Petra Kelly und die Oppositionellen in der DDR: "Die Unterstützung, die wir brauchten"

Essay

Die Gründung der Grünen 1980 wurde von den Friedensgruppen in der DDR mit Sympathie und Hoffnung aufgenommen. Sie fühlten sich in das Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsprogramm dieser neuen Partei einbezogen. Ulrike Poppe, damals Bürgerrechtlerin und Oppositionelle in der DDR, schildert ihre gemeinsamen Begegnungen und politische Erfahrung.

Grüne-Bundestagsabgeordnete präsentieren Plakate der Friedensbewegung bei Honecker 1983
Teaser Bild Untertitel
Die Grünen Lukas Beckmann, Dirk Schneider, Otto Schily, Petra Kelly, Gerd Bastian mit Erich Honecker 1983 in Berlin

Manchmal denke ich darüber nach, wie Petra Kelly sich wohl zu den aktuellen Ereignissen in der Welt verhalten würde. (…) Aber viele Fragen bleiben offen. (…) Dass sie vor so jäh und gewaltsam aus ihrem Leben gerissen wurde, ist für mich unfassbar geblieben. Ihre klare, lebhafte Stimme, ihr leidenschaftlicher, oft pausenloser Redeschwall, mit dem sie ihre Zuhörer in den Bann zog, und ihr herzliches Lachen sind mir bis heute präsent.*

 Sie kam aus einer Welt hinter der Mauer, die die meisten von uns, die wir in der DDR aufgewachsen waren, nicht aus eigener Anschauung kannten. Und doch war keine Fremdheit spürbar. Sie erzählte von der Anti-Parteien-Partei, dem Standbein in der Basis, von transparenter Politik und gewaltfreiem Widerstand. Und sie erklärte, dass die Friedenspolitik der Grünen das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung einschließe. Als friedensbewegte DDR-Bürgerinnen und -bürger fühlten wir uns ihr sofort verbunden. Zusammen mit Gerd Bastian saß sie unzählige Male in unseren verräucherten Küchen oder Wohnzimmern. Oft kamen beide unangemeldet und erlebten so ein Stück von unserem Lebensalltag, das Ofenheizen und Kinder-ins-Bett-bringen neben der Diskussion um den Weltfrieden. Nach ein, zwei Anrufen füllte sich die Wohnung mit Freunden. Wir nahmen nicht nur begierig ihre Erzählungen auf, sondern ließen uns auch von ihrer Unbedingtheit, ihrer Offenheit und Leidenschaftlichkeit mitreißen. Sie wirkte ruhelos. Jede Sekunde des Lebens wollte sie ausschöpfen, um etwas zu bewegen, Gefahren zu bannen, Leid zu mindern. Dabei wirkte sie äußerlich zerbrechlich, mit ihrer blassen Haut und den tiefen Schatten unter den Augen. Aber, wenn sie zu reden begann, schien sie mit unerschöpflicher Energie aufgeladen.

Die Gründung der Grünen wurde von den Friedensgruppen in der DDR mit Sympathie und Hoffnung aufgenommen. Wir fühlten uns einbezogen in das Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsprogramm dieser neuen Partei.

Kleine Friedensdemonstration auf dem Alexanderplatz 

Am 12. Mai 1983 stellte sich eine kleine Gruppe von grünen Bundestagsabgeordneten mit Transparenten auf den Ostberliner Alexanderplatz. Die erstaunten Vorbeigehenden konnten darauf lesen: „Schwerter zu Pflugscharen“ und „Jetzt anfangen: Abrüstung in Ost und West“. Aber nur wenigen war dieser ungewöhnliche Anblick vergönnt, denn die kleine Demonstration wurde umgehend durch DDR-Sicherheitskräfte aufgelöst. Petra Kelly, Gerd Bastian, Gabi Potthast, Lukas Beckmann, Milan Horacek und Roland Vogt wanderten in einen mehrstündigen Arrest. Aus den Reihen der Grünen kam der Vorwurf, eine „mediengerechte Show“ geliefert zu haben. Mit dem Hinweis auf die „unterschiedlichen nationalen und gesellschaftlichen Bedingungen“ und der Beschwichtigungsformel von der „Nichteinmischung“ wurde die Aktion von Grünen und der AL heftig kritisiert. Die innerparteilichen Kontroversen machten für uns deutlich, wie weit entfernt einige der grünen Politikerinnen und Politiker von uns und unseren politischen Vorstellungen waren. Nichts fürchtete diese Diktatur mehr als die Öffentlichkeit. Und wenn durch eine spektakuläre Aktion die Aufmerksamkeit auf die Unterdrückung eigenständiger Friedensinitiativen gelenkt wurde, dann war das genau die Unterstützung, die wir brauchten. Daher reagierten die Oppositionellen in der DDR mit Zustimmung. „Ihre solidarische Aktion unterstützt uns in unserem anhaltenden Bemühen um die Zulassung spontaner öffentlicher Friedensbekundungen“[1], hieß es in unserer Grußadresse an die Teilnehmer der zur selben Zeit stattfindenden 2. END-Konferenz (European Nuclear Disarmament).

Treffen mit Honecker und Friedensbewegung

Als fünf Monate später, am 31. Oktober 1983, eine Delegation grüner Abgeordneter bei Honecker war, beschwerte sich Petra Kelly über die Festnahmen: „Wir haben die Aktion auf dem Alexanderplatz deshalb gemacht, um für die Menschen hier einen winzigen Freiraum zu erreichen. Die Realität hier beweist allerdings die Heuchelei Ihrer Regierung. [...] Die blockfreie Friedensbewegung besteht auf dem Recht, überall gewaltfreie Aktionen durchführen zu dürfen.“[2] Das war eine klare Sprache!

Noch am selben Abend, im Anschluss an den Honecker-Besuch, trafen die Grünen in der Wohnung von Pfarrer Eppelmann mit Mitgliedern der DDR-Friedensbewegung zusammen. Dort begegnete ich Petra Kelly zum ersten Mal. Sie trug ihr weißes T-Shirt mit dem Aufdruck „Schwerter zu Pflugscharen“. Seit Anfang 1982 verfolgten die Staatsorgane der DDR alle Träger dieses christlich-biblischen Symbols. Wer mit diesem Emblem als Jacken-Aufnäher in die Schule, Hochschule oder auf die Straße ging, musste damit rechnen, festgenommen und bestraft  zu werden. Obwohl diese stilisierte Abbildung des New Yorker Denkmals des sowjetischen Künstlers Wutschetitsch das erklärte Ziel sowjetischer und ostdeutscher Friedenspolitik wiedergab, sahen die SED-Funktionäre darin den Widerspruch zu ihrer Logik der Aufrüstung und fühlten sich in Erklärungsnöten. Petra Kelly, mit ihrem klaren politischen Instinkt, präsentierte diesen Widerspruch zwischen offizieller Absichtserklärung und Unterdrückung derer, die diese Absichten ernst nahmen. Sie bekundete damit öffentlich ihre Solidarität mit der DDR-Friedensbewegung, die dieses Symbol zu ihrem Leitmotiv gemacht hatte.

Als sich gegen Ende der siebziger Jahre in Reaktion auf die Rüstungseskalation die Friedensbewegung langsam weltweit entwickelte, kam es auch in der DDR zu Protesten gegen die Abschreckungslogik, gegen Fortschrittsgläubigkeit, Geschichtsdeterminismus und ideologische Einäugigkeit. Petra Kelly ließ nichts unversucht, um diese neuen Bewegungen zu ermutigen und zu unterstützen. Schon zur ersten Begegnung bei Pfarrer Rainer Eppelmann brachten die Grünen umfangreiche Informationsschriften mit über ihre politischen Ziele, über die friedenspolitischen Debatten und die Friedensbewegung weltweit. Gesprochen wurde vor allem über die Möglichkeiten, die Kontakte zwischen den Grünen und den Friedensbewegten in der DDR weiter auszubauen und gemeinsame Aktionen zu planen.

Unterstützung der DDR-Opposition

Dass sich die grüne Delegation gleich nach dem Honecker-Treffen mit der Opposition zusammensetze und uns sozusagen brühwarm alle Einzelheiten des Gespräches mit der DDR-Staatsführung mitteilte, war in mehrfacher Hinsicht ein bedeutendes politisches Signal. Es zeigte an, dass man mit Diktatoren reden kann, ohne sich durch diplomatische Rücksichten zu verbiegen. Natürlich was das T-Shirt von Petra eine Provokation. Auch der Friedensvertrag, der dem Parteichef zur Unterschrift angeboten wurde, war den SED-Funktionären sichtlich unangenehm. Mit der Aufkündigung der bisher üblichen Geheimdiplomatie, der ausschließlich auf die „Königsebene“ gerichteten politischen Strategien, zeichneten die Grünen den Weg aus der Blockkonfrontation vor. Nicht das militärische und ökonomische Kräftemessen führt aus der friedensbedrohlichen Situation heraus, sondern die partnerschaftliche Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Kräfte, seien sie auch zahlenmäßig gering und politisch noch wenig wirksam. Durch die Gespräche mit DDR-Oppositionellen machten die grünen Politikerinnen und Politiker deutlich, dass sie diese Kräfte ernst nahmen und auf sie hofften.

Klare Haltung gegenüber der DDR-Führung

Die Kontakte mit den Herrschenden wurden genutzt, um auf Erweiterung der Aktionsmöglichkeiten für die Basiskräfte zu dringen. „Ich würde Sie bitten zu erklären, Herr Honecker, warum Sie hier verbieten, was Sie bei uns bejubeln. [...] An diesem Punkt ist Ihre Regierung nicht glaubwürdig. Wir möchten Sie auffordern, die Friedensbewegung nicht weiter zu behindern.“ Das verlangte Petra Kelly vom SED-Parteichef während des Gespräches 1983.[3]

Dann begehrte sie, die Hallenser Friedensaktivistin Katrin Eigenfeld im Gefängnis besuchen zu dürfen, um sich ein eigenes Bild von ihrer Lage zu machen. Aus der Befürchtung, dass sowohl ein Besuch Kellys in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt als auch die Verweigerung der Besuchserlaubnis das Image Honeckers als Friedenspolitiker weiter beschädigen könnten, wurde Katrin Eigenfeld kurzerhand freigelassen.

Am folgenden Tag, nach dem Abend bei Eppelmann, kamen Petra Kelly, Gerd Bastian und Lukas Beckmann wieder nach Ost-Berlin. Petra Kellys besonderes Interesse galt der Gruppe „Frauen für den Frieden“, die in den letzten Monaten besonders aktiv war.  Außerdem wurde eine erste gemeinsame Aktion für den 4. November geplant. Gemeinsam sollte ein „Offener Brief an die Völker der UdSSR und der USA“ in den jeweiligen Botschaften überbracht werden. Die Staatssicherheit verhinderte dieses Vorhaben und nahm über hundert Personen fest, von denen eine Teilnahme erwartet wurde. Petra Kelly und vielen ihrer politischen Mitstreiter wurde danach die Einreise in die DDR verweigert.

Einsatz für politische Gefangene

Noch im selben Jahr wurden Bärbel Bohley und ich verhaftet. Zwar hatten wir im Stasi-Gefängnis keine Möglichkeit zu erfahren, was an Solidaritätsaktionen außerhalb stattfand. Aber wir waren uns sicher, dass Petra Kelly und einige anderen Grüne sich für uns einsetzten. Petra Kelly nutzte alle Möglichkeiten, auch die diplomatische Ebene, um bei der DDR-Staatsführung unsere Freilassung zu bewirken. Unter anderem wandte sie sich an die Außenminister Kanadas und Frankreichs, die beide einen Besuch in der DDR planten. Sie bat Olof Palme und Willy Brandt, bei Honecker zu intervenieren. Mit Erfolg, nach sechs Wochen kamen wir frei. Unsere Haftentlassung machte allen Beteiligten bewusst, dass die Macht des hochgradig abgesicherten DDR-Staatsapparates begrenzbar ist, wenn viele sich zum Protest zusammenschließen.

Petra Kelly hat sich all die Jahre hindurch für Inhaftierte in der DDR eingesetzt. Sie war immer eine der ersten, die nachfragte, was geschehen war, die sich persönlich an Honecker wandte und die bundesdeutsche oder auch die Weltöffentlichkeit um Unterstützung bat. Allein die öffentliche Aufmerksamkeit bedeutete für uns Schutz und Ermutigung.

Petra Kelly engagierte sich weltweit

Petra Kellys Solidarität galt allen in der Welt, die verfolgt, unterdrückt, benachteiligt und gedemütigt wurden. Sie litt in hohem Maße mit, aber aus diesem Mitleid erwuchs bei ihr eine unbändige Aktivität, ein unbedingter Einsatz für Menschenrechte. Sie erzählte uns von ihrem Engagement für Ureinwohner, Tibeter, die chinesische Demokratiebewegung, den Bergarbeiterfrauen in Bolivien, den Müttern der Plaza de Mayo und krebskranken Kindern. 

Im Dezember 1984 konnten uns Petra Kelly und Gerd Bastian wieder besuchen. Bis zum Herbst 1989 kam es zu weiteren 20-25 Treffen in Ost-Berlin. Darüber hinaus vermittelte Petra Kontakte mit Menschen, die in Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen anderer Ländern tätig waren, ließ Informationsmaterial herüberbringen und warb überall um Solidarität mit den Oppositionellen im Ostblock.

Viele von uns, die wir in oppositionellen Gruppen aktiv waren, hatten eine totale Reisesperre, durften also nicht einmal ins östliche Ausland fahren. Die Kontakte zur Dissidenz in den anderen kommunistischen Ländern wurden daher zu großen Teilen durch Freunde aus Westdeutschland und Westberlin vermittelt. Allerdings erhielten viele unserer Besucher Einreisesperren. Mit einem Diplomatenstatus war die Einreise eher möglich, aber auch hier gab es Restriktionen. Petra Kelly aber ließ nicht locker, immer wieder die Reisemöglichkeiten einzuklagen.

Mit Honecker führte sie einen Briefwechsel. Darin griff sie oft die offiziellen Verlautbarungen des Staatschefs auf und konfrontierte ihn mit den Realitäten im Land, der Unterdrückung der Friedensbewegung. Sie beschwerte sich darüber, dass ein Spion der Staatssicherheit an ihre Seite geschleust wurde. Und sie beschwerte sich darüber, dass Bücher von ihr und anderen Friedensaktivisten in Hausdurchsuchungen bei DDR-Friedensfreunden zu staatsfeindlicher Literatur erklärt und konfisziert wurden. „Ich fürchte mich nicht“, schrieb sie in einem Brief 1985, „dass unsere Stimmen – das ‚Nicht-Schweigen´ – womöglich der Sache der Entspannung schaden könnten. Wie Adam Michnik aus Polen geschrieben hat; wie Heinrich Böll uns oft erinnert: ‚Keine Entspannung ist möglich, so lange die Menschenrechte, die ihr Fundament bilden, nicht respektiert werden´.“[4] Wie sehr hätten wir uns gewünscht, dass Protagonisten der Entspannungspolitik ein wenig mehr von Petra Kellys menschenrechtlicher Konsequenz gehabt hätten!

Petra Kelly war eine echte Freundin

Petra Kelly kam nicht nur als politische Verbündete und Botschafterin in die DDR. Sie kam auch als Freundin. Bei aller politischen Leidenschaft blieb auch immer Raum für die ganz persönliche Nähe. Sie kam mit Geschenken für die Kinder, sie brachte Blumen und Fotoalben mit. Sie schickte uns Weihnachts- und Geburtstagsgrüße. Zu Silvester riefen Petra und Gerd an, um uns Kraft und Zuversicht für das neue Jahr zu wünschen. Und sicher telefonierten sie nicht nur nach Ost-Berlin, auch nach Dresden, Leipzig, Prag, Budapest, Lhasa oder Buenos Aires. Manchmal frage ich mich, wieviel wir ihr eigentlich von dieser Herzlichkeit auch zurückgegeben haben, ob wir nicht zu sehr die Nehmenden waren. Für sie war politisch verantwortliches Handeln von Liebe und Barmherzigkeit nicht zu trennen. Aber auch ihre Empörung konnte heftig sein. Nichts hasste sie so wie Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit. Wenn sie manchmal von vergeblichen Mühen, von frustrierenden Erfahrungen auch mit ihren grünen Mitstreiterinnen und Mitstreitern berichtete, ließ sie ihrem Zorn freien Lauf. Aber gleich danach konnte sie wieder lachen. Diese Kämpfe würden zwar Nerven kosten, aber ohne Kampf ist eine bessere Welt nicht zu haben.

Trotz aller politischen Leidenschaft fehlte es ihr durchaus nicht an Augenmaß. Ohne Augenmaß hätte sie wohl nicht den  richtigen Ton gefunden, der es ihr ermöglichte, auch mit den Herrschenden im Gespräch zu bleiben.

Ihre Besuche waren immer ein Ereignis. Wenn Petra und Gerd an unserem Tisch saßen, hatten die Anwesenden den Eindruck, an einem Stück Geschichte teilzuhaben. Und wenn sie wieder verschwanden, dann blieb etwas in der Wohnung zurück: das Gefühl, in einen politischen Raum einbezogen zu sein, der sich über die Blockgrenzen hinaus erstreckt, und in ein politisches Handeln, das auch jenseits von machtpolitischem Kalkül nach Maßstäben sucht. Zurück blieben auch die Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und kopierten Texte, die sie uns mitgebracht hatten. Manchmal luden sie eine ganze Kofferraumladung Informationsmaterialien aus, vor den Augen der Staatssicherheit, die nicht einzuschreiten wagte. Die Texte gingen von Hand zu Hand und waren für die oppositionellen Gruppen existentiell wichtig.

Während der zeitweilige deutschlandpolitische Sprecher der Grünen, Dirk Schneider, die blockübergreifende Loyalität als „falsch und geschichtslos“ bezeichnete, hielten Petra Kelly, Gerd Bastian, Lukas Beckmann, Elisabeth Weber, Milan Horacek, Uli Fischer und andere unbeirrt daran fest. Für sie blieben die blockübergreifende Zusammenarbeit und die „Entspannung von unten“ vorrangig. Kontroversen gab es aber auch über die Bewertung der Menschenrechte gegenüber der Friedensfrage. Die Mitte der achtziger Jahre gegründete „Initiative Frieden und Menschenrechte“, eine der radikalsten oppositionellen Gruppen in der DDR, machte den Zusammenhang von Frieden und Menschenrechten sogar zu ihrer Kernthese. In einer Diskussion in Ost-Berlin erklärte Dirk Schneider, dass die Menschenrechtsfrage im Ostblock zu einem Instrument des Kalten Krieges verkäme, wenn man sie mit der Frage nach dem Frieden verknüpfte. Die anwesenden Ostdeutschen reagierten bestürzt darüber, solche Meinungen aus den Reihen der Grünen zu hören. Innerhalb der DDR-Friedensbewegung gab es einen breiten Konsens über die gegenseitige Bedingtheit von innerem und äußerem Frieden.

Auch die Gewaltfreiheit war Konsens und verband uns mit Petra Kelly. Zwar waren nicht alle Friedensbewegte in der DDR Pazifisten. Auf die bedrohliche Situation aber, in der sich die mit Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten Blöcke gegenüber standen, konnte nur mit Gewaltverzicht reagiert werden. Auch der Diktatur, die sich nur mit Gewalt aufrechterhielt, war mit Mitteln des öffentlichen Protestes, mit phantasievollen Aktionen und mit zivilem Ungehorsam wirkungsvoller zu begegnen, als mit Gewehren oder Steinen. Petra Kelly aber lehnte die Gewalt nicht nur aus taktischen Gründen ab. Sie war in der Gewaltfrage gewiss radikaler als die meisten ihrer DDR-Freundinnen und -Freunde. Ob sie bis heute bei ihrer konsequenten Haltung geblieben wäre? In der damaligen Situation jedenfalls hat das strikte Festhalten am Gewaltverzicht den friedlichen Verlauf der Revolution ermöglicht.

 

Im Jahre 1989 schlug uns Petra Kelly vor, den Dalai Lama nach Ost-Berlin einzuladen. Im Dezember sollte er in Stockholm den Friedensnobelpreis überreicht bekommen. Auf dem Weg dorthin würden wir ihn in Berlin empfangen können. Die DDR-Führung war Ende 1989 schon so verunsichert, dass sie es nicht mehr wagte, unseren Antrag auf Einreisegenehmigung und Personenschutz des geistlichen Oberhaupts der Tibeter abzulehnen. Lieber riskierte sie den Protest Chinas, der auch prompt folgte.

Zusammen mit Petra Kelly und Gerd Bastian empfingen wir diesen ungewöhnlichen Mann, der sich beharrlich für die Unabhängigkeit seines Volkes einsetzt und zugleich als Anwalt des Friedens und der Verständigung konsequent nach gewaltfreien Lösungen sucht. Im weißen Saal des Bonhoeffer-Hauses am Bahnhof Friedrichstraße tranken Petra Kelly, Gerd Bastian und der Dalai Lama gemeinsam Tee mit den Mitgliedern der Bürgerbewegungen „Neues Forum“, „Demokratie Jetzt“, „Initiative Frieden und Menschenrechte“, „SDP“ und anderen. Wir sprachen über glaubwürdige Politik, über Mut und Phantasie für neue, ungewöhnliche Wege, über Parteinahme für Entrechtete und darüber, dass wir an die Menschen glauben sollten, nicht an die Macht. Einen Tag später fand in eben diesem Saal die erste Sitzung des Runden Tisches statt, und die konkreten Vorbereitungen für die ersten allgemeinen, freien und geheimen Wahlen in der DDR nahmen ihren Anfang.


Der Text erschien erstmals in „Petra Kelly – Eine Erinnerung“ (2007) und wurde für diese Veröffentlichung leicht redigiert.


Fußnoten

[1] An die Teilnehmer der 2. Konferenz für europäische atomare Abrüstung in Berlin (West), 14.05.83, PKA, Akte 74.

[2] Vorläufiges Gedächtnisprotokoll des Gesprächs mit dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 31.10.1983, PKA, Akte Nr. 332, S. 5.

[3] PKA, Akte 332, S. 3, Gedächtnisprotokoll Petra Kelly vom Besuch bei Honecker, 31.10.83.

[4] Brief Petra Kellys an Erich Honecker vom 15.1.1985, S. 3f, PKA, Akte Nr. 350.