Wie ein Besuch im Gefängnis

Zerstörter Straßenzug in Shujaiyya, Gaza
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Zerstörte Häuser in Shujaiyya, Gaza im Oktober 2014

René Wildangel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, hat nach dem jüngsten Krieg den Gazastreifen besucht. Erschreckend ist nicht nur das Ausmaß der Schäden an Gebäuden und Infrastruktur, sondern auch die tiefe Traumatisierung der Menschen.
 

Seit fast drei Jahren besuche ich als Leiter des Büros Ramallah der Heinrich-Böll-Stiftung den gebeutelten Gazastreifen. Nun bin ich zum ersten Mal wieder da nach dem letzten, desaströsen Krieg. Der erste Besuch nach dem Krieg zeigt nicht nur das Ausmaß der Schäden an Gebäuden und Infrastruktur, sondern auch der tiefen Traumatisierung der Menschen. Die Zerstörung ist in Stadtvierteln, die überwiegend nahe der Grenze liegen und auch von der Landseite beschossen wurden, massiv: In Beit Hanoun, Shujaiyya, Khuzaa steht kaum noch ein unbeschädigtes Haus. Viele Menschen wohnen jetzt in den Ruinen ihrer Häuser, in denen manchmal nur noch ein Raum steht, und die so aussehen, als könnten sie jeden Moment zusammenfallen. Eine Alternative sind nur jene überfüllten UNRWA-Schulen, die noch immer Flüchtlinge beherbergen und daher noch nicht das reguläre Schuljahr beginnen konnten. Bis eine endgültige Übereinkunft über die Einfuhr von Baumaterial getroffen und umgesetzt wird, werden die Betroffenen nicht viel wieder aufbauen können. Die Zeit gegen den Wintereinbruch läuft, wenn Tausende Familien von Kälte und Regen bedroht sein werden. Im letzten Jahr kam es zu schweren Sturmfluten, die bereits ohne Krieg ein Desaster bedeuteten.

Blockade und Krieg

Im Gazastreifen habe ich in den letzten Jahren viele Menschen kennengelernt: NGO-Vertreter/innen, Taxifahrer, junge Aktivist/innen, Geschäftsleute, Studierende, Künstler/innen, Journalist/innen und politische Vertreter/innen der Fatah und auch jene der Hamas, des Islamischen Jihad und anderer Parteien. Die jeweils wenigen Tage oder Stunden fühlen sich an wie ein Besuch im Gefängnis. Ist das eine harte, zu harte Beschreibung? Wie bei einem Gefängnisbesuch im Hochsicherheitstrakt muss ich mich über die deutsche Vertretung bei den israelischen Behörden anmelden, um den Grenzübergang Erez zu überqueren. Seit der Gazastreifen seit 2007 fast völlig abgeriegelt ist, passieren hier aber täglich nur noch wenige Menschen die Grenze. Über 40.000 sollten es sein, Palästinenser, die aus Gaza täglich nach Israel zur Arbeit kommen. Tatsächlich aber sind es nur ein Prozent davon, wenige Hundert, vor allem medizinische Notfälle und internationale Hilfsarbeiter/innen.

Auf der Grenze, die den schmalen Küstenstreifen vom Süden Israels trennt, ragt eine hohe Mauer empor, in regelmäßigen Abständen von Aussichtstürmen mit Maschinengewehren gespickt, deren Läufe in das Innere des Gazastreifens gerichtet sind. Die Architektur gleicht einem Hochsicherheitsgefängnis, nicht einer Landesgrenze. Ein Todesstreifen reichte bis zum jüngsten Krieg mindestens 500 Meter in den Gazastreifen herein, was bis zu 35 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche im kleinen Gazastreifen der Nutzung entzog. Dazu kommt die ständige Überwachung aus der Luft und eine Seeblockade. In der Luft sind israelische Drohnen und Überwachungsballons mit Kameras zu sehen, ab und zu jagen Kampfflugzeuge über den Gazstreifen hinweg. Wer hier als Besucher verweilt, kann schnell Platzangst bekommen. Einige Meilen vor der Küste stehen israelische Kriegsschiffe, welche Waffenschmuggel verhindern sollen, aber fast täglich die kleinen palästinensischen Fischerboote beschießen, wenn sie der jeweils grade geltenden Seemeilengrenze zu nahe kommen. Nach dem jüngsten Krieg sind es wieder 6 Seemeilen. Das ist noch immer weniger als ein Drittel der einst im Oslo-Vertrag festgeschriebenen 20 Seemeilen. Innerhalb der 6-Seemeilengrenze, nahe der Küste, gibt es nur wenige, kleine Fische, nicht genug für die Fischer, um diesen einst wichtigen Wirtschaftszweig in Gaza aufrecht zu erhalten.

Die Blockade, die spätestens seit Juli 2013 auch von der ägyptischen Militärdiktatur unter Abd al-Fattah al-Sisi auf der Seite der kleineren Grenze mit Ägypten rigoros durchgesetzt wird, hat den Gazastreifen in einen kollektiven Sozialfall, in eine menschengemachte humanitäre Krise verwandelt. Das Abwassersystem in Gaza funktioniert schon lange nicht mehr richtig, gesundheitsgefährdendes Abwasser sammelt sich mitten in den Städten und wird teils ins offene Meer geleitet. Das Grundwasser versalzt, selbst in den teuren Hotels in Gaza kommt nur noch Salzwasser aus der Brause. Der Boden wird unfruchtbar, die Stromversorgung reicht nur für wenige Stunden Elektrizität am Tag und nur dort, wo die Menschen es sich leisten können, dröhnen Stromgeneratoren. All diese Probleme haben sich nach dem jüngsten Krieg nochmal massiv verschärft.

Wenn die Vereinten Nationen noch 2012 prognostizierten, dass schon 2020 der Gazastreifen faktisch unbewohnbar sein könnte, was heißt das also nach diesem jüngsten Krieg? Die Arbeitslosigkeit steigt weiter (nach dem Krieg belaufen sich Schätzungen auf über 50 Prozent). Sämtliche Lebensgrundlagen sind bedroht. Viele Menschen, insbesondere die Jungen, wollen hauptsächlich eins: raus aus dem Gefängnis Gazastreifen. Dafür nehmen sie sogar die lebensgefährliche Flucht mit Schlepperbanden nach Ägypten und dann auf See auf sich, wobei hunderte bereits ertrunken sind. Wenn dies also ein Gefängnis ist, dann ist es eines mit besonders harschen Bedingungen. Denn in einem Gefängnis funktioniert wenigstens der Strom.

Bangen um Freunde und Bekannte

Während des Krieges hieß es bangen um Freunde und Bekannte im Gazastreifen, um Partner der Heinrich-Böll-Stiftung, um mutige Menschen, die sich für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie einsetzen. Jeder Anruf drohte schlimme Nachrichten mit sich zu bringen: Menschen mussten ihre Häuser verlassen, wussten nicht wohin sie fliehen sollten, haben Verwandte oder Freunde, ihre Häuser oder Wohnungen verloren. Viele sind obdachlos oder beherbergen nun dutzende Menschen in ihren kleinen Apartments.

Mein Fahrer in Gaza, mit dem ich seit drei Jahren unterwegs bin und der zum Freund wurde, ist obdachlos geworden. Sein Haus, in dem er mit seinen Brüdern, und insgesamt 50 Familienangehörigen, die meisten Kinder, wohnte, ist komplett zerstört. Sie haben alles verloren. Eine ehemalige Mitarbeiterin der Heinrich-Böll-Stiftung schrieb auf Facebook, dass zwei Enkel ihrer Tante bei einem Angriff auf einen Spielplatz getötet wurden. Ein ehemaliger Promotionsstipendiat der Stiftung, der 2007 mit seiner Familie nach vielen Jahren in Deutschland nach Gaza zurückkehrte, bangte mit seiner Familie jede Nacht ums Überleben, das Haus der Familie seiner Frau wurde dem Erdboden gleich gemacht. Ein Menschenrechtler, den die Stiftung zu Vorträgen nach Berlin eingeladen hatte, musste miterleben, wie sein 80-jähriger Vater, seine Stiefmutter und eine vierjährige Nichte getötet wurden. Auch weitere Angestellte des Al-Mizan Menschenrechtszentrums kamen bei Angriffen ums Leben. Die Opfer sind nicht anonym, und sie waren in diesem Krieg nach UN-Schätzungen zu knapp 70 Prozent Zivilisten. Dieser Krieg hatte eine neue, beängstigendere Qualität als jene 2008/09 und 2012.

Raketenbeschuss trotz massiver Bombardierungen

Die israelische Kriegsführung richtete sich nach Aussage der Regierung gegen den Raketenbeschuss der Hamas und wurde als notwendiger und berechtigter Akt israelischer Selbstverteidigung beschrieben. Allerdings wurde relativ schnell deutlich, dass auch die massiven Bombardierungen genau diesen Raketenbeschuss nicht stoppen konnten. Die militärische Infrastruktur der Hamas war bis zum Schluss so gut intakt, dass noch in den letzten Minuten vor dem Waffenstillstand dutzende Raketen abgeschossen werden konnten. Stattdessen richteten sich die Angriffe im Laufe des Krieges immer mehr gegen zivile Einrichtungen und Strukturen. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem hat ein schockierendes Schaubild veröffentlicht: In 72 einzelnen Bombenangriffen wurden jeweils ganze Familien ausgelöscht, insgesamt 547 Menschen. "Abschreckung" sollte die Botschaft der immer ausgedehnteren Bombardierungen sein, die alles übertrafen, was selbst die leidgeprüften Menschen im Gazastreifen bisher erleben mussten. Aber wie schon 2006 im Libanon und 2008/09 im Gazastreifen dürfte der Krieg das Gegenteil erreicht haben. Und das liegt zu einem Gutteil daran, dass der Tod von über 2100 Menschen nicht unbedingt militärisch abschreckend ist – er ist erschütternd, und erschüttert im wahrsten Sinne die elementaren Grundlagen der Gesellschaft und des Überlebens im Gazastreifen.

Traumatisierte Zivilbevölkerung

Alle Menschen, mit denen ich in Gaza spreche sind davon tief traumatisiert. Auch sechs Wochen nach Ende des Krieges können sie an wenig anderes denken als den Horror, den sie durchleben mussten. "Ich wollte mich in Behandlung begeben", sagt mir eine junge Bloggerin in Gaza, "aber mir wurde klar, dass auch die Psychologen traumatisiert sind". 1,7 Millionen Menschen bangten 51 Tage um ihr Leben, bei diesem Krieg war keine Region, keine soziale Schicht sicher. Trauriger Höhepunkt war die Zerstörung von drei hohen Wohntürmen. Nur vom "Italienhaus" steht noch eine mahnende Ruine. "Vielleicht wird das mal wie die Gedächtniskirche in Berlin", meint ein Freund, der in Deutschland studiert hat. Zwei andere Wohntürme, Al-Basha, und Al-Thafer 4, wurden komplett von israelischen Raketen, abgeschossen von F-16 Kampfjets, zerstört. In Al-Basha, sagt mir eine Fatah-Vertreter, wohnten "ausschließlich unsere Leute". Ein anderer Bekannter erzählt mir, dass er von dem bevorstehenden Beschuss al-Thafers hörte und den Angriff mit seiner Handykamera auf einem erschütternden Video festgehalten hat. „Wir dachten, einzelne Apartments würden beschossen, da die israelische Armee verkündet hatte, sie vermute dort Hamas-Quartiere.“ An diesen Orten der Zerstörung sind nun riesige Leerstellen und hohe Schuttberge. Bis zu vier Millionen Tonnen Schutt bleiben zurück. Wie soll der beseitigt werden? Ohne Baumaschinen, ohne Exportmöglichkeit, ohne Platz für Müllkippen?

Hamas und Fatah

Und Hamas? Was ist mit Hamas? Sind sie nicht die wahrhaft Schuldigen an der Krise im Gazastreifen? Seit der Machtübernahme im Gazastreifen im innerpalästinensischen Streit im Jahre 2007 hat die Hamas den Gazastreifen mit harter Hand regiert (exemplarisch der Jahresbericht von Amnesty International, der 2013 harte Kritik sowohl an der Menschenrechtslage im Hamas-regierten Gazastreifen wie auch der Palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank übte). Andersdenkende leiden unter ihrer rigiden und strikt konservativ-islamischen Agenda. Mit wenig Ressourcen und ohne Regierungserfahrung erreichte sie kaum etwas für die Menschen im Gazastreifen. Viele Ressourcen wurden aufgewendet, um die eigene Macht zu erhalten und Waffen zu erwerben, um unter der anhaltenden Blockade den einzig vermeintlichen „Trumpf“, Waffen gegen Israel, in den Gazastreifen zu schaffen. Viele ihrer Günstlinge haben sich in den letzten Jahren bereichert. Auch nach dem Krieg wird Kritik laut, dass oft nur jene, die der Hamas nahestehen, finanzielle Hilfen erhalten.

Es gibt viel, auch innerpalästinensische Kritik an der Hamas, an ihrer religiösen Ideologie und ihrem rigorosen Vorgehen gegen ihre Gegner. International besteht Einigkeit, dass Kriegsverbrechen auf beiden Seiten untersucht werden müssen. Dazu gehören die tausenden Raketen, die Hamas nach Israel abfeuerte, die sich, auch wenn sie wenig Schäden anrichteten und meist vom „Iron Dome“ abgefangen werden konnten, gegen israelische Städte richteten und in erster Linie Zivilisten bedrohten. Die Hinrichtung von angeblichen Kollaborateuren mit Israel, die Hamas standrechtlich erschoss. Die brutalen Aktionen, mit denen sie ihre Gegner, darunter auch Mitglieder der Fatah, mehrmals bedrohte und attackierte. Allerdings ist es nicht die Hamas, die eine internationale Untersuchung von Kriegsverbrechen bisher verhindert. Amnesty International und Human Rights Watch wurden von der israelischen Regierung an der Einreise gehindert und B’tselem geht davon aus, dass Israel die Aufklärung auch in Zukunft behindern wird.

Zur Bewertung der Hamas gehört aber auch die Tatsache, dass sie 2006 an freien und fairen Wahlen teilgenommen hat, damals akzeptiert und beobachtet von EU und USA. Erst als die Hamas als Wahlsieger feststand, begannen sie einen Boykott, der den palästinensischen Bürgerkrieg zumindest begünstigte und beschleunigte. Die seitdem international verfolgte Politik gegenüber der Hamas weist eine desaströse Bilanz auf. Die US-Politik der Hochrüstung von Abbas‘ Präsidentengarde und die Inkaufnahme menschenrechtlicher Verstöße im Kampf gegen die Hamas waren nicht nur tödlich für den Versöhnungsprozess, sondern haben auch die zunehmend bedenklichen autoritären Tendenzen in der Westbank beschleunigt. Die jahrelange Blockade des Gazastreifens traf dagegen nicht in erster Linie die Hamas, sondern die Bevölkerung. Und nach diesem Krieg lag die Hamas nach jüngsten Umfragen immer noch vor der rivalisierenden Fatah – mit der sie offiziell immer noch in einer Einheitsregierung verbunden ist.

Die Hamas zu verteufeln oder sie gar mit ISIS gleichzusetzen, wie es der israelische Ministerpräsident tut, um die palästinensische Einheit zu torpedieren, ist unsinnig und kontraproduktiv. Der Propagandakrieg wird auch deutlich an der Debatte um die "menschlichen Schutzschilde", welche die israelische Armee sowie israelische Regierungsmitglieder immer wieder als Begründung für die hohe Zahl ziviler Opfer vorschoben. Richtig ist, dass die Hamas aus dicht besiedeltem Gebiet agierte, und damit auch die eigene Bevölkerung gefährdete. Aber es sind keine Fälle belegt, in dem die Hamas die eigene Bevölkerung gezwungen hätte, Hausdächer zu besteigen oder sonst wie als „menschliche Schutzschilde“ zu agieren (in einem Fall stieg eine palästinensische Familie auf ein Hausdach um sich vor einem Angriff zu schützen, was nach Berichten von einem Hamas-Sprecher begrüßt wurde).

Die Instrumentalisierung solcher Narrative zu analysieren ist von elementarer Bedeutung, um das Verhältnis zwischen Hamas und der lokalen Bevölkerung richtig einschätzen zu können. Die Hamas ist keine jihadistische Terrortruppe, die Gazas Bevölkerung als Geisel genommen hat, sondern eine palästinensische Partei, die auch mit Unterstüzung in der Bevölkerung agiert und durch ihre sozialen Netzwerke und Dienstleistungen auch nach dem Krieg eine wichtige Rolle einnimmt. Daher ist die Vorstellung verfehlt, die Hamas "ausradieren" (Israels Außenminister Avigdor Liebermann) zu können oder den so genannten "moderaten" Kräften um Präsident Abbas gegen den Willen der Hamas zur Machtübernahme im Gazastreifen zu verhelfen. Insbesondere da Präsident Abbas, dessen Mandat seit 2009 abgelaufen ist, durch die gescheiterte Verhandlungsstrategie, die enge Zusammenarbeit mit den israelischen Sicherheitskräften und die autoritären und anti-demokratischen Tendenzen bei Teilen der palästinensischen Bevölkerung diskreditiert ist.

Nach dem Krieg

Dieser Krieg wurde von den Palästinenser/innen nicht als Krieg gegen die Hamas wahrgenommen – nicht zuletzt, weil die israelische Armee auch in der Westbank gewaltsam vorgeht und die Besatzung aufrecht erhält sowie dort massiv Siedlungen ausbaut, obwohl Präsident Mahmoud Abbas lange zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit war. Wohl weitaus weniger Palästinenser/innen würden Hamas unterstützen, wenn nicht in den letzten Jahren deren größter Rivale, die Fatah und Präsident Abbas, während dieser Verhandlungsrunden wiederholt gedemütigt worden wäre. Die westliche Phrase von der Notwendigkeit „Abbas zu stärken“ klingt angesichts dessen hohl. Müsste die Hamas endlich wirkliche Mitverantwortung für die politische Lage in den palästinensischen Gebieten übernehmen und sich dann in Zukunft Wahlen stellen, wäre der Ausgang alles andere als gewiss. Ein solcher Politikwechsel ist notwendig, überfällig. Ohne eine Einbindung der Hamas und ihrer Interessen wird keine Lösung für Gaza, und auch nicht für die palästinensischen Gebiete insgesamt, funktionieren.

Die Frustration und Hoffnungslosigkeit der Menschen in den palästinensischen Gebieten ist auf einem neuen Tiefpunkt angekommen. Wie kann jetzt der Weg nach vorn aussehen? Er müsste zunächst mit einer echten Öffnung des Gazastreifens den Menschen dort eine Perspektive bieten, und den Gazastreifen wieder mit dem Rest der palästinensischen Gebiete verbinden; und auch den Zugang nach Israel gewähren. Noch gibt es Tausende, Abertausende, die in Israel gearbeitet haben, Hebräisch können und noch immer mit überwiegend positiven Gefühlen an diese Zeit denken - selbst unter denen, die jetzt in den Ruinen sitzen. Diese Menschen in Gaza haben schwere Zeiten hinter sich, doch sind sie noch immer voller Mut, Hoffnung, Kreativität und Tatendrang. Aber in Israel und auch in weiten Teil der so genannten westlichen Welt sind sie zum Synonym für Terrorismus geworden. Nur durch diese Enthumanisierung konnten 1,7 Millionen Menschen fast komplett verdrängt werden in der Diskussion über die Zukunft Israels und Palästinas sowie der Region.

Die Situation dieser 1,7 Millionen überwiegend jungen Menschen in Gaza ist in erster Linie ein Desaster für sie selbst – und eine Schande für die Politik der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Region. Es ist aber auch ein fatales Risiko für Israel, dessen Regierung in den letzten sieben Jahren die kontraproduktive Politik der Blockade vorgegeben hat. Es ist kein Zufall, dass sich in letzter Zeit auch aus dem israelischen Sicherheitsapparat vermehrt Stimmen melden, die diese Politik anzweifeln. Versinkt der Gazastreifen dauerhaft im Chaos ohne ordnende Strukturen, erhalten die Menschen dort nicht endlich eine Lebensperspektive, ist absehbar, dass von dort bald weitaus radikalere Gruppieren agieren könnten als die Hamas. Schon jetzt befinden sich Hunderte jihadistische Kämpfer im Gazastreifen, die aber bisher durch die Hamas – in der Vergangenheit bekämpfte Hamas Jihadisten auch bereits mit gewaltsamen Mitteln - in Schach gehalten werden. Das Gegenteil von Netanjahus Behauptung ist also wahr: Hamas ist nicht ISIS, sondern derzeit einer der Garanten dafür, dass solche Gruppen nicht aus Gaza agieren können.

Eine Lösung des Nahostkonflikts wird bei Weitem nicht die vielen Probleme der Region lösen. Aber ohne einen Staat Palästina in den Grenzen von 1967 und die Verwirklichung der Menschenrechte und Freiheit der Palästinenser wird Israel unweigerlich zum Unrechtsstaat. Dauerhaft besetzte Gebiete ohne Entwicklungsperspektiven und Rechte können nur neue Wellen von Gewalt provozieren, für die der jüngste Krieg nur ein Vorbote war. Ein Ausweg ist noch möglich. Das Gefängnis Gaza zu öffnen und den Menschen dort ihre Rechte und Würde zurückzugeben wäre ein erster, wichtiger Schritt.