Jürgen Fuchs: Der moralische Rebell

Berlin: "Verlorene Lieder - verlorene Zeit" war das Motto eines Konzertes von Liedermachern aus der DDR und ehemaligen aus der DDR ausgewiesenen Künstlern
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Berlin: "Verlorene Lieder - verlorene Zeit" war am 2.12.89 im "Haus der Jungen Talente" das Motto eines Konzertes von Liedermachern aus der DDR und ehemaligen aus der DDR ausgewiesenen Künstlern. Daran schloß sich eine lebhafte Diskussion an, zu der im Präsidium Platz genommen hatten v.l.: Wolf Biermann, Dr. Dietmar Keller, Pfarrer Friedrich Schorlemmer, Lutz Bertram, Matthias Görnandt, ein Arbeiter aus Gera, Bettina Wegner und Jürgen Fuchs

Im Sommer 1972 stellten mir die ungarischen Behörden den soge­nannten "roten Reisepass" aus, mit dem man frei in vier sozialistische Länder reisen durfte – nach Polen, Rumänien, Bulgarien und in die DDR. Ich war über diesen Vorgang hoch erfreut, auch wenn sich die Gültigkeit des heiß begehrten Dokuments nur auf die genannten Bru­derländer und nicht auf den unerreichbaren Westen bezog. Als erstes Reiseziel wählte ich die DDR, weil ich in Berlin alte Bekannte hatte. Bei einer Fete in Budapest hatte ich zuvor Maurice kennengelernt, ei­nen jungen Architekten aus Jena. Er hatte bei uns auf dem Leninring übernachtet und seinerseits eine Einladung ausgesprochen. Da er je­doch inzwischen bei der Nationalen Volksarmee einrücken musste, delegierte er die Sorge um meine Person an die Familie Zemmrich, mit der er befreundet war. Die Familie nahm mich spontan auf, und auch später wohnte ich jahraus, jahrein, wenn ich mich in Jena auf­hielt, bei den Zemmrichs in der Rosa-Luxemburg-Straße. Wenn sie ihrerseits nach Ungarn kamen, quartierten sie sich entweder bei mir ein oder bei Bekannten von mir oder bei Bekannten von Bekannten. In manchen Sphären war das Leben im Ostblock sehr unkompliziert.

Rosi Zemmrich, die Mater familias, kümmerte sich um mein Pro­gramm. Mit ihrem kleinen Trabant fuhren wir in die Umgebung der Stadt und besuchten auch Maurice in der NVA-Kaserne Rudolstadt. Da Rosi an der Universität Jena als Schreibkraft arbeitete, kannte sie die kleine studentische Literaturszene und lud ein paar Leute zu sich nach Hause ein, unter ihnen Jürgen Fuchs. Ich selbst hatte soeben be­schlossen, die Lyrik zugunsten der Prosa aufzugeben, und so machte dieser bescheidene, freundliche junge Mann, der Lyrik schrieb, auf mich zunächst keinen besonderen Eindruck. Ich las seine Gedichte, und wir sprachen über Literatur und Politik. Beide fühlten wir uns als Anhänger des Sozialismus und stellten uns die Frage, wie man diese Überzeugung mit der ersehnten Freiheit des Lebens und des Schaffens zusammenbringen konnte. Dieses Problem der Quadratur des Krei­ses dominierte die intellektuellen Gespräche in allen Baracken des La­gers, selbst in der angeblich fröhlichsten, der Volksrepublik Ungarn.

Zwei oder drei Jahre später war ich mal wieder in Jena bei der Fa­milie Zemmrich, und wir saßen in der geräumigen Küche und hörten mittels eines bereits veralteten Tesla-Tonbandgeräts Lieder von Wolf Biermann, darunter die Peter Huchel gewidmete "Ermutigung": "Du laß dich nicht verhärten/in dieser harten Zeit". Rosi ging plötzlich in das Arbeitszimmer ihres Mannes und holte ein paar lose Blätter mit Kurzgeschichten von Jürgen Fuchs, allesamt Erzählungen über den Militärdienst in der NVA, über Misere, Langeweile und Gewalt in ost­deutschen Kasernen, wie sie auch später in den Büchern "Fassonschnitt" und "Ende einer Feigheit" geschildert wurden.

Jürgen war sieben Jahre jünger als ich, und das spielte eine große Rolle. Ich hatte zur Zeit unserer ersten Begegnung bereits viel weni­ger Illusionen über die Veränderbarkeit des Systems "von innen heraus" als er. Das war nicht weiter verwunderlich, denn ich hatte ei­nen politischen Prozess sowie ein Parteiausschlussverfahren hinter mir und war von Berufsverbot betroffen. So glaubte ich zwar noch an ein abstraktes Ideal des Sozialismus, nicht aber an die Möglich­keit, im Rahmen der offiziellen Kultur etwas erreichen zu können. Al­lerdings hatte ich im Unterschied zu Jürgen fast keine Erfahrung mit dem Militär: Ich hatte im Juli 1968 insgesamt eine Woche in der unga­rischen Volksarmee gedient und war dann aufgrund politischer Un­zuverlässigkeit aus dem Heer entlassen worden, was mir nicht nur den Drill, sondern auch eine eventuelle Beteiligung am Einmarsch in die Tschechoslowakei erspart hatte. Die Niederwerfung des "Pra­ger Frühlings" war wiederum für mich und auch für viele Generati­onsgenossen in Ungarn das Schlüsselerlebnis für die eigene Entwick­lung zum Dissidenten.

Den durch das Lebensalter bedingten "Rückstand" zwischen uns holte Jürgen allerdings sehr schnell auf, weil ihm durch die Wehrer­ziehung zur Schulzeit etwas Elementares passierte: Er erlebte am ei­genen Leib, wie im Alltag der NVA das Menschliche zugunsten des Soldatischen geopfert wurde. Sein Dissens wurzelte nicht in ideolo­gischen Differenzen mit dem System der DDR, sondern im morali­schen Konflikt des freien Individuums mit dem staatlich oktroyier­ten Kollektivismus, für den die Armee lediglich eine Metapher war.

Nach jener ersten Begegnung im Sommer 1972 sah ich Jürgen Fuchs lange Jahre nicht mehr wieder – ich wusste aber, dass er im November 1976 im Zuge der Protestaktion gegen Biermanns Ausweisung ver­haftet worden war. Im Herbst 1977 las ich mit angehaltenem Atem im Spiegel seine "Gedächtnisprotokolle", und da ich über Freunde sei­ne Adresse in Westberlin herausfinden konnte, schickte ich meinen Freund Miklós Haraszti, der sich als DAAD-Stipendiat dort aufhielt, zu ihm, um den Kontakt wiederzubeleben. Den Erfolg dieses Vor­habens fand ich im Nachhinein durch ein vollkommen wirres und dilettantisch ins Deutsche übertragenes Abhörprotokoll des ungari­schen Staatssicherheitsdienstes bestätigt: Im Sommer 1978 soll mir Haraszti in einem Telefongespräch mitgeteilt haben, er treffe sich mit "BIERMANN und FUSCHAL". Wie kam die ungarische Firma auf "Fuschal"? Im Grunde genommen ganz einfach: "Mit Fuchs" heißt auf Ungarisch "Fuchs-szal". So hatten sie es mitgeschnitten – offenbar funktionierte das Abhörgerät nicht einwandfrei oder eine Schreib­kraft hatte den Namen verunstaltet. Ähnlich präzise und effizient be­richtete das ungarische Bruderorgan nach Ostberlin über meine Kon­takte "zu einem Volksliedsänger HANNOKA" (Gerulf Pannach), des Weiteren zu Michael DAHLMANN (Sallmann) und der Chefredak­teurin der Frauenzeitschrift "Courage", Sibylle KLOGSTEDT (Plogstedt).

Über Jürgen Fuchs und Miklós Haraszti liefen zahlreiche Kontakte der demokratischen Opposition Ungarns zu Polen, der ČSSR und der DDR. Manchmal meldeten sich junge Leute bei mir, und unter Be­rufung auf Jürgen blieben sie ein paar Tage in unserer Wohnung auf dem Leninring. Ich wusste, dass es sich um Ost-West-Begegnungen handelte, konspirative Treffen, die von Jürgen initiiert worden waren und die möglichst nicht unter den wachsamen Augen der Stasi statt­finden sollten. Ich spielte gern mit, und es störte mich dabei kaum, dass ich ihm nur ein einziges Mal begegnet war. Durch seine Schrif­ten war er für mich greifbar anwesend, ein Freund in futurum, also ei­ner, den ich noch irgendwann kennenlernen würde.

Während meines zweijährigen Aufenthalts in Deutschland 1984 und 1985 und ebenso in den späten achtziger Jahren saß ich mit Jür­gen des Öfteren in Westberliner Kneipen, wobei wir gemeinsam hat­ten, dass weder er noch ich in die östliche Hälfte der Stadt einrei­sen durften – ich galt mit zwei Ausnahmen zwischen 1980 und 1989 als Persona non grata in der DDR. Für mich war diese Konstellati­on nicht angenehm, aber auch nicht tragisch, denn mit vielen mei­ner Freunde aus der DDR konnte ich mich in Budapest verabreden, und aufgrund der absurden Ausbürgerungspraxis dieses Staates traf ich manche auch im Westen wieder. In Westberlin entstand ein litera­risches DDR-Exil, das bei aller sprachlichen und kulturellen Identität mit dem Aufnahmeland Bundesrepublik sämtliche atmosphärische Eigenschaften einer Diaspora aufzuweisen hatte. Dabei sah es so aus, als ob die Mauer, mit der diese Leute von ihrer engeren Heimat ge­trennt wurden, noch lange, noch sehr lange Bestand haben sollte. Für Jürgen bedeutete dies nicht zuletzt eine akute Gefährdung, da Agen­ten des MfS sich frei in Westberlin bewegen konnten, ihn belästigten und ihn und seine Familie auch physisch bedrohten.

Im März 1989 trafen wir uns im Café "Filmbühne am Steinplatz". Jürgen brachte mir sein neues Buch "Ende einer Feigheit" mit, und wir sprachen über die Demokratiebewegungen in Ungarn und Po­len, die er mit großer Empathie beobachtete. An eine ähnlich schnelle Veränderung in der DDR wollte er allerdings nicht glauben, weil ers­tens die Reformkräfte innerhalb der SED fehlten und weil die Bundesrepublik und ihre Parteien keine Destabilisierung des Ostblocks betreiben wollte. In der Tat gab es Anzeichen dafür, dass die Führung der DDR jede noch so halbherzige Reform strikt ablehnte. Im No­vember 1988 hatte sie sogar eine deutschsprachige sowjetische Zeit­schrift aus dem Verkehr ziehen lassen, und am 10. Januar 1989 hat­te Erich Honecker der Berliner Mauer weitere hundert Jahre Existenz garantiert. Aber einige Tage nach unserem Gespräch kam es zur ers­ten, noch sehr bescheidenen Leipziger Demonstration, die sich im Nachhinein als Ausgangspunkt der friedlichen Revolution entpuppte, die das System ablösen sollte.

Kaum ein halbes Jahr später, am 4. November, stand Jürgen Fuchs gemeinsam mit Wolf Biermann an der Grenzübergangsstelle Friedrichstraße. Sie wollten einer Einladung der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley zur ersten freien Großdemonstration auf dem Alexanderplatz folgen. Doch die Behörden verweigerten ihnen die Einreise und man konnte unschwer die Panik nachvollziehen, die jeden Verantwortlichen etwa beim MfS befallen musste, wenn er sich vorstellte, dass als Folge einer Einreise Biermanns eine halbe Million Menschen im Zen­trum der Hauptstadt der DDR das fast allen bekannte Lied singen würde: "Du laß dich nicht erschrecken,/ in dieser Schreckenszeit./ Das wolln sie doch bezwecken/ daß wir die Waffen strecken/ schon vor dem großen Streit." Danach verging noch eine Woche, und die Mauer ge­hörte der Vergangenheit an.

Obwohl ich vieles von Jürgens Werken mit großem Genuss und Ge­winn gelesen habe, so haben doch vor allem die Gedächtnisprotokol­le auf mich außerordentlich stark gewirkt. Ich war beeindruckt von Jürgens persönlichem Mut: Er hatte nicht nur neun Monate Gefäng­nis mit hochintensiven Verhören hinter sich gebracht, sondern war auch das bewundernswerte Wagnis eingegangen, aus dieser existenti­ell bedrohlichen Situation fast ohne Kommentare einen literarischen Text zu schaffen. Dem Geheimdienst seine Geheimnisse zu entreißen und das Verschwiegene, das mit sieben Siegeln Verschlossene zu ver­öffentlichen, war die eine, sozusagen zivilbürgerliche Seite des Vor­gangs. Die andere bestand darin, das Erlebte in einer transparenten Art und sparsamen Sprache der Außenwelt nahe zu bringen.

Heute, ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution, le­ben wir in einer völlig veränderten Welt, in der Leid und Freude, Mut und Geist, Phantasie und Moral des Widerstands gegen die Diktatur kaum noch wahrgenommen werden. All das, was den Sinn des Le­bens einer Generation von Bürgerrechtlern ausmachte, Freiheit und Demokratie, erscheint heute als etwas Selbstverständliches, was kei­ner besonderen Erklärung, geschweige denn Würdigung bedarf.

Dieser Artikel ist ein Beitrag von György Dalos aus dem Buch "Im Dialog mit der Wirklichkeit: Annäherungen an Leben und Werk von Jürgen Fuchs". Das Werk ist am 26. Mai 2014 im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienen und wird herausgegeben von Ernest Kuczyński.