Sprüche klopfen – Flagge zeigen

Rückblick

Die Zeit vor dem 9. Novemeber 1989, in der aus Bettlaken Transparente geschnitten, Plakate gemalt, Verkehrsschilder umgearbeitet oder Kleidungsstücke und Winkelemente in neue Flaggen umgewidmet wurden. Transparente in Berlin zur Friedlichen Revolution und danach.

Spruchband: SCHLUSS MIT DEM DFD

Im Herbst 1989 schloss ich mich der Unabhängigen Frauenbewegung in Berlin an. Ich hatte vorher beim Neuen Forum vorbeigeschaut und die Texte der linken Böhlener Plattform, wie auch einiger anderer Initiativen, mit Interesse gelesen, aber die Sache der Frauen schien mir wichtiger. Die DDR war ein von alten Männern regierter patriarchaler Staat, der Frauen ab und an mit Geschenken ruhig stellte, damit sie noch besser funktionierten – daran sollte sich schleunigst etwas ändern. Die Bewegung der Frauen nahm, wie alles in dieser Zeit, rasch an Fahrt auf. Wir waren auf einmal viele. Und bald ging es vor allem darum, was wir zu sagen hatten und wie wir gedachten, es unter die Leute zu bringen. Drei Sachen machten, neben dem Politischen und dass ich geübt war im Schreiben, meine Mitarbeit wertvoll. Ich hatte eine Nähmaschine, jede Menge Bettlaken aus meiner Kleiderproduktion, mit der ich mir mein Studium finanzierte, und ich kannte einen mit einem aus dem Westen geschmuggelten Atari-Computer und angeschlossenem Nadeldrucker – Goldstaub zu einer Zeit, als alles, was man inoffiziell zu sagen hatte, mit fünf Durchschlägen auf der Schreibmaschine abgeschrieben werden musste.

Ich erinnere mich aber, in Berlin Spruchbänder erst auf der Demonstration am 4. November gesehen zu haben, bei den Protesten zum 40. Jahrestag gab es noch keine und auch auf einer unangemeldeten Demo in den Tagen danach, die von der Prenzlauer Allee zum Zentralkomitee der SED im Regierungsviertel ging und auf der ich mitlief, waren es nur Sprechchöre, die gerufen wurden. Mit Transparenten in der Hand ließ sich schlecht wegrennen. In Plauen, wo am 7. Oktober die erste Großdemonstration, noch ohne Kameras aus dem Westen, stattfand, gab es die ersten, mit Nitrofarbe bemalten Bettlaken („Für Reformen und Reisefreiheit gegen Massenflucht. Vor allem Frieden“), die sich bei Gefahr im Verzug schnell zusammenknüllen ließen. In Leipzig tauchten Transparente in größerer Zahl erst am 16. Oktober auf.

Die Demonstration am 4. November 1989 in Berlin

Als ich vor zehn Jahren für einen Text über den 4. November 1989 in Berlin Leute befragte, die bei der von Theaterschaffenden initiierten Protestkundgebung mit dabei waren, schrieb mir einer: „Gegen fünf Uhr am Nachmittag des 3. November versammelten sich Freunde bei mir, wir zogen mein Laken vom Bett, nähten ein anderes daran, schnitten ‚Luftlöcher’ – das hatten wir auf Demos im Westfernsehen so gesehen – hinein und malten mit Hingabe bis etwa gegen vier Uhr morgens den Spruch: "Für eine sozialistische deutsche Räterepublik - bildet Räte". Genau so haben wir es auch gemacht, ein paar Straßen weiter und ohne uns abzusprechen. Auf unserem Laken stand: Schluß mit dem DFD – DIENSTBAR FOLGSAM DUMPF. Der Spruch bezog sich auf die einzige in der DDR zugelassenen politische Frauenorganisation, die in den 1980er Jahren nur noch ein braves Anhängsel der SED war. Wir ahnten nicht, in wie vielen Wohnungen an diesem Tag gemalt und geschrieben wurde. Einer meiner Lieblingsfilme in den 1980er Jahren war Istvan Szabos „Budapester Legende“ von 1977, der eine Gruppe begleitet, die unmittelbar nach Kriegsende unter Mühen einen kaputten Straßenbahnwagen wieder auf die Gleise stellt, und als sie in Budapest ankommt, von allen Seiten Straßenbahnwagen von Menschen herangeschoben werden. So ähnlich war es auch am 4. November 1989. Man ging allein aus dem Haus, dann bildeten sich kleine Grüppchen, an der nächsten Straße war es schon eine Menge, die in eine Richtung unterwegs war, bis, in der Nähe des Alexanderplatzes angekommen, aus allen Straßen Menschen strömten – mit selbstgemalten Transparenten, Plakaten, umgearbeiteten Verkehrsschildern, umgewidmeten Kleidungsstücken und Winkelementen. Über eine halbe Million Menschen. Es waren nicht die Reden auf der Kundgebung, die in Erinnerung blieben, es war dieser Moment des Anfangs, die Souveränität der Sprache, die Individualität jeder einzelnen Forderung, der Witz und die Ironie. Es war diese Masse aus souveränen Individuen ohne Angst. Ein Moment, in dem alles möglich schien. Eine „vielen Teilnehmern das einzige Mal lebendig gewordene Erfahrung, daß Einigkeit stark macht, wo sie aus dem freien Willen der Einzelnen entspringt.“

Es war eine so gelöste und fröhliche Atmosphäre, dass ich lange Zeit dachte, es wären Altweibersommertemperaturen gewesen an dem Tag. Aber das stimmt nicht. Der Wetterdienst verzeichnet als Tagesmittel nur 9,2 Grad, die Sonne schien insgesamt zehn Minuten und 2,3 mm Regen fielen in den in 24 Stunden. Fünf Stunden lang war das Volk der Souverän.

Auf manchen Transparenten standen ganze Romane in viel zu kleiner Schrift. Es gab Karikaturen, in Erinnerung blieb, auch weil das Foto davon immer wieder Texte über den 4. November illustriert: Egon Krenz als Wolf im Kostüm der Großmutter im Bett und das Volk als Rotkäppchen fragt: „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“ Es gibt Sprüche, die muss man heute erklären, weil sie nur aus dem Moment heraus funktionierten: „Wer Peking lobt, soll hier nicht wenden“ zum Beispiel. Es gab auch sich widersprechende Forderungen:

„Stasi in die Produktion“ lief neben „Stasi raus aus den Betrieben“.

Sehr lustig und oft interpretiert wurde ein Riesentransparent mit der Aufschrift: „Wir sind das Volk.“ Und daneben ein Mann mit mit einem Schild: „Ich bin Volker“.

Es gibt Forderungen, die sind zeitlos geblieben: „Skepsis bleibt Bürgerpflicht!“ Oder Klassiker, wie: „Keine Macht für niemand.“ „Kein Wachstum ohne Vernunft“ mit der Zeichnung eines Kopfes, dessen Gehirn eine Baumkrone bildet, würde auch heute noch gut an die Fassade der Heinrich-Böll-Stiftung passen.

Und dann gibt es Sprüche, die inzwischen von der rechten AfD gekapert wurden, die seit einiger Zeit versucht, die Forderungen der Wendezeit für ihre zum Teil rechtsradikalen und rassistischen Zwecke zu missbrauchen.

Die Forderung „Stopt DDR-Neonazis“ gehört nicht dazu. Auch nicht: „Gemeinsames Spiel und Lernen für gesunde und behinderte Kinder! Schranken weg!“ oder „Macht Mißbrauch unmöglich“. „Privilegien weg“ dagegen schon. Und fast alle Sprüche, in denen Volk vorkommt, bis auf: „Wir sind ein blödes Volk“, 1990 an einer Mauer in der Dunckerstraße verewigt.

Was die Forderung nach der Abschaffung des Patriarchats anging, waren unsere Karten schon damals nicht die besten. In der Chronik der „Lila Offensive“ heißt es über den 4. November: „Ihre Rufe ‚Frauen in die Offensive’, ‚Frauen in die Politik’ wurden belächelt, beklatscht, mit Erstaunen und Unverständnis quittiert. Wie auch die Verteilung der Flugblätter ausschließlich an Frauen Reaktionen von Arroganz bis Anfeindung hervorriefen. Die Frauen waren überrascht, viele angenehm, andere schimpften gereizt: ‚Wir sind emanzipiert’. Ein beschlipster Dialogist suchte gar die Aufmüpfigen zur Raison zu bringen: Es ginge hier um anderes! ‚Ja, um Meinungsfreiheit’, war die Antwort!"

Was aus den Forderungen auf dem mit Nadeldrucker vervielfältigten Flugblatt wurde, habe ich in meinem Beitrag "Die Frau vorm Rathaus" vor fünf Jahren beschrieben.

Ironie der Geschichte unseres Transparentes gegen den Demokratischen Frauenbund Deutschlands ist, dass der im Dezember 1989 von uns gegründete Unabhängige Frauenverband sich bis auf ein paar Splittergruppen schon Mitte der neunziger Jahre auflöste, der DFD als dfb aber bis heute existiert und vorwiegend Sozial- und Projektarbeit für Frauen macht.

Unsere Transparente wurden zu Objekten der Geschichte. Versehen mit einer Objektnummer sind sie heute im Deutschen Historischen Museum verwahrt.

Was sich heute, dreißig Jahre später, schwer beschreiben und noch schwerer an einer Fassade darstellen lässt, ist, dass ein Tag im Oktober oder November 1989 so lang sein konnte wie eine Epoche. Manchmal entschieden Stunden, ob jemand zu früh mit seinem Einspruch kam oder zu spät. Dass die Friedliche Revolution und der Mauerfall nicht deckungsgleich sind, auch wenn das nicht wenige gerne hätten, muss alle fünf Jahre wieder neu in Erinnerung gerufen werden. Die deutsche Einheit war an dem 4. November 1989 keine Forderung und zu dieser Zeit auch auf den Montagsdemos in Leipzig nicht. Noch nicht einmal die Mauer sollte verschwinden. Es ging um ungehinderte Reisefreiheit, das ja. Fünf Tage später sah das anders aus.

Eine Desillusionierung in Transparenten

Wenn ich unsere Transparente ansehe, die danach kamen, dann lässt sich die schleichende Desillusionierung darin im Nachhinein gut erkennen. Bei der Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes ist das Happening, das diese Veranstaltung war, auf dem Riesentransparent verewigt, dass an der Fassade der Volksbühne hing: „Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd.“ Es war sehr bunt, erinnere ich mich dunkel, aber es gibt nur Schwarzweißfotos davon. Danach wurden wir ernster. Bei der zusammen mit der Kirche von Unten, der Initiative Frieden und Menschenrechte, den Grünen, der Vereinigten Linken, dem Neuen Forum und Demokratie jetzt initiierten Kundgebung „Für den Erhalt der Souveränität der DDR. Gegen Ausverkauf und Wiedervereinigung!“ anlässlich des Besuchs des Bundeskanzlers Helmut Kohl in Berlin am 19.12.89 hieß unser Transparent:

„Lila statt braun – Rechtsruck ohne Frauen“.

Die Forderung ist zeitlos geblieben, leider.

Mit dem zweiten Transparent „Abtreibung der Frauenfrage?“ sahen wir schon voraus, was uns die nächsten Jahre beschäftigen und somit unsere Kraft binden würde: Der Kampf gegen die Wiedereinführung des § 218. Unser bestes Transparent, von befreundeten Männern der „Lila Offensive“ initiiert, gemalt und durch die Stadt getragen ist vom 16.6.1990:

„Bumsen, Abspritzen, sich verpissen, aber §218 wollen.“

Wir verloren diesen Kampf, genauso wie den unbedeutenderen, aber nicht unwichtigen, gegen die Umbenennung der Clara-Zetkin-Straße in Berlin. Das Transparent, das wir für die Demonstration im Mai 1994 in unserer Frauen-WG zusammennähten und beschrieben, wand sich am Ende durch die ganze Wohnung. Es waren dreißig Meter mit einem Satz Clara Zetkins aus dem Jahr 1889, der angesichts der Frauenarbeitslosigkeit und der zynischen Annahme der konservativen Politiker*innen, die Ostfrauen würden ihre „übertriebene Erwerbsneigung“ auch noch loswerden, in dieser Zeit hochaktuell war: "Die Frauenarbeit abzuschaffen oder auch nur beschränken zu wollen, das läuft daraus hinaus, die Frau zu dauernder ökonomischer Abhängigkeit, zu gesellschaftlicher Knechtung und Ächtung, zu Prostitution inner- und außerhalb der Ehe zu verurteilen.“

Eine andere Forderung hatte ich längst vergessen. Am 8. März 1990 schrieben wir:

„8. März - arbeitsfreier Feiertag für Frauen!“

29 Jahre später haben wir ihn in Berlin bekommen. Da hatten die meisten von uns es längst vergessen. Nur wenige hatten einen Fotoapparat oder einen Sinn fürs Dokumentieren. Wir lebten damals so sehr im Jetzt, wie vorher nie und später kaum je wieder.


Bis zum 10. November läuft die Video-Installation „Ab sofort!“ mit ausgewählten Parolen auf der Südfassade der Heinrich-Böll-Stiftung anlässlich des 30. Jahrestages der Friedlichen Revolution.

Sie ist täglich von 17.30 Uhr bis Mitternacht frei zugänglich zu sehen.