»Beginne dort, wo Du bist.« Das Leben der Petra Kelly

Hintergrund

Petra Kelly, sie war die zentrale Gründungspersönlichkeit der Grünen: empathisch, visionär, emotional, fordernd, selbstbewusst, versöhnend, unideologisch, eine Kämpferin für Menschen- und Bürger:innenrechte und eine überzeugte Europäerin. Lukas Beckmann schreibt hier als enger Vertrauter und politischer Weggefährte.

Petra Kelly mit Heinrich Böll bei einer Friedensdemonstration
Teaser Bild Untertitel
Heinrich Böll (oben links, Annemarie Böll (neben Heinrich Böll) und Petra Kelly (Mitte unten) auf einer Demonstration 1983 vor einem US-Luftwaffenstützpunkt in Mutlangen

Petra Kelly, sie war die zentrale Gründungspersönlichkeit der Grünen. 1979 Mitgründerin und Spitzenkandidatin zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments, dann Parteivorsitzende, von 1983 bis 1990 Mitglied des Bundestages, in Deutschland geboren, in den USA aufgewachsen, empathisch, visionär, emotional, fordernd, selbstbewusst, versöhnend, unideologisch, eine Kämpferin für Menschen- und Bürger:innenrechte und eine überzeugte Europäerin. Eine Frau, die in der politischen Auseinandersetzung mit der von Männern dominierten Machtwelt den Unterschied machte, überzeugte und viele weit über das grüne Spektrum hinaus begeisterte. Politisch wurde sie in den USA, erste Wahlkampferfahrungen machte sie im US-Präsidentschaftswahlkampf 1968, in dem sie sich für Senator Robert F. Kennedy und dessen Vize-Präsidentschaftskandidaten Hubert H. Humphrey engagierte. Schon im ersten Jahr ihres Studiums organisierte sie an der American University in Washington einen internationalen Kongress, den es bis dahin dort nicht gegeben hatte. Petra dachte international. Sie konnte gar nicht anders. Und wenn sie es dennoch musste, wurde ihr die Welt zu klein.

Am 1. Oktober 1992 wurde Petra im Alter von 44 Jahren von ihrem Partner Gert Bastian im Schlaf erschossen. Danach tötete er sich selbst. An Petras Beerdigung auf dem Waldfriedhof in Würzburg bezeugten über 5.000 Menschen ihre Anteilnahme. Nach ihrem Studium arbeitete sie fast zehn Jahre als Verwaltungsrätin bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Schon vor Gründung der Grünen verfügte sie über ein internationales Netzwerk von Umwelt- und Fraueninitiativen, das sie auf ihren Reisen nach Japan, Tasmanien, Australien, den USA, Irland, den Ländern Europas und innerhalb von Deutschland aufgebaut hatte. In den 70er Jahren war sie während ihrer beruflichen Tätigkeit in Brüssel Vorständin im „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) und im Forum „Junger Europäischen Föderalisten“ (JEF). Ihre weltumspannende (analoge) Adressdatenbank war einmalig.

Petra Kelly stand für eine neue Form von Politik

Im politischen Spektrum der Grünen galt Petra weder als Linke noch als Reala. In der Öffentlichkeit stand sie als Person für eine neue Form von Politik, in der sich Frauen laut, sachkundig und selbstverständlich zu Wort melden, sich selbst ermächtigen und einen Machtanspruch erheben. Sie hatte den Ruf einer kompromisslosen Frau, die alles will und die Realität der demokratischen Möglichkeiten im Geflecht vieler Interessen beiseiteschiebt. 50 Jahre nach dem Buch „Die Grenzen des Wachstums“ und in einer zeitlichen Distanz von über 40 Jahren seit Gründung der Grünen müssen wir uns die Frage stellen, was wir substanziell erreicht haben. Was ist realistisch an einer Realpolitik, die ihren Aufgaben nicht gerecht wird? Diese Frage richtet sich an alle Parteien, die die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit wesentlich mitgeprägt haben. Die Daten zur Bedrohung alles Lebendigen durch die Erwärmung der Erde und zur fortschreitenden Zerstörung unserer ökonomischen und damit auch sozialen Lebensgrundlagen lagen spätestens Ende der 70er Jahre auf dem Tisch.

Als 2018 „Fridays for Future“ auf die Bühne trat, fiel öfter auch ihr Name: Petra Kelly. Sie hätte den Plenarsaal des Bundestages verlassen und sich den Demonstrationen angeschlossen. Das liegt in der Tat nahe und sie wäre sicher dabei gewesen. Weniger Aufmerksamkeit hat bis heute jedoch ihre Grundhaltung der Unteilbarkeit von Frieden und Menschenrechten erfahren und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben können.

Oder: Dass Putin seine erste Wahl als Präsident Russland nur mit Hilfe des zweiten, eines brutalen Krieges gegen die Bevölkerung Tschetscheniens hatte gewinnen können, war bekannt. Es folgten Kriege gegen Georgien, die brutale militärische Einmischung in Syrien gegen die Zivilbevölkerung, die Annexion der Krim und schließlich der Angriffskrieg gegen die Ukraine, während parallel dazu Deutschland seine wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland spätestens seit Nord Stream 1 (2005) mehr und mehr ausbaute. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, Politik eine realistische Ausrichtung zu geben?

Petra Kelly hätte nach dem Angriffskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine alles in Bewegung gesetzt, um mit einer internationalen Delegation staatlicher Repräsentant*innen und natürlich auch zivilgesellschaftlicher Organisationen (auch mit Menschen aus der Ukraine) bei Putin zu intervenieren und ein Gespräch zu fordern. Aber dabei hätte sie es nicht belassen. Petra hätte für das Leben und die Rechte der Ukrainer:innen gekämpft. Hätte sie auch eine Unterstützung mit Waffen unterstützt? Sie kann darauf selbst nicht antworten, aber wir können sie davor schützen, ideologisch instrumentalisiert zu werden. Petra hat sich in den USA in der Schule und an der Universität aus der Sicht einer US-amerikanischen Deutschen und einer deutschen US-Amerikanerin mit der deutschen Geschichte und den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Frieden und Menschenrechte waren für sie systemübergreifend unteilbar. Ihre Reden in der Friedensbewegung der 80er Jahre richteten sich immer auch gegen jene Appeasement-Politik, die in Moskau, Warschau, Prag, Ost-Berlin, Pretoria und Ankara zu einem unerträglichen Schweigen führte, wenn es um die politische Unterdrückung von Andersdenkenden und um Menschenrechte und Selbstbestimmung ging. Petra Kelly war stark geprägt von Martin Luther King und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und sie hat sich mit Theorie und Praxis von Mahatma Ghandi lange beschäftigt. Gleichwohl hat sie nie die Überzeugung vertreten, dass Hitler auch mit den Mitteln eines gewaltfreien Widerstandes hätte besiegt werden können. Auch war sie nicht gefährdet, sich Illusionen zu machen über den Stalinismus in der Sowjetunion. 20-jährig war sie am 21. August 1968 in Prag, als sowjetische Panzer den „Prager Frühling“ in der Tschechoslowakei stoppten und schrieb darüber und über ihre Ablehnung jeder Form totalitärer Macht.

Ihr Motto „Beginne dort, wo du bist“ hätte auch heute für sie mit Blick auf die Ukraine gegolten, wenn ihr das Leben nicht im Alter von erst 44 Jahren im Schlaf mit Waffengewalt genommen worden wäre.

Was hat Petra Kelly geprägt?

Ich will in diesem Beitrag auf ihre Kindheit, ihre Schulzeit, auf ihr Studium, ihre ersten Berufsjahre in Brüssel und auf die Gründungsjahre der Grünen beschränken. Die Grüne Partei, seit 193 Bündnis 90/Die Grünen, bleibt ihr Vermächtnis auch ungeachtet der Entfremdung, die sich in den letzten Lebensjahren Kellys zwischen ihr und der Partei eingestellt hatte.

Die ersten Jahre: Trennung der Eltern, Umzug in die USA, Eindrücke

Petra Karin Kelly wurde am 29. November 1947 in Günzburg geboren. Ihre Mutter: Margarethe Marianne Birle, geboren am 11. Dezember 1929. Ihr Vater: Richard Siegfried Lehmann, geboren am 19. Februar 1924. Die Eltern werden 1954 geschieden. Petra Kelly sieht ihren Vater seit der Trennung der Eltern nicht mehr. Die Mutter heiratet in zweiter Ehe John Edward Kelly. Er ist Oberst der US-Armee, in Würzburg stationiert. Im Mai 1959 wird Petras Schwester Grace Patricia Kelly geboren. Ende dieses Jahres zieht die Familie mit beiden Kindern in die USA. Dort wird 1960 Petra Kellys Bruder, John Lee Kelly, geboren. 1966 erkrankt Grace Patricia Kelly an Krebs. Wenige Monate vorher hatte Petra Kelly ihr Studium an der American University in Washington aufgenommen. Die Eltern leben noch ein knappes Jahr in den USA, ziehen dann wieder zurück nach Würzburg, auch um der schwerkranken jüngeren Tochter die bestmögliche medizinische Betreuung an der Universitätsklinik in Heidelberg zu ermöglichen. Im Februar 1970 stirbt Grace Kelly im Alter von 11 Jahren an Krebs. Im gleichen Jahr verlässt John Kelly die Armee, er arbeitet ab September 1971 in der Verwaltung eines Krankenhauses.

Die Jahre der Kindheit und Jugend sind für jeden Menschen prägend. Petra Kelly wurde durch den Wechsel von Deutschland in die USA und durch den frühen Tod ihrer jüngeren Schwester in einem besonderen Maße sensibilisiert. Sie hat seinerzeit selbst beschrieben, was sie gesehen und empfunden hat: „Die Umstellung von der altvertrauten Kleinstadt Günzburg auf das neue abenteuerliche Land war sehr groß. Die amerikanische Utopie, die ich mir immer durch Kinos oder Bücher in Europa vorstellte, wurde eine andere Wahrheit. Amerika wurde für mich ein kompliziertes Land, eines, das mit den Gegensätzen, der Auswahl, der Menge, der Individualität und dem Lebensweg einen bezaubern und gleichzeitig sorgen kann. Ja, es gab Autoschlangen, drei Fahrbahnen, Menschengewimmel, schreiend bunte Reklameschriften, riesige Straßenkreuzer, Polizeitrillerpfeifen, für mich ungewöhnlich, als ich im motorisierten Traum der Millionenstadt New York ankam. Ja, ich sah dort Geldscheine fliegen und Armut verfaulen. Das ist eine Szene aus einer Riesenstadt, einer Stadt der unheimlichen Gegensätze. Ich sah Menschen, die sich des Krieges wegen verbrennen und gleichzeitig wie mit Blei gefüllte gleichgültige Bürger, die nicht wählen gehen. Und ich sah diese Gegensätze zwischen Demokratie und Fanatismus. Ich glaube und sehe, dass dieses Land die Geschichte der Einwanderer ist. Darum gibt es die Gegensätze und dieses bunte Menschengewimmel und eine Deutsche, die begeistert ist, diese Geschichte der Einwanderer verfolgen und daran teilhaben zu können. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich mein Teilnehmen oft übertrieben habe, auch wenn es meine Gesundheit in Anspruch nahm, doch mein Ehrgeiz und meine Freude an der amerikanischen Hochschule waren am meisten schuld daran. Später möchte ich gerne in die diplomatische Bahn eintreten. Vielleicht habe ich das schon längst angefangen durch mein Interesse an Politik, öffentlicher Rede usw., aber ich wollte auch, seit ich hier bin, diplomatisch beweisen, dass die Deutschen vieles aushalten und fertigbringen können. […] Also habe ich Amerika gezeigt, so oft die Möglichkeit kam, was eine Deutsche leisten kann, und ich bin stolz zu sagen, dass ich das mit überraschendem Erfolg machte. Wenn das eingebildet sich anhört, dann will ich noch einmal wiederholen, dass ich alles den Leistungen, Fähigkeiten und der Grundweise von Günzburg aus dem Englischen Institut zu verdanken habe, denn dort wurden mein Charakter, meine Standards und mein Glauben gegossen und langsam in das jetzige Ich gemacht. Natürlich habe ich auch sehr viel Amerika zu verdanken, denn hier kämpfte ich, um diesen Charakter zu behalten und weiterzubilden. Hier entdeckte ich neue Talente in mir, kam auf wichtige Ideen […].“

Amerikanerin oder Deutsche?

Als Petra Kelly ihr Studium in den USA beginnen will, steht sie vor der Frage, ob sie sich an der American University in Washington als Amerikanerin oder als Deutsche und damit als Ausländerin einschreibt. Sie muss über ihre Staatsbürgerschaft entscheiden, und das treibt sie in eine große innere Zerrissenheit. Sie schreibt dazu: „Dazu wollte ich auch sicher sein, dass niemand mich für undankbar hält hier. Wenn ich als Deutsche bleibe, da auch mein Beruf und späterer Wohnort in Frage steht, da meine Familie jetzt amerikanisch ist und da meine einzigen wahren Verwandten Deutsche sind, gab es viel zu überlegen. Es ist wirklich nicht leicht, auch wenn man ein neues Land noch so sehr liebt, das Mutterland vor einem Richter abzugeben.“

Petra Kelly wird als Deutsche angesehen, doch gleichzeitig bekommt sie zu hören, sie sei so amerikanisch wie ein Cowboy, wie der Hot Dog und die rot-weiß-blaue Fahne. Sie ist zu dieser Zeit noch Abiturientin, Klassendichterin der Schule, Präsidentin vieler Schulclubs und Herausgeberin des Jahrbuchs der Schule. Seit einem Jahr macht sie eine Rundfunksendung in Virginia. Sie erhält ein französisches Stipendium und ist Gewinnerin bei staatlichen Redewettbewerben, „worin ich von Herzen über die Demokratie, Thomas Jefferson, Lincoln und John F. Kennedy sprach und die Richter mit meinen Ideen und Meinungen überzeugte“.

In Hampton wird sie 1966 die „erfolgreichste Abiturientin“ – eine Auszeichnung als beste Schülerin ihrer Schule unter 2300 Schülerinnen und Schülern. Sie wird Ehrenstudentin in Weltgeschichte, englischer und amerikanischer Literatur, Empfängerin der Leistungsmedaille der Stadt New York.

Vor Beginn ihres Studiums ist sie drei Wochen in Deutschland. Vor ihrer Abreise setzte sie sich nochmals mit der Frage auseinander, ob sie die amerikanische Staatsbürgerschaft annehmen solle oder nicht. Am Ende dieser Reise entscheidet sie sich dafür, die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten. In diese Zeit fällt auch eine andere innere Auseinandersetzung mit der Frage nach den gesellschaftlichen Systemen: „Ich glaube“, schreibt sie, „dass bis jetzt die beste Regierung eine demokratische Regierung ist, da man darin seine Individualität und sein Eigentum sichern kann. Man hat den Frieden, nicht friedlich zu sein, man ist frei, solange man niemand anders wehtut. Daran glaube ich sehr. Darin habe ich den größten Fehler der kommunistischen Welt gefunden, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Welt musste eine Art von Regierung eine große Mauer bauen, um die Leute dahinter zu behalten. In einer Demokratie gehen die Leute frei ihren eigenen Weg.“

Studium an der American University in Washington

Es folgt die Studienzeit an der Amerikanischen Universität in der amerikanischen Hauptstadt. Sie beginnt ihr Studium 1966. In der Kartei der Universität findet man sie auf der Liste unter den neuen Studenten; daneben ein braves Foto mit akademischem Hut, Spitzname Petie. Ein Jahr später erscheint sie bereits unter der Rubrik „Student Leaders“: Petra Kelly wird Mitglied im Vorstand des Studentenausschusses. Sie hat zu diesem Zeitpunkt ihren ersten erfolgreichen Wahlkampf bereits hinter sich. Sie kandidierte als Vertreterin der ausländischen Studenten, und ihr Slogan war „Vote for a strong woman!“.

Das Medieninteresse an diesem Wahlkampf brachte sie 1966, damals 19 Jahre jung, in eine Fernsehtalkshow mit Vizepräsident Hubert Humphrey, den sie wegen der Vietnam-Politik heftig kritisiert hatte. Ein Foto, das nach der Talkshow aufgenommen wurde, trägt eine persönliche Widmung Humphreys an Petra Kelly. Sie fiel ihm auf, schließlich war sie 1966 eine frühe Stimme des Protestes.

Petra Kelly liest zu dieser Zeit viel über den amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau und Die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Thoreau geht es um eine individuelle Erneuerung des Menschen, seine These lautet: Wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst beginnen. Ihr Buch Mit dem Herzen denken von 1990 leitet Petra Kelly mit den Worten ein: „Mein Lebensmotto ist: Beginne dort, wo du bist. Warte nicht auf bessere Umstände. Sie kommen automatisch in dem Moment, wo du beginnst. Denn die Probleme der Politik sind nicht mit Taktik zu lösen. Sie liegen nicht irgendwo da draußen, sie liegen in uns.“

Ein knappes Jahr nach Studienbeginn, im April 1967, organisiert Petra Kelly zum ersten Mal an der American University eine internationale Woche der ausländischen Studenten. Sie schafft es, eine Reihe hochkarätiger Sponsoren zu gewinnen. Als im März 1969 die dritte internationale Woche stattfindet, ist Petra Kelly wieder Chairman des Komitees. Im Vorwort der Programmbroschüre schreibt sie: „Um uns selbst zu sehen, wie wir wirklich sind, klein und Teil eines menschengemachten Durcheinanders, das nur die Menschen aufzulösen imstande sind, müssen wir uns als Geschwister zusammenfinden, um das Leben auf dieser Welt sanft zu machen.“

Das besondere außenpolitische Interesse von Petra Kelly wird in dieser Zeit zum ersten Mal deutlich. In die dritte internationale Woche integriert sie die erste internationale Studentenkonferenz mit Seminaren, Referaten und prominenten Teilnehmern zu Themen wie „Die Erwartungen der unterentwickelten Länder“ und „Internationale Auswirkungen des politischen und ökonomischen Wandels“. Der Widerhall in den Medien ist phänomenal. Die Washington Post bringt am 30. März 1969 einen ganzseitigen Artikel über Petra Kelly und schreibt: „Sie hat Robert Kennedy dazu gebracht, sich um ihr Stipendium zu kümmern, Hubert Humphrey, um sich zusammen mit Richard Nixon um ihre Aufenthaltsgenehmigung zu kümmern. Gegenüber Papst Paul setzte sie sich durch und schaffte es auch, für sich und ihre Kommilitonen fünf Stühle zu reservieren, als der Kardinal vor Bürgermeistern in den USA ein Statement abgab. Die Russische Botschaft gab ihr Kaviar – sonst nicht zu bekommen. Sie ist Petra Karin Kelly, 21 Jahre alt, eine deutsche Studentin an der AU. Ihr Studium ist Internationale Beziehungen. Sie macht und sie denkt.“

Die Notwendigkeit, politisch zu handeln, wird Petra Kelly, so sagte sie selbst, in einer Nacht klar, als sie im Hause ihrer Freundin Elsbeth Rostow Zeugin eines Telefonats wird. Der Vater der Freundin ist Sicherheitsbeauftragter des amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson. Sie sprechen über die für den folgenden Tag geplante Bombardierung von Dörfern und Städten in Vietnam. In der gleichen Nacht brennen Ghettos in Washington, unmittelbar nach der Ermordung von Martin Luther King jun. Petra Kelly war Ohrenzeugin geworden – und konnte nichts unternehmen. Aus dem Gefühl der Ohnmacht erwuchs in ihr der Wille sich einzumischen.

Wieder in Europa

Nach Beendigung ihres Studiums bekommt sie zunächst ein Stipendium für die Europäische Hochschule in Amsterdam. Sie ist gleichzeitig Referendarin bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaft. Die Erfahrungen in der Europäischen Kommission führten bereits in dieser Zeit – bevor sie 1973 EG-Verwaltungsrätin wurde – zu politischen Initiativen, die mit dem Konstituierungsprozess der Grünen zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979 inhaltlich in einem engen Zusammenhang stehen. Petra Kelly schreibt im März 1972 – sie ist 24 Jahre alt – ein Strategiepapier unter der Überschrift „Wir sind dabei, Europa zu bauen, aber wo sind die Europäer?“. Adressaten sind alle Gruppen der Europäischen Föderalistischen Bewegung. Sie schreibt: „Wie können wir, die wir die unterschiedlichsten Gruppen und Interessen der Gesellschaft und unterschiedliche politische Richtungen vertreten, eine Strategie entwickeln, um die europäische Hausfrau und den europäischen Studenten, Arbeiter, Geschäftsmann, Lehrer einzubinden in den Prozess der Europäisierung? Wie können wir den Kampf angehen gegen den Status quo, gegen den Ministerrat? Wie können wir den Europäern helfen, am Prozess der Demokratisierung zu partizipieren? Denn sie sind es, der Fiat-Arbeiter, der frustrierte Student in Paris, die Hausfrau in England, das Kind in Antwerpen, die die Möglichkeit haben müssen, ihre Anliegen vorzubringen. Denn für wen bauen wir schließlich Europa? Es ist hier und jetzt an der Zeit. Die Luft ist verschmutzt, die transnationalen Konzerne werden Monster, die Strukturen der Universitäten müssen harmonisiert werden, die Arbeiter sollen befreit werden vom Wahn des Produzierens nur um des Produzierens willen. Das Europa, das wir bauen, soll ein Europa der Menschen und Völker sein, nicht eins der Europaten. Wir brauchen Partizipation; wir wollen keine vereinigte Technokratie.“

In einem Vortrag auf Einladung der Theodor-Heuss-Akademie im selben Jahr skizziert sie die Probleme des europäischen Integrationsprozesses, wie sie bis heute aktuell sind: „Der Interessensausgleich oder der Fortgang der wirtschaftlichen und sozialen Integration hängt davon ab, ob die fundamentalen und dominierenden Interessen der Mitgliedstaaten miteinander vereinbar sind. Das eben impliziert weitgehend identische wirtschafts-, gesellschafts- und außenpolitische Zielvorstellungen.“

Bemerkenswert ist, dass Petra Kelly auch in der ersten Hälfte der 70er Jahre ganz Europa im Blick hatte, gesamteuropäisch dachte und sich mit einer verblüffenden Themenbreite in die politische Diskussion einmischte. So organisierte sie 1973 eine Veranstaltung zum Thema „Die Europäische Gemeinschaft, Motor für den sozialen Fortschritt?“ – u.a. mit einem Referat von Professor Nowak vom Westinstitut Posen zur „Sozialpolitik der EG aus der Sicht von Polen“ – und nahm im gleichen Jahr an einer deutsch-polnischen Woche in Saarbrücken teil. Und ein weiteres Thema zieht sich wie ein grüner Faden durch ihre Themen, denen sie sich vor allem in der Zeitschrift Forum Europa widmet: die Rechte der Frauen. Zum Internationalen Frauenjahr 1975 fordert sie eine EG-Arbeitskonferenz zum Thema: Krebsvorsorgeuntersuchungen für alle Frauen in Europa ab dem 35. Lebensjahr.

Die Zukunft Europas findet für Petra Kelly nicht nur in ihrem Beruf als EG-Verwaltungsrätin statt, sondern vor allem bei den Jungen Europäischen Föderalisten (JEF). In der von JEF herausgegebenen Zeitschrift Forum Europa arbeitet sie zunächst als Autorin, seit 1977 als Redakteurin. In der Ausgabe eben dieses Jahres ist auf der Rückseite zum ersten Mal der Button „Atomkraft – nein danke“ mit der Sonnenblume abgebildet. Petra Kelly schreibt in diesem Heft über den Uranabbau in Australien und seine Auswirkungen auf die Ureinwohner, die Aborigines.

Austritt aus der SPD

Petra Kelly wird in Brüssel Mitglied der SPD. Dort gibt es einen Ortsverein der SPD, dem sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der EG-Bürokratie angeschlossen haben. Am 17. Februar 1979, dem siebten Todestag ihrer Schwester Grace, erklärt sie ihren Austritt aus der SPD mit einem öffentlichen Brief an den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt: „Es war gewiss nicht einfach, diesen Entschluss zu fassen und die SPD zu verlassen, aber ich weiß auch zugleich, daß diese Entscheidung längst fällig war. Es ist eine Frage des Gewissens, und so entscheide ich mich zum Austritt am Todestag meiner kleinen Schwester Grace. Die Sozialdemokratische Partei und Sie in Ihrer Eigenschaft als Vorstandsmitglied der SPD sind dem sich aufdrängenden Zusammenhang zwischen Umweltbelastungen und Gesundheitsgefährdungen nicht gerecht geworden.“ Sie verweist in dem Brief an Helmut Schmidt auch auf den Widerstand am Kaiserstuhl gegen das Atomkraftwerk und in Kalkar gegen den Schnellen Brüter. Weiter schreibt sie: „Als Frau und Europäerin möchte ich Ihnen auch meine Enttäuschung vis-à-vis der frauenfeindlichen patriarchalischen Machtstruktur innerhalb der Partei übermitteln. Bis jetzt hat die SPD ihre Versprechen gegenüber den vielen berufstätigen engagierten Frauen und Müttern nicht eingehalten. Wir sind entmutigt von den vielen leeren Worten der SPD-Herren und suchen nach neuen Formen der politischen Vertretung.“

Die Bedeutung der außerparlamentarischen Bewegung

Eine wichtige Rolle in dieser Phase hat ebenfalls der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). Im Protokoll einer Sitzung von Oktober 1978 ist zu lesen, dass Petra Kelly mit der internationalen Arbeit des BBU beauftragt wird. Das führt sie erneut nach Japan, Australien, Irland und in andere Länder, und so wird sie zu einem wichtigen Teil der internationalen Vernetzung von Anti-Uran-, Anti-Atom-, Anti-AKW-Initiativen. In ihren Reden auf Demonstrationen in Kalkar, in Wyhl und auf vielen anderen Veranstaltungen nimmt sie immer wieder Bezug auf dieses internationale Netzwerk. Gleichzeitig pflegt sie ihre Kontakte in den USA, hält dort Vorträge und Verbindung zu offiziellen amerikanischen Institutionen.

Die ersten Jahre der Grünen

Am 16./17. März 1979 wird in Frankfurt-Sindlingen die „Sonstige Politische Vereinigung – Die Grünen“ gegründet und tritt am 10. Juni erstmals zur Europawahl an. Petra Kelly ist von Anfang an die herausragende Persönlichkeit und wird Spitzenkandidatin. Für den Wahlkampf lässt sie sich für zwei Monate beurlauben. Dies ist der Beginn der hohen Dauerbelastung, die sie in den folgenden Jahren immer wieder an den Rand ihres Leistungsvermögens brachte. Petra Kelly war von 1980 bis 1982 eine der drei Sprecherinnen der Partei. Sie füllte Säle mit 500 oder 1000, manchmal auch mit 2000 Menschen. Und oft genug reichten die Säle nicht aus. Auf dem Parteitag im November 1982 in Hagen kandidierte sie nicht wieder zum Bundesvorstand, weil sie für die Grünen Bayerns in den Bundestag wollte. Eine Rotation war notwendig und von Petra Kelly damals auch gewollt, aber nachdem sie mit den konkreten Schwierigkeiten der Einarbeitung in die parlamentarische Arbeit konfrontiert wurde, änderte sie ihre Meinung.

Im Frühjahr 1982 kam sie nach Bayern, um den dortigen Landesverband im Landtagswahlkampf zu unterstützen. Die Grünen scheiterten in Bayern mit 4,5 % nur knapp. Petra Kelly kandidierte damals in Kempten. Für diese Zeit in Kempten hat sie sich eine Zeit lang in Brüssel freigenommen, doch in der überwiegenden Zeit war sie parallel zu ihrem Parteiamt berufstätig. Das führte dazu, dass sie zu Beginn des Jahres 1982 schon keinen einzigen Urlaubstag mehr für das laufende Jahr hatte. Sie hatte alles bereits in den Jahren 1980 und 1981 aufgebraucht. Ein Blick in ihren Terminkalender aus dieser Zeit belegt, dass sie in einer Woche mehrere Veranstaltungen in Deutschland bestritt. Um 17 Uhr verließ sie das Büro in Brüssel, reiste mit dem Zug oder dem Flugzeug zu einem Vortrag oder einer Diskussion, fuhr mit dem Nachtzug zurück und war am nächsten Tag um 9.00 Uhr wieder im Büro – und so ging das jahrelang. Wenn sie den letzten Zug verpasst hatte, erfand sie immer eine plausible Erklärung dafür, warum sie erst um 10 Uhr oder 11 Uhr im Büro erschien.

Nach dem Europa-Wahlkampf zieht sie Bilanz und schreibt unter anderem an den Bundesvorstand der Grünen: „Als außerparlamentarische Parlamentarier in Straßburg und Brüssel haben Roland Vogt und ich trotz der perversen Fünf-Prozent-Klausel, die unseren Einsatz im Europaparlament verhindert hat, mit unseren gemeinsamen grünen Freundinnen und Freunden über die Grenzen hinweg versucht, die europäische ökologische Dimension für alle Grünen lebendig zu machen. Denn die Notwendigkeit, transnational, europäisch wie auch international als Grüne zu handeln, gewaltfrei zu agieren und zu mobilisieren darf niemals verdrängt werden, niemals vergessen werden.“

Sie verweist weiter in dem Brief auf die Notwendigkeit verlässlicher Organisationsstrukturen und fordert ein Mindestmaß an Professionalität, ohne die die Arbeit nicht mehr zu leisten sei.

Petra Kelly war keine Parteifunktionärin, sie hasste die Ineffizienz langer Sitzungen und nutzte diese Zeit oft, um Post zu erledigen. Sie begegnete den Menschen nicht förmlich, kam fast immer atemlos zum Thema – im Kopf eine ganze Datenbank mit Informationen über viele Missstände auf dieser Welt in sich gespeichert und immer präsent –, nicht etwa auf einem Computer übers Internet geladen, sondern mühsam erarbeitet. Sie hatte ein unglaublich gutes Gedächtnis und einen ausgeprägten Spürsinn für Stimmungen und weiterreichende gesellschaftliche Entwicklungen.

Petra Kelly verkörperte die Grünen als Person. Sie war die tragende, gestaltende und herausragende Persönlichkeit der Parteigründung und Gründungsphase und stand für eine blockübergreifende, freie und Ideologien überwindende Politik. Sie war amerikanisch sozialisiert und daher auch völlig unbefangen in ihrer Forderung nach Verwirklichung der Menschenrechte. Sie trug nicht die Vorsicht jener in sich, die als Bürger der Bundesrepublik Deutschland meinten, aus Verantwortung vor der deutschen Geschichte mit moralischen Urteilen über Recht und Unrecht zurückhaltend sein zu müssen.

Petra Kelly hat in ihren Reden und in ihren Aktionen immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, eine positive Kraft ins Werk zu setzen, um gesellschaftliche Veränderungen zu forcieren. Sie berief sich dabei auf Mahatma Ghandi, auf Martin Luther King, Erich Fromm und andere – und sie baute dabei auf eine vorausschauende politische Verantwortung. Sie folgte darin dem Philosophen Hans Jonas, der in seinem 1979 geschriebenen Buch mit dem Titel Das Prinzip Verantwortung sein Augenmerk auf die Folgen menschlichen Handelns aus moralischer Perspektive richtete und einen „ökologischen Imperativ“ formulierte: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Die Zukunftsverantwortung sah auch Kelly als einen Imperativ für grüne Politik.

West und Ost – Solidarität von unten

Im Prozess des grünen Gründungsprozesses vertrat Petra Kelly leidenschaftlich die Position einer Unabhängigkeit vom Blockdenken. In ihrer ersten Rede im Bundestag im Mai 1983 wandte sie sich an den Bundeskanzler: „Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kohl, halten wir Frieden und Menschenrechte für unteilbar. [...] Im Keller des Westens sowie im Keller des Ostens sind sehr viele Leichen. Die Friedensbewegung in Ost und West ist untereinander loyal und nicht den Militärblöcken gegenüber. [...] Wir stehen nicht allein, sondern zusammen mit der Freeze-Bewegung in den USA, mit vielen Kongressabgeordneten und Senatoren, mit unseren Freunden in der Solidarnosc, in der Charta 77 sowie in der Schwerter-zu-Pflugscharen-Bewegung in der DDR, mit Aktionsgruppen in allen Teilen der Welt werden wir unserer Pflicht zum bürgerlichen Ungehorsam nachkommen.“

Kurz danach beteiligte sich Petra Kelly an einer Protestaktion „Schwerter zu Pflugscharen“ auf dem Alexanderplatz in Ostberlin. Entschieden trat sie dafür ein, keinerlei Gesprächsangebot abzulehnen. Ihr Motto: Ich spreche mit jedem, der dies will, und ich vertrete dann meine Meinung, auch wenn es ihm nicht gefällt. So nahm sie im Oktober 1983 die Einladung zu einem Gespräch mit Erich Honecker an und trug dabei auf ihrem T-Shirt das Zeichen „Schwerter zu Pflugscharen“, dass in der DDR verboten war. Honecker begrüßt sie dennoch mit Händedruck – ein Bild, das in vielen westlichen Medien und in der „Aktuellen Kamera“ (DDR-Tagesschau) veröffentlicht wurde. Ähnlich verhielt sie sich bei einem sehr offiziellen Gespräch im Kreml: Ihr T-Shirt trug die Aufschrift: „Achtet die Menschenrechte!“ – „Verschrottet Eure Raketen!“ – von Lew Kopelew in Kyrillisch gezeichnet.

Diese öffentlich sichtbare Unterstützung der demokratischen Opposition in Osteuropa war ein wichtiger Teil ihrer Arbeit und ihres Politikverständnisses. Ein anderer Teil war die ganz unauffällige Hilfe und das direkte, politisch-persönliche Gespräch. Sie brachte Medikamente, Bücher und wichtige Artikel mit und suchte das Gespräch mit diesen mutigen Menschen, die eben auch ihre Stimme suchten: Bärbel Bohley und Gerd Poppe in Ostberlin, Lew Kopelew und Raissa Orlowa, ausgebürgert in Köln, Larissa Bogoras, Sergej Kowaljow, Andrej Sacharow in Moskau.

Die Friedensbewegung der achtziger Jahre

In den achtziger Jahren steht für Petra Kelly die Friedensbewegung im Vordergrund. Sie hatte als prominente Unterstützerin des Krefelder Appells und des Aufrufs der Russell-Peace-Foundation eine wichtige Funktion. Zum Kreis des Krefelder Appells stieß sie über Gert Bastian. Nach anfänglichen Zweifeln überzeugte er sie mitzumachen. Es gab zuvor andere, die erfolglos versuchten, sie für sich zu gewinnen. Petra Kelly befürchtete zu Recht, von Initiativen wie dem Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (Kofaz) oder anderen Vorfeldorganisationen der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) vereinnahmt zu werden.

Petra Kelly traf Gert Bastian im November 1980 erstmals in München auf einer Podiumsdiskussion zum Thema NATO-Nachrüstung. Sehr bald kam es innerhalb der Grünen zu einer Auseinandersetzung über die Stoßrichtung der Friedensbewegung, die Bedeutung der Blockfreiheit und die Bedeutung einer internationalen, auch die UdSSR und die Satellitenstaaten der UdSSR umfassenden Strategie. Ein Anstoß dafür kam von den Grünen in Baden-Württemberg auf dem sogenannten „Cannstatter Treffen“. Sie beschlossen, dass das für den 22. März 1981 vorgesehene Landesforum gegen Atomraketen (Krefelder Forum) ohne Vorbereitung der Grünen stattfinden werde, und teilten dies, unterschrieben von Marieluise Beck-Oberdorf, in einer Presserklärung mit.

Beim Vorbereitungstreffen zu diesem Forum hatten sich die Konflikte zwischen DKP-Sympathisanten und Vertretern der Grünen zugespitzt. Die Überzeugung, dass die Bedrohung der sozialen Bewegung in Polen, der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die systematische Verletzung von Menschenrechten in Osteuropa friedensfeindlich waren, wurde vom DKP-Spektrum selbstverständlich nicht geteilt.

Einige Tage nach dem Beschluss der Grünen in Baden-Württemberg schrieb Gert Bastian an Petra Kelly: „Sehr geehrte Frau Kelly, wie ich von Herrn Weber [Vorsitzender der von der Sowjetunion beeinflussten und finanzierten DFU – Deutsche Friedensunion] gehört habe, hat er schon mit Ihnen wegen der unverständlichen Presseerklärung der Grünen aus Baden-Württemberg gesprochen. Es ist mir unverständlich, was Frau Beck-Oberdorf [damals Landesvorsitzende der Grünen in Baden-Württemberg] bewogen haben kann, unseren gemeinsamen Bemühungen, den Widerstand der Bevölkerung auf breiter Basis zu mobilisieren, so schweren Schaden zuzufügen. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie der Schaden wenigstens halbwegs wiedergutgemacht werden kann. Herr Weber wird es vor Ort am 22. März 1981 versuchen. Aber letztlich kann das nur bei einer eindeutigen Stellungnahme des Bundesvorstandes der Grünen Erfolg haben. Auch wäre es gut, wenn Vorsorge getroffen würde, dass nicht andere Ortsverbände ähnlich vorschnell reagieren. Sicher verstehen Sie meine Sorge um eine vertretbare Entwicklung unserer gemeinsamen Initiative.“

Petra Kelly weist in einem Brief an Marieluise Beck-Oberdorf darauf hin, dass sie im Arbeitsausschuss des Krefelder Appells die Position der Baden-Württemberger verteidigt habe. Mehr noch: In der Folge fordert sie, in den Krefelder Appell hinein auch die Unterstützung u.a. der DDR-Friedensbewegung, der Bürgerrechtsbewegung, von Solidarnosç und der Charta 77 mit aufzunehmen. Sie konnte sich nicht durchsetzen. Schließlich distanzierte sie sich vom „Krefelder Appell“ und trat aus. Bastian folgte ihr.

Die letzten Tage im Leben von Petra Kelly

Bis heute fällt es vielen schwer, über Petra Kellys Tod zu sprechen. Unsicherheit stellt sich ein. Das rührt zum einen aus dem tragischen Moment ihres Todes her, zum anderen aus der Tatsache, dass die genauen Beweggründe Bastians für die Tat ungeklärt sind. Diese Umstände sind meines Erachtens ein wesentlicher Grund, warum auch die Grünen bis heute keine Sprache gefunden haben über ihr Leben, ihre Leistung und Verdienste und ihren bis heute von Fragen begleiteten Tod.

Ich traf Petra Kelly zusammen mit Gert Bastian zum letzten Mal am 7. September 1992 in meiner Wohnung in Bonn – drei Wochen vor ihrem Tod. Einige Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler aus Ostdeutschland waren dabei. Das Thema unseres Gesprächs war die Möglichkeit einer beschleunigten Akteneinsicht für Westdeutsche bei der Gauck-Behörde mit Unterstützung der Behördenleitung.

Wenige Tage später reisten Petra Kelly und Gert Bastian zu zwei großen internationalen Konferenzen – zunächst nach Salzburg und von dort nach Berlin. Aus Berlin kamen sie in der Nacht zum 1. Oktober zurück. Dies war anders geplant. Sie wollten von Berlin nach England zu einem Gespräch mit einem TV-Sender (das dann nach Berlin vorverlegt wurde) und anschließend zu einer Vortragsreise in die USA.

Die zuletzt bearbeiteten Faxe von Petra Kelly sind auf den 1.10.1992 datiert. Nach den polizeilichen Ermittlungen hat Gert Bastian Petra Kelly am 1. Oktober erschossen. In der Wohnung befanden sich zwei Revolver, die beide Gert Bastian gehörten. Dritte waren nach Erkenntnissen der Polizei nicht beteiligt. In der Münchener Wohnung von Gert Bastian stellte die Polizei drei weitere Pistolen sicher.

Ich habe am 1. Oktober – dem polizeilich ermittelten Todestag von Petra Kelly – um die Mittagszeit das letzte Mal mit Gert Bastian telefoniert. Ich hatte ein Fax mit der Bitte um Rückruf geschickt. Ein Nachbar leitete wichtige Informationen regelmäßig per Fax an die wechselnden Aufenthaltsorte weiter. Gert Bastian rief zurück und informierte mich, dass sie in der Nacht aus Berlin zurückgekommen seien. Ich bat ihn, bei Ingrid Köppe (MdB und Mitglied im Schalck-Untersuchungsausschuss) anzurufen, um der vereinbarten beschleunigten Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde für Petra Kelly, für ihn und für mich persönlich zuzustimmen. So hatten wir es bei unserem Treffen Anfang September verabredet. Der Anruf blieb aus.

Aus der in der Bonner Wohnung hinterlassenen Korrespondenz ergibt sich, dass Petra Kelly viele Pläne und einen vollen Terminkalender hatte, der bis weit in das nächste Jahr hineinreichte. Es gab einige konkrete Angebote für sie. Neben einem Fernsehsender in England verhandelte sie wenige Tage vorher mit dem Sender Freies Berlin.

Die Polizei hat keine Dokumente gefunden, die darauf schließen lassen, dass Petra Kelly aus dem Leben scheiden wollte. Sie stellt in ihrem Abschlussbericht fest, dass Gert Bastian seine Lebensgefährtin im Schlaf erschoss und sich anschließend selbst tötete. Eine Beteiligung Dritter wird ausgeschlossen.

Auf einer Trauerveranstaltung in der Bonner Beethovenhalle am 26. Okt 1992 haben die Grünen das Leben und Wirken von Petra Kelly und Gert Bastian gemeinsam gewürdigt – Täter und Opfer gleichermaßen. In Kenntnis der Ermittlungsakten, die ich vollständig erst etwa ein Dreivierteljahr nach dem Tod einsehen konnte, wäre dies undenkbar gewesen. Die gemeinsame Würdigung von Täter und Opfer war ein politischer Fehler, den ich wesentlich mit verantworte.

Politik als Mit-Leidenschaft

Petra Kelly war ein politischer Mensch, ohne Politikerin im klassischen Sinne zu sein. Sie übte fundamentale Kritik, ohne Fundamentalistin zu sein. Ihre institutionelle Erfahrung in der EG-Bürokratie und ihre internationale Erfahrung, die sie vor allem in den USA gewonnen hatte, haben ihr den Unterschied von gesellschaftlichem und institutionellem Handeln sehr deutlich vor Augen geführt.

Nur selten begegnen wir Menschen mit so viel Unmittelbarkeit. Ihre Energie war ihre Leidenschaft, die gleichzeitig auch ihr Verhängnis war. Sie konnte innerlich und zeitlich keine Distanz herstellen zu Elend und Unrecht, das aus der ganzen Welt durch Briefe und Telegramme wie Hilfeschreie auf sie einwirkten. Ihre Leidenschaft hatte keinen Notausgang. Sie musste durch all das an sie herangetragene Leid hindurch. Sie konnte sich davon nicht lösen.

Petra Kelly war ihrem Wesen nach der ganzen Welt zugewandt, Ökologie war für sie mehr als Umweltpolitik oder Naturschutz. Ökologie bedeutete die Erhaltung der Natur, die Beziehung der Menschen zur Natur und die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander gleichermaßen. Sie brachte ihre besondere Mit-Leidenschaft konstitutiv als Impuls mit hinein in die Gründungsphase der Grünen.

Petra Kelly trug jene Wirklichkeit in sich, die weiter liegt als das Aktuelle – wie Heinrich Böll es formuliert hat – und gab dem grünen Projekt dadurch eine Strahlkraft, eine ansteckende, motivierende Energie und eine historische Dimension. „Die Grünen“, so schrieb sie, „und darum bin ich auch Mitglied bei den Grünen und setze meine Kraft und Energie dort ein, sind die einzige politische Partei im Widerstand gegen eine Zukunft des Todes.“

Das Versagen der grünen Partei gegenüber Petra Kelly liegt aus meiner Sicht darin, die Qualität und Dimension ihrer Leidenschaft, das Wesen ihrer Persönlichkeit, nicht wirklich erkannt, anerkannt und aufgefangen zu haben. Bereits zu Beginn der Gründungszeit 1979 und Anfang der achtziger Jahre erhielt sie täglich Hunderte von Einladungen aus Initiativen und Kreisverbänden, von Persönlichkeiten und Institutionen aus dem Inland, aus Europa und der ganzen Welt. Es ist uns als Grüne Partei in den achtziger Jahren nicht gelungen, für Petra Kelly einen Platz und Rahmen zu finden, der ihren Möglichkeiten und den an sie von außen gesetzten Forderungen hätte gerecht werden können. Zwar hatte sie innerhalb der Grünen und im Inland ab Mitte der achtziger Jahre eine weniger große politische Bedeutung – ihre internationale Bedeutung und Anerkennung ist dagegen bis heute nicht abgeklungen.

Petra Kelly war oft überfordert mit den aus aller Welt auf sie hereinstürzenden Anfragen und Hoffnungen. Dabei blieb sie sich selbst in ihrer außergewöhnlichen Wirkung auf andere Menschen und ihrer schier unerschöpflichen Kraft ein Rätsel. Sie verwies in diesem Zusammenhang einmal auf ein Gedicht von Franz Kafka in einem Brief an Milena Jesenská: „Ich kann dir und niemandem begreiflich machen, wie es in mir ist. Wie könnte ich begreiflich machen, warum es so ist? Das kann ich nicht einmal mir selbst begreiflich machen.“


Dieser Essay von 2007 stammt aus dem Buch „Petra Kelly – Eine Erinnerung“. Das Vorwort ist  im September 2022 aktualisiert worden.