Zunehmend im Fokus: Ernährungssysteme auf fossiler Basis

Kommentar

Bei der COP27 wird verstärkt auch über die Bedeutung des Agrar- und Ernährungssektors für die Begrenzung der Klimakrise diskutiert. Doch wie zukunftsfähig sind die Ergebnisse?

Ein Traktor düngt ein Feld

Noch vor einem Jahr titelte der Guardian zur Klimakonferenz in Glasgow: „Die Kuh im Raum – Warum redet bei der COP26 niemand über die Landwirtschaft?“. Und ein im September erschienener Bericht zeigt, dass bislang nur drei Prozent der öffentlichen Klimafinanzierung in den Agrar- und Ernährungssektor fließen. Dieses Jahr gibt es neben einem erneut stattfindenden offiziellen Thementag zu Klimawandelanpassung und Landwirtschaft am 12. November immerhin erstmals auch einen offiziellen Ernährungs- und Landwirtschaftspavillon, ausgerichtet unter anderem von der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO. Zwar wird die Bedeutung des Agrar- und Ernährungssektors für die Begrenzung der und Anpassung an die Klimakrise immer mehr erkannt und politisch diskutiert – doch nicht immer mit zukunftsfähigen Ergebnissen. Das globale Ernährungssystem war im Jahr 2015 laut einer 2021 veröffentlichten wissenschaftlichen Studie für 34 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Und auch der Weltklimarat geht von einem Anteil des Ernährungssystems an den Gesamtemissionen von 21 bis 37 Prozent aus. Rund zwei Drittel davon entsteht durch Ackerbau und Tierhaltung sowie Landnutzung, also etwa durch Abholzung von Wald für Äcker oder Weiden. Dazu kommen die vor- und nachgelagerten Prozesse: Treibstoffproduktion, industrielle Weiterverarbeitung, Verpackung, Transport und Abfallmanagement. Gleichzeitig ist die globale Landwirtschaft besonders stark von den Folgen der Klimakrise wie etwa Dürren und Überschwemmungen betroffen. Seit langem steht die (industrielle) Tierhaltung – zu Recht – im Zentrum der Debatte um den Beitrag der Landwirtschaft zur Klimakrise. Für Deutschland hat das Umweltbundesamt berechnet, dass 2021 66 Prozent der Emissionen aus der Landwirtschaft und knapp fünf Prozent der Gesamtemissionen Deutschlands direkt auf das Konto der Tierhaltung gehen. Dafür sind in erster Linie die Methan-Emissionen aus der Fermentation im Zuge der Verdauung bei Wiederkäuern, vor allem Rindern verantwortlich. Außerdem wird bei der Lagerung und Ausbringung von Wirtschaftsdünger Lachgas freigesetzt. Während bei einer bäuerlich strukturierten Tierhaltung Weiden gleichzeitig als Kohlenstoffsenke fungieren können, sind es in Deutschland wie auch global gerade die großen Fleisch- und Milchkonzerne, die zu den größten Emittenten gehören: So haben die 20 größten europäischen Fleisch- und Milchkonzerne 2020 ebenso viele Tonnen CO2-Äquivalente produziert wie der Erdöl-Gigant ENI (und immerhin fast die Hälfte der Treibhausgasemissionen der drei klimaschädlichsten Ölkonzerne BP, Shell und ExxonMobil).

Stickstoffdünger als Klimakiller und Krisenverstärker

Ein zweiter massiver Treiber der Klimakrise aus dem Agrarsektor wurde bisher kaum  diskutiert: synthetischer Stickstoffdünger. Auch wenn Stickstoffdünger – anders als etwa Phosphor- und Kalidünger – durch den Einsatz von Nitrat fixierenden Hülsenfrüchten eigentlich am leichtesten zu ersetzen ist, macht er den Großteil der weltweit eingesetzten Düngemittel aus. Dies führt zu mindestens drei schwerwiegenden Problemen: Erstens tragen Nitratüberschüsse zu einer langfristigen Schädigung von Böden und Gewässern bei - und könnten so die Steuerzahlenden in Deutschland im Falle einer weiteren Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof – aufgrund mangelnder Umsetzung der EU-Nitratrichtlinie – rund 800.000 Euro Strafzahlungen täglich kosten. Zweitens sind synthetische Stickstoffdünger wahre „Klimakiller“: So kommt eine aktuelle Studie zu dem Ergebnis, dass allein die Wertschöpfungskette von Stickstoffdünger im Jahr 2018 für 1,25 Gigatonnen CO2-Äquivalente, d.h. 2,1 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen, verantwortlich war. Das entspricht mehr als dem Anteil des globalen Flugverkehrs im selben Jahr. Davon gehen knapp 39 Prozent auf die Herstellung zurück, während knapp 59 Prozent den Lachgasemissionen zuzuschreiben sind, die entstehen, wenn Stickstoff, der von der Pflanze nicht aufgenommen wurde, in die Atmosphäre entweicht. Dabei ist Lachgas ein etwa 300-mal klimawirksameres Treibhausgas als CO2. Die Herstellung von synthetischem Stickstoffdünger ist deswegen so emissionsintensiv, weil der Prozess der Ammoniaksynthese als Basis für Stickstoffdünger – das so genannte Haber-Bosch-Verfahren – unter extrem hohen Temperaturen und unter extrem hohem Druck stattfinden muss. Daher verbraucht keine andere chemische Reaktion mehr Energie – drei bis fünf Prozent der globalen Erdgasproduktion werden nur für die Ammoniaksynthese verbraucht. Nicht nur angesichts möglicher Alternativen und der aktuellen Gasknappheit für existenzielle Bedürfnisse wie Wärme eine horrende Größenordnung.

Ein im Oktober erschienener Bericht des Center for International Environmental Law (CIEL) zur Verbindung zwischen der fossilen und der Düngemittelindustrie zeigt auf, wie die Düngemittelindustrie vor diesem Hintergrund auf die Vorwürfe der Klimaschädlichkeit reagiert, indem sie sich selbst als zentrale Akteurin der Nachhaltigkeitstransformation darstellt und sogar Profit aus der Klimakrise schlägt: So versuchen immer mehr Düngemittelhersteller, Fördergelder für Carbon Capture and Storage (CCS, also die Speicherung von Kohlenstoff) abzugreifen. Da für die Ammoniaksynthese Wasserstoff benötigt wird, wird bei der Wasserstoffgewinnung aus Gas oder Kohle tatsächlich CO2 abgeschieden. Dabei wird jedoch einerseits nur ein Bruchteil des Kohlendioxids vorübergehend gespeichert und bei der Herstellung von Harnstoff (Stickstoffdünger) wieder eingesetzt. Andererseits wird das CO2 wieder freigegeben, wenn sich der Harnstoff bei der Ausbringung auf landwirtschaftliche Böden zersetzt. Trotzdem bringen Düngemittelunternehmen wie CF Fertilisers und Yara aktuell verschiedene Produktionsstätten für Wasserstoffherstellung auf Basis fossiler Energie, aber mit Hilfe von CCS-Methoden („blauer Wasserstoff“) als Grundlage für „blaues Ammoniak“ mit auf den Weg. Diese Initiativen machen die enge Verbindung zwischen der Düngemittel- und der fossilen Industrie deutlich und zeigen die kreativen Wege beider Industrien, sich trotz der berechtigten, fundamentalen Kritik durch Greenwashing-Maßnahmen selbst zu erhalten.

Doch neben der Umwelt- und Klimaschädlichkeit synthetischer Stickstoffdünger tritt ein drittes Problem gerade in aller Deutlichkeit zu Tage: Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, allen voran Erdgas, für die Düngemittelproduktion treibt sowohl die Düngemittelpreise als auch in der Folge die Lebensmittelpreise enorm in die Höhe. In einer von INKOTA herausgegebenen Studie von Dr. Gideon Tups wird die Rolle synthetischer Düngemittel in der durch den russischen Angriffskrieg deutlich verschärften Energie- und Ernährungskrise im Detail beleuchtet. So zeigen Studien, dass eine Verdopplung der Düngemittelpreise im Schnitt zu einer Erhöhung der Lebensmittelpreise um 44 Prozent führt. Leidtragende dieser Preiskrise sind vor allem (Klein-)Bäuerinnen und Bauern auf dem afrikanischen Kontinent, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch verschiedene öffentlich-private „Entwicklungsprogramme“ zunehmend von Inputs wie „optimiertem“ Saatgut, Pestiziden und in besonderem Maße Stickstoffdünger abhängig gemacht wurden. Wenn genau diese Bäuerinnen und Bauern nun die gestiegenen Preise nicht mehr zahlen können, aber nicht von heute auf morgen auf agrarökologische Maßnahmen umsatteln können, drohen hier selbstverständlich Ernteeinbußen, die zur Ernährungsunsicherheit beitragen.

Strukturelle Veränderungen gefragt

Doch als Antwort auf die dramatische globale Ernährungskrise jetzt erneut die Produktion und den Einsatz von Stickstoffdünger mit Subventionen zu unterstützen – sei es im entwicklungspolitischen Kontext oder im Kontext der EU-Düngemittelstrategie – kann weder eine Lösung zur Bekämpfung der Klimakrise noch ein Beitrag zu einem krisenfesten Ernährungssystem sein. Die kurzfristigen Maßnahmen sollten sich stattdessen einerseits auf eine schnelle Reduktion der Tierbestände in Ländern mit industrieller Tierhaltung fokussieren, um somit auch Getreide, das sonst an Tiere verfüttert würde, für den menschlichen Verzehr freizugeben. Dabei müssen die Tiere haltenden Bäuerinnen und Bauern selbstverständlich angemessen unterstützt werden, um das Höfesterben nicht weiter zu befeuern. Andererseits sollte die Herstellung und nach Möglichkeit vergünstigte Ausgabe von organischem Dünger – etwa aus Pflanzenresten – gezielt gefördert werden. So stellt etwa die senegalesische Regierung jetzt schon zehn Prozent des Budgets für Düngemittel für die Förderung von Biodünger bereit. Beide Maßnahmen sind gleichermaßen förderlich für das Klima wie auch für die Ernährungssicherung.

Mittel- und langfristig führt kein Weg vorbei an einer strukturellen, ganzheitlichen Transformation des Ernährungssystems hin zu einem Fokus auf Agrarökologie. Konkret würde das etwa bedeuten: Landwirtschaftliche Systeme, die auf einen vielfältigen Anbau verschiedener Ackerfrüchte setzen, mit intelligenten Fruchtfolgen und dem Einsatz von Hülsenfrüchten die Bodenfruchtbarkeit erhöhen und so den Einsatz synthetischer Düngemittel und chemischer Pestizide überflüssig machen und dies möglicherweise kombinieren mit Schatten spendenden und Kohlenstoff bindenden Bäumen (so genannte Agroforstsysteme).

Mit Blick auf Bedenken hinsichtlich der Ernährungssicherung zeigt ein Modell des französischen Instituts für nachhaltige Entwicklung und internationale Beziehungen (IDDRI) zur Umsetzung von Agrarökologie in Europa, wie trotz eines Produktionsrückgangs um bis zu 35 Prozent insgesamt (im Vergleich zu 2010) dennoch der Nahrungsmittelbedarf der Europäer*innen gedeckt werden kann, und zwar durch eine stärker pflanzenbasierte Ernährung und den vollständigen Verzicht auf Agrarkraftstoffe. Mit einer derart ausgerichteten Landwirtschaft könnten die Treibhausgasemissionen im 2050 im Vergleich zu 2010 um 40 Prozent gesenkt werden.

Auch die Allianz für Ernährungssouveränität in Afrika (AFSA) appelliert im Vorfeld der COP27 an die Verhandler*innen, Agrarökologie als Anpassungsstrategie zu priorisieren, (afrikanische) Kleinbäuerinnen und –bauern aktiv in die Debatte einzubeziehen und Klimafinanzierung in agrarökologische Projekte zu leiten. Doch die Agenda des offiziellen Agrar-Thementages auf der COP27 schlägt stattdessen Scheinlösungen wie „Carbon Farming“ oder die so genannte „climate smart agriculture“ vor. So geht zum Beispiel beim Konzept „climate smart agriculture“ die pfluglose Bodenbearbeitung oft einher mit dem großflächigen Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln wie Glyphosat. Entscheidungsträger*innen sollten diesen Vorschlägen daher mit Skepsis begegnen und sich für eine kritische Debatte unter Beteiligung von Perspektiven und Akteur*innen aus dem Globalen Süden einsetzen.