreformen im Gesundheits- und Rentenbereich und die Rücknahme der Erhöhung der Energiepreise an. Ob dies das breite Bündnis der Protestierenden besänftigt, bleibt abzuwarten. Für Mittwoch hat der Gewerkschaftsdachverband Central Unitaria de Trabajadores (CUT) zu einem Generalstreik aufgerufen. Chile durchlebt derzeit einen historischen Moment seiner nachautoritären Geschichte, der die Gefahr einer blutigen autoritären Regression birgt, jedoch auch die Hoffnung eines demokratischen Aufbruchs auf der Basis eines neuen Sozialpakts.