Demokratie gibt es nur mit Aufmerksamkeit

Das ACTA-Abkommen löste eine Protestwelle aus, die ganz Europa erfasste. Auf dem Foto: eine Demonstration in Zagreb. Foto: Irumiha Lizenz: CC-BY Quelle: Flickr

21. Juni 2012
Jan Philipp Albrecht
Als im Januar 2012 wortwörtlich über Nacht in zahlreichen Städten Polens Tausende gegen das internationale Anti-Produktpiraterie-Abkommen ACTA auf die Straße gingen, war ich tatsächlich überrascht. Über viele Jahre hinweg hatte ich viel Zeit und Kraft hinein gesteckt, die komplexe Materie dieses umstrittenen Abkommens den Journalist/innen und Kolleg/innen in Brüssel zu erklären und hatte viele Male schlichtes Abwinken geerntet. Zu kompliziert, zu weit weg, zu unkonkret. Das waren die Antworten. Doch als die US-Amerikaner/innen gegen die SOPA/PIPA-Internetgesetzgebung protestierten und gleichzeitig die EU-Ratspräsidentschaft ihre Unterschrift unter ACTA gesetzt hatte, da war die Aufmerksamkeit plötzlich da. Auf einmal interessierten sich alle für das seltsame Abkommen, das nicht nur in Polen, sondern dann auch in nahezu allen anderen EU-Ländern Menschen auf die Straße brachte. Zahlreiche Regierungen setzten das Unterschriftsverfahren aus. Und am Ende war es die verhandelnde EU-Kommission selber, die mit einer Anfrage an den Europäischen Gerichtshof die Reißleine zog.

Ein breiter europaweiter Protest hatte die Verabschiedung des Abkommens zum Stocken gebracht. Ein Vorgang, der in der Europäischen Union noch relativ selten ist. Zuletzt hatte es ein solches Erlebnis mit dem SWIFT-Bankdatenabkommen zwischen der EU und den USA gegeben, bei dem das Europäische Parlament zum ersten Mal ein internationales Abkommen zu Fall gebracht hatte. Erst wenige Monate vorher hatte es diese Veto-Kompetenz durch den Vertrag von Lissabon zugewiesen bekommen. Davor war es üblich, dass erst viele Monate oder gar Jahre nach einem Beschluss in Brüssel eine Wahrnehmung für das Beschlossene entstand. In aller Regel war dann das Kind schon in den Brunnen gefallen und jede Regierung rechtfertigte sich mit dem Fingerzeig auf das „böse Brüssel“, dass mal wieder irgendwas Seltsames beschlossen habe. Dass es die Regierungen selber waren, die diese Beschlüsse im Ministerrat getroffen haben, das wurde im Grunde nie vermittelt.

Integrationsfortschritt des Lissabon-Vertrags

All dies ist noch immer der Klumpfuß der Europäischen Demokratie. Doch mit SWIFT und ACTA können wir sehen, dass sich etwas geändert hat in den vergangenen Jahren. Was also läuft heute besser als früher? Zunächst einmal ist da der bereits genannte Integrationsfortschritt des Lissabon-Vertrages. Das Europäische Parlament hat heute ein Mitentscheidungs- und Zustimmungsrecht in nahezu allen Politikbereichen. Und im Ministerrat gilt nun auch zunehmend die Mehrheitsentscheidung. Dies führt dazu, dass Regierungen – auch Deutschland – im Rat schlicht überstimmt werden können. Sie müssen also im Vorfeld einer Entscheidung Verbündete finden oder, wenn sie in der Minderheit bleiben, Aufmerksamkeit für die problematischen Teile einer geplanten Entscheidung schaffen. Gleichzeitig haben die Abgeordneten im Europäischen Parlament im Rahmen der Mitentscheidung ein verstärktes Interesse an den aktuellen Entwicklungen im Rat. Durch ein munteres Zusammenspiel von Mitgliedstaaten und Europaabgeordneten kommen Informationen über geplante Entscheidungen genauso wie geäußerte Argumente und Standpunkte viel eher in den Umlauf, als es im „alten Europa“ vor Lissabon geschehen konnte.

Bessere Berichterstattung

Zudem sind Medien und mit ihnen nationale Parteien, Parlamente und Interessengemeinschaften viel stärker als zuvor an Berichterstattung, Informationen und Einflussnahme interessiert, da eine tatsächliche Entscheidung in Brüssel ansteht, die beeinflussbar und relevant erscheint.  Alles in allem verlagert sich damit der Entscheidungsprozess nach vorne.

Dezentrale Mobilisierung von Öffentlichkeit über die Grenzen hinaus

Die zweite Dynamik, die verstärkt zu beobachten ist und die ebenso relevant ist, erscheint viel weniger institutionalisiert: Die gleichzeitige Mobilisierung von Öffentlichkeit zu europäischen Entscheidungen über die Grenzen der nationalen von Medien und Sprache geprägten Öffentlichkeit hinaus. Während etwa gegen die so genannte Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors noch zu zentralen Demonstrationen an den Orten der EU-Institutionen in Brüssel und Straßburg mobilisiert wurde und die klassische Bildung von Aufmerksamkeit sehr beschränkt in alle Mitgliedstaaten gleichzeitig gewirkt hat, entwickelt sich durch eine neue Form der dezentralen Mobilisierung ein viel höherer Grad von Aufmerksamkeit und politischer Verbindlichkeit, die sich in nationalen politischen Debatten über europäische Fragen niederschlägt. Dies ist einerseits durch die alles bestimmende und in Frage stellende Wirtschafts- und Finanzkrise in den Medien zu beobachten.

Digitale Öffentlichkeit


Dies ist auf der anderen Seite aber vor allem durch eine von den klassischen Medien zunehmend losgelöste digitale Öffentlichkeit beschleunigt. Hier werden Informationen in kurzer Zeit weiterverbreitet, ohne dass die klassischen Grenzen nationaler und sprachlicher Öffentlichkeit eine große Barriere darstellen. Bei der Auseinandersetzung zu ACTA hat diese Entwicklung seinen sichtbaren Höhepunkt gefunden: Aufrufe zu gleichzeitig stattfindenden Demonstrationen verbreiteten sich europaweit, Meldungen wurden in den unterschiedlichsten Sprachen ausgetauscht und teilweise übersetzt. Klammheimlich entwickelt sich hier die wahre europäische Öffentlichkeit, ohne die eine europäische Demokratie nie möglich wäre. Ganz anders als zuvor geplant, wird sie nicht etwa durch europäische Medien oder bessere PR der EU-Institutionen, sondern von Bewegungen von unten betrieben. Und sie steht erst am Anfang ihrer Entwicklung.

Dossier: Europas gemeinsame Zukunft

Die EU steckt nicht nur in einer Schuldenkrise, sondern auch in einer Vertrauens- und Demokratiekrise. Gerade jetzt ist eine breite öffentliche Debatte über alternative Vorschläge zur Zukunft Europas gefragt. Die Heinrich-Böll-Stiftung möchte mit dem Webdossier zu dieser Debatte beitragen.

Dossier

Zur Zukunft der EU

Die Schuldenkrise droht in eine Legitimitätskrise der EU zu münden. Die Antwort darauf muss heute vor allem in einer Stärkung der europäischen Demokratie liegen. Die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, die in der Studie "Solidarität und Stärke" erarbeitet wurden, werden im Dossier genauso wie diejenigen der Expert/innenkommission, vorgestellt.