Geschlechtersensible und akteurszentrierte Ansätze in der NS-Forschung

Zur Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gehört u. a. das zentrale Frauen-Konzentrationslager des NS-Regimes.
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Der Zellenbau des ehemaligen Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück in Brandenburg

Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 28. Arbeitstreffens Forschungen zum Konzentrationslager Ravensbrück diskutierten in Berlin neue Ansätze in der NS- und KZ-Forschung, die die Kategorie Geschlecht und die Überwindung einfacher Täter-Opfer-Dichotomien ins Zentrum rücken.

Die Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungsfragen zur Geschichte und Rezeption des zentralen Frauen-Konzentrationslagers des NS-Regimes, Ravensbrück, ist Anliegen des seit 1997 stattfindenden interdisziplinären Treffens. Ziel ist es, den Austausch zwischen Gedenkstättenmitarbeiter/innen und wissenschaftlich Forschenden zu vertiefen und die Ergebnisse theoretischer und empirischer Studien so für Ausstellungs-, Forschungs- und pädagogische Projekte fruchtbar zu machen.

Im Mittelpunkt der Tagung am 10. und 11. Juni in den Räumlichkeiten des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide standen geschlechtersensible und akteurszentrierte Ansätze der NS- und KZ-Forschung. Die Organisator/innen reagierten damit auf die aktuellen Arbeiten zum Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, deren theoretische und methodische Ansätze von den Teilnehmenden der Tagung diskutiert und auf ihre Anwendbarkeit für laufende oder geplante Projekte überprüft werden sollten. Deutlich wurde, dass neben der kritischen Analyse historischer Geschlechterkonstruktionen zunehmend eine Forschungsperspektive zur Anwendung kommt, die historische Akteur/innen und ihre Handlungsräume zum Ausgangspunkt der Untersuchung macht.

So haben sich einfache Täter-Opfer-Dichotomien oder starre organisations- und strukturgeschichtliche Modelle in der NS-Historiographie nicht bewährt. Vielmehr werden heute auch Gruppen wie die Konzentrationslager-SS und die KZ-Häftlinge eher als Akteur/innen in einem sozialen Raum begriffen, der zwar durch Machtasymmetrien und Gewaltverhältnisse geprägt war, dessen Konturen sich aber als durchaus flexibel erwiesen.

Die Rolle von Frauen im Nationalsozialismus

Der Keynote-Vortrag am ersten Tag des Arbeitstreffens war dem geschlechterhistorischen Thema gewidmet. Die Soziologin Christina Herkommer (Berlin) referierte über „Geschlechterbegriffe in der NS-Frauenforschung“. Sie zeichnete zunächst die durch die Frauenbewegung initiierten wissenschaftlichen und politischen Debatten um die Rolle von Frauen im Nationalsozialismus nach. Auch die Frauen- und Geschlechterforschung habe sich lange schwergetan mit der Analyse der Verstrickung von Frauen in den Nationalsozialismus, so Christina Herkommer. So seien Frauen zunächst nur als Opfer wahrgenommen worden, die – mit Ausnahme der „Extremtäterinnen“ – von männlich dominierten Machtbereichen komplett ausgeschlossen gewesen seien.

Erst ab Mitte der 1980er Jahre habe sich die historische Analyse mehr und mehr auch den nationalsozialistischen Täterinnen zugewandt, was jedoch keineswegs unumstritten gewesen sei. Die NS-Forscherin Gisela Bock habe für die teils heftigen Auseinandersetzungen unter Feministinnen um weibliche Täterschaft gar den Begriff „Historikerinnenstreit“ geprägt.

Dass Frauen sich in vielfältiger Weise am Nationalsozialismus beteiligt hätten, stehe heute außer Frage, so Christina Herkommer. Vielmehr gehe es in aktuellen Forschungsarbeiten zum NS vermehrt um eine Analyse der gesellschaftlichen, immer wieder neu herstellten Vorstellungen von Geschlecht.

Geschlecht strukturiert mediale Berichterstattung

Christina Herkommer hatte in ihrer Anfang dieses Jahres veröffentlichten Dissertation die Berichterstattung der Wochenzeitschrift SPIEGEL über Frauen und Nationalsozialismus untersucht. Sie wählte dazu rund 500 Artikel aus, die im SPIEGEL zwischen 1947 und 2010 veröffentlicht worden waren und in denen deutsche Frauen im Zusammenhang mit NS-Ereignissen auftauchten. Geschlecht, so die Referentin, fungiere in den von ihr untersuchten Berichten keineswegs als neutrale Kategorie.

So schrieben SPIEGEL-Journalisten beispielsweise über deutsche NS-Täterinnen derart, dass diese als Abweichung von „normaler Weiblichkeit“ erschienen – etwa, wenn es um die deviante Sexualität der Frauen ging, über die in den Artikeln berichtet wurde.

Auf der anderen Seite komme den Frauen in der SPIEGEL-Berichterstattung auch eine erinnerungsrelevante Funktion zu: Geschlechterzuschreibungen, so die Referentin, würden auch als Entschuldungsstrategie genutzt. Die deutsche Frau und Mutter fungiere im SPIEGEL gewissermaßen als Sinnbild für die vermeintliche Schuldlosigkeit der Deutschen im Zusammenhang mit Ereignissen wie dem Bombenkrieg oder Flucht und „Vertreibung“ am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Bezeichnend sei insgesamt, dass sich die Art und Weise, wie Geschlecht die Berichterstattung strukturiere, über die Jahrzehnte kaum verändert habe. Auch hätten die wissenschaftlichen Fortschritte der Frauen- und Geschlechterforschung in den Artikeln des SPIEGEL keinen Niederschlag gefunden.

Das Konzentrationslager als „sozialer Raum“

Der zweite Tag begann mit einem Keynote-Vortrag von Veronika Springmann (Berlin). Die Historikerin umriss den „Akteursbegriff in der Geschichtswissenschaft“ und diskutierte seine Anwendung im Feld der NS- und KZ-Forschung. Akteurszentrierte Ansätze widmeten sich demnach dem Spannungsfeld von Individuum, Struktur und Handlung. Ausgehend von Marx‘ Diktum: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“, gelte es, die konkreten historischen Möglichkeitsräume zu eruieren, in denen sich Subjekte ermächtigen könnten, um Handlungsfähigkeit zu erlangen.

In diesem Sinne, so Veronika Springmann, sei auch das Konzentrationslager als „sozialer Raum“ zu verstehen, in dem Akteure durchaus auch ihre eigenen Motive verfolgt hätten. Dieser Ansatz habe sich in der Täterforschung bereits weitgehend durchgesetzt. Mit Blick auf die NS-Opfer sei jedoch noch immer das Vorurteil vom „ohnmächtigen Opfer“ virulent. Verhaltensweisen und Praktiken von KZ-Häftlingen würden etwa, so die Referentin, zumeist noch dichotomisch als „Selbstbehauptung“ oder „Anpassung“ gefasst. Doch sei auch in Situationen extremer Machtungleichheit unter bestimmten Bedingungen Handlungsfähigkeit jenseits dieser beiden Pole herstellbar.

Veronika Springmann nannte das Beispiel von männlichen Konzentrationslagerhäftlingen, die innerhalb des Lagers Fußballspiele veranstalteten. Eine solche Praxis sei deswegen durchsetzbar gewesen, weil die Gefangenen – vor allem privilegierte Funktionshäftlinge, die von der SS mit Verwaltungs- oder Leitungsaufgaben betraut waren – sowohl untereinander, als auch mit den Aufsehern gut vernetzt gewesen seien. Diesen Vorteil hätten die Häftlinge zu ihrem eigenen Nutzen – in diesem Fall der sonntäglichen Rekreation beim Sport – einsetzen können. Solche Praktiken im Zusammenhang mit den jeweils konkreten Motivlagen der Akteure zu analysieren, sei allerdings nicht zuletzt aufgrund der moralischen Kontamination des Nationalsozialismus schwierig.

Nächstes Arbeitstreffen im Juni 2017

Weitere Themen des 28. Arbeitstreffens waren die Situation von Kindern im Konzentrationslager, die Geschichte der in der britischen und französischen Besatzungszone durchgeführten Nachkriegsprozesse gegen Täterinnen und Täter des KZ Ravensbrück und die Selbstzeugnisse von Porajmos-Überlebenden, den Überlebenden des Völkermords an den europäischen Roma. Auch aktuelle Forschungs- und Ausstellungsprojekte, etwa zu den landwirtschaftlichen Versuchsgütern des KZ Ravensbrück, zur Zwangsarbeit für die Firma Siemens im Lager oder zu den polnischen Gefangenen, der größten Ravensbrücker Haftgruppe, wurden vorgestellt.

Das 29. Arbeitstreffen zum Konzentrationslager Ravensbrück wird voraussichtlich im Juni 2017 stattfinden.