Vorgeschlagenes Freihandelsabkommen EU-Indien

Analyse

Kann Indien seine Entwicklungsziele wahren, indem es ein Freihandelsabkommen mit einem ungleichen Partner mit anderen Ambitionen unterzeichnet?

EU und Indische Flagge

Inmitten eines weltweiten geopolitischen Wirbels neuer regionaler oder bilateraler Freihandelsabkommen wurden im Juli 2022 auch die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen (FTA) zwischen der Europäischen Union (EU) und Indien wieder aufgenommen. Insbesondere Indien hat in letzter Zeit seine Bemühungen um Freihandelsabkommen mit mehreren Industrieländern verstärkt und ist mehrfachen Aufforderungen der EU nachgekommen, das ins Stocken geratene Freihandelsabkommen nach einer Pause von fast neun Jahren wiederzubeleben. Die vierte Verhandlungsrunde wurde vor Kurzem in Brüssel abgeschlossen. Die nächste Runde ist für den 12. bis 16. Juni geplant. Parallel dazu haben die Parteien Verhandlungen über ein Investitionsschutzabkommen und ein Abkommen über geografische Herkunftsangaben (Geographical Indications oder GIs) aufgenommen, die beide von europäischer Seite vorangetrieben wurden.

Trotz des Stillstands der Verhandlungen zwischen 2013 und 2022 erscheinen beide Seiten optimistisch, „Wirtschaftswachstum erzielen und Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen“ zu können. Bei einem Freihandelsabkommen zwischen sehr ungleichen Partnern muss ein solcher Optimismus allerdings auf einer sachlichen Analyse beruhen, insbesondere im Hinblick auf Indiens Entwicklungspfade und die Verpflichtungen beider Seiten zu den nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals oder SDGs). Auch gibt es Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf schwächere Bevölkerungsgruppen wie Frauen, Kleinbauern, Arbeitnehmer*innen, Patientengruppen sowie die ländliche und indigene Bevölkerung.

Abgesehen von einer geopolitischen Allianz durch dieses Freihandelsabkommen, woran beide Parteien interessiert zu sein scheinen, hat die EU öffentlich Vorschläge vorgelegt, die von Interessen an landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Kraftfahrzeugen, Einzelhandel, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, Investitionen und öffentlichem Beschaffungswesen sowie an einer Regelung geistiger Eigentumsrechte zu Arzneimitteln und Landwirtschaft zeugen. Darüber hinaus hat die EU einseitig neue Kapitel hinzugefügt, etwa zu digitalem Handel, Energie und Rohstoffen, nachhaltigen Lebensmittelsystemen und staatseigenen Unternehmen. Indien hat ein offensives Interesse an IT-Dienstleistungen, Zugang zum Dienstleistungssektor für indische Arbeitnehmer*innen sowie an den Bereichen Bekleidung, Leder, Edelsteine und Schmuck, Automobil- und Maschinenteile und andere Industrieerzeugnisse. Dieser Artikel greift einige dieser kritischen Fragen auf, insbesondere die Forderungen der EU aus Perspektive der indischen Entwicklung.

Außerdem ist festzustellen, dass die EU zwar sehr ehrgeizige Forderungen gestellt hat, ihre Absichten aber zumindest in den öffentlich zugänglichen Vorschlägen deutlich wurden. Indiens spezifischer Ansatz und seine Textvorschläge sind bisher relativ unter Verschluss geblieben. Weltweit herrschen in der Handelspolitik wenig Transparenz und ein Mangel an demokratischen Verhandlungen. Dazu gehören die Weitergabe von Informationen an die Öffentlichkeit und eine sinnvolle Beteiligung insbesondere wirtschaftlich und politisch schwächerer Bevölkerungsgruppen. Dieses Freihandelsabkommen ist da keine Ausnahme, trotz sogenannter Konsultationen auf beiden Seiten, vornehmlich mit dem Privatsektor.

Land- und Milchwirtschaft

Eines der Hauptziele der EU in diesem Freihandelsabkommen sind ehrgeizige Einschnitte bei Einfuhrzöllen in allen Warensektoren, einschließlich Land- und Milchwirtschaft. Einfuhrzölle sind jedoch Indiens wichtigstes Instrument zum Schutz der einheimischen Produktion und zur Sicherung des Lebensunterhalts von Millionen landwirtschaftlicher Betriebe und Milcherzeugern, die größtenteils Kleinstbetriebe sind und sich eher auf den heimischen Markt als auf den Export konzentrieren. Die Forderungen der EU werden sich sowohl auf die verarbeitende Lebensmittel- und Milchindustrie als auch auf landwirtschaftliche Grunderzeugnisse auswirken. Der durchschnittliche Meistbegünstigungszollsatz („Most Favored Nation“ oder MFN) der EU für landwirtschaftliche Erzeugnisse liegt bei 11,7 % gegenüber 39,2 % in Indien. Indien muss also seine Zölle viel stärker senken als die EU. Außerdem muss die EU weder ihre massiven Agrar- und Milchsubventionen in Höhe von fast 86 Mrd. USD (Stand 2018) kürzen, die ihr einen enormen Preisvorteil auf den indischen Märkten verschaffen, noch ihre hohen Lebensmittelstandards senken, was es der indischen Landwirtschaft unmöglich macht, in die EU zu exportieren.

Nach Ansicht von Yudhvir Singh, Generalsekretär der Bhartitya Kisan Union (Tikait), ist die Öffnung der Land- und Milchwirtschaft und der Fischerei gegenüber der EU im Rahmen dieses Freihandelsabkommens für indische Landwirt*innen ein großes Problem. „Für uns ist die Landwirtschaft unser Leben, unser Erbe und die Quelle für Nahrung und Lebensunterhalt. Wir wollen nicht auf den EU-Märkten verkaufen und können EU-Normen nicht erfüllen. Stark subventionierte Produkte aus der EU werden uns nun auch noch den Platz auf unserem eigenen nationalen Markt streitig machen“, so Singh.

Vor allem Kleinbauern, darunter Millionen von Frauen, dürften durch die subventionierten Agrarerzeugnisse aus der EU unter Konkurrenzdruck geraten. Selbst wenn es sich dabei um verarbeitete Segmente in Land- und Milchwirtschaft handelt, können solche Einfuhren auch Primärerzeugern schaden, die das Verarbeitungssegment beliefern. Die indische Regierung scheint die Bedenken hinsichtlich des Marktzugangs zu teilen.

Darüber hinaus stellt die EU an Indien die ehrgeizige Forderung, dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen (UPOV 1991) beizutreten. Dieses im Wesentlichen von Saatzuchtunternehmen konzipierte und geförderte Übereinkommen würde multinationalen Konzernen die Kontrolle über Saatgut verleihen und damit die nationalen Gesetze Indiens sowie das Recht der Landwirt*innen auf freie Nutzung, Speicherung und Austausch von Saatgut außer Kraft setzen sowie Agrochemikalien verteuern. Der Vorstoß der EU für ein separates Abkommen über GI, das europäische Monopole für bestimmte Produkte sicherstellen soll, birgt große Herausforderungen für junge Lebensmittelindustrien wie die Milchwirtschaft, die gerade erst anfängt zu wachsen und neue Produkte wie Käse herzustellen.

Darüber hinaus hat die EU auch ein Kapitel über nachhaltige Lebensmittelsysteme (Sustainable Food Systems oder SFS) vorgelegt, dass indische Landwirt*innen vor große Herausforderungen stellen kann. SFS ist zwar ein fortschrittliches Konzept, das auch von Organisationen der Zivilgesellschaft (CSO) und progressiven Politikexpert*innen vertreten wird, doch scheint die EU mit ihrem SFS-Konzept die eigene Agrarindustrie schützen zu wollen. So wird in dem vorgeschlagenen Kapitel beispielsweise ein Rahmen „wirtschaftlicher Rentabilität“ gefördert, laut dem ein Unternehmen immer rentabel sein muss. Mit ähnlichen Argumenten wird auch auf eine Maximierung der Steuern und eine Minimierung der Subventionen in der Landwirtschaft und im Lebensmittelsektor gedrängt. Die meisten indischen Landwirt*innen, vorwiegend Klein- und Kleinstbauern, arbeiten weder rentabel, noch sind sie in der Lage, Steuern zu zahlen. Außerdem sind sie in hohem Maße auf grundlegende Subventionen angewiesen, um zu überleben. Solche Bestimmungen im SFS-Kapitel schützen europäische Lebensmittelkonzerne auf Kosten der Lebensgrundlage indischer Kleinbauern. Der EU-Rahmen für SFS beruht zwar dem Anschein nach auf dem SDG2, doch während das Nachhaltigkeitsziel klar darauf abzielt, Produktivität und Lebensunterhalt von Kleinbauern zu schützen, kann das EU-Kapitel genau das Gegenteil bewirken.

Zugang zu Arzneimitteln und die TRIPS Plus-Forderungen der EU

Große Bedenken bereitet auch das Drängen der EU auf Verpflichtungen, die über das Übereinkommen der Welthandelsorganisation (WTO) über handelsbezogene Aspekte geistiger Eigentumsrechte (TRIPS) hinausgehen, und zwar auf Zugang zu Arzneimitteln nicht nur in Indien, sondern in allen Entwicklungsländern. Zwei Klauseln, nämlich zur Verlängerung der Patentlaufzeit und Datenexklusivität (DE), werden den Markteintritt billigerer Generika verzögern und Patentmonopole verlängern. Die EU fordert eine Verlängerung von Patentlaufzeiten um bis zu fünf Jahre (oft für mehrere Patente auf ein und dasselbe Arzneimittel) sowie Datenexklusivität, wobei Daten aus klinischen Studien auch dann noch geschützt werden, wenn das Unternehmen acht bis elf Jahre lang kein Patent erhalten hat. Die vorgeschlagenen Bestimmungen zur Datenexklusivität zwingen indische Generikahersteller zu unnötigen und unethischen Wiederholungen klinischer Studien, selbst wenn die Ergebnisse der klinischen Studien des Originalherstellers bereits vorliegen. Es ist auch zu beachten, dass während dieses Zeitraums keine Zwangslizenzen erteilt werden können. Unter den von der EU vorgeschlagenen Maßnahmen zur Grenzsicherheit könnte ein Drittland Rechte an geistigem Eigentum (IP) durchsetzen, selbst bei einem Verdacht auf Patentverletzungen. Dies bedeutet, dass indische Generika, die sich im Transit in andere Länder befinden, von den EU-Mitgliedstaaten wegen angeblicher Verletzungen geistiger Eigentumsrechte beschlagnahmt werden könnten. Dies war bereits ein Streitpunkt zwischen den beiden Partnern und wurde im Rahmen der WTO geregelt. Damals hatte sich die EU bereit erklärt, von derartigen Maßnahmen abzusehen.

Diese Bestimmungen würden die Produktion von Generika in Indien stark beeinträchtigen und den Zugang zu Arzneimitteln nicht nur in Indien, sondern weltweit gefährden, was sich wiederum negativ auf die Erreichung von SDG3 auswirken würde. Zu den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen gehören Frauen, Arme und die Landbevölkerung, deren Zugang zu Medikamenten und Gesundheitsdiensten ohnehin schon stark eingeschränkt ist. In einer Pressemitteilung vom 23. März 2022 äußerte die Organisation „Medicins Sans Frontières“ (MSF) ihre Besorgnis über die Forderungen der EU in Bezug auf geistige Eigentumsrechte und die Auswirkungen auf den Zugang zu Medikamenten: „Angesichts der direkten potenziellen Auswirkungen des Handelsabkommens zwischen der EU und Indien auf die Verfügbarkeit erschwinglicher Arzneimittel aus Indien, fordern die ‚Medicins Sans Frontières‘ die Europäische Kommission auf, zu ihrer früheren Zusage zu stehen, nämlich die Frage des ergänzenden Schutzes in den Verhandlungen nicht weiter zu verfolgen und sicherzustellen, dass das Freihandelsabkommen Indien nicht zur Einführung von Bestimmungen zu Datenexklusivität verpflichtet. Die Organisation fordert von den Verhandlungsführern des Freihandelsabkommens außerdem die vollständige Streichung von Bestimmungen zur Durchsetzung des geistigen Eigentums, einschließlich der umstrittenen Grenzmaßnahmen, die den Handel mit rechtmäßigen Generika blockieren können.“

Aushöhlung des öffentlichen Beschaffungswesens als entwicklungspolitisches Instrument

Die EU fordert von Indien außerdem auch die vollständige Liberalisierung des Marktes für das öffentliche Beschaffungswesen (Government Procurement oder GP) zentraler und staatlicher Einrichtungen. Dies könnte im Prinzip auch das Bahnwesen oder sogar das nationale öffentliche Nahrungsmittelprogramm (bekannt als Public Distribution System) umfassen. Darüber hinaus ist GP ein entwicklungspolitisches Instrument, das Indien zur Unterstützung von kleinsten, kleinen und mittleren Unternehmen (KKMU), dörflichen Unternehmen, Unternehmerinnen und rückständigen Gemeinschaften einsetzt, die dadurch allesamt gefährdet würden. Sogar eine Schlüsselmaßnahme der „Make in India“-Initiative des Premierministers, die Förderung lokaler Erzeugnisse im öffentlichen Beschaffungswesen, wird durch die Forderungen der EU in Frage gestellt. Auch hier sind eindeutig negative Auswirkungen auf Frauen zu erwarten. In Indien gibt es eine besondere bevorzugte Beschaffungspolitik für Frauenselbsthilfegruppen (Self-Help Groups oder SHG), zum Beispiel bei der indischen Eisenbahn. Wenn solche Beschaffungsmaßnahmen über den vereinbarten Schwellenwerten liegen, müssen sie möglicherweise in Frage gestellt oder auf Unternehmerinnen aus der EU ausgeweitet werden, die indischen Unternehmerinnen an wirtschaftlicher Macht weit voraus sind. In einem eher kurzsichtigen Schritt hat Indien im Rahmen seines Freihandelsabkommens mit den VAE seinen GP-Markt für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) geöffnet, um seine eigenen offensiven Interessen zu befriedigen. Die Ausweitung dieses Marktes auf die EU, woran Indien kein offensives, sondern nur ein defensives Interesse hat, wird jedoch eine weitaus größere Herausforderung für seinen Entwicklungsweg darstellen.

Forderungen im Bereich Digitalpolitik und digitaler Handel

Der digitale Handel ist ein neues Kapitel, das nun integraler Bestandteil aller EU-Freihandelsabkommen ist. In diesem Bereich war Indien bislang relativ zurückhaltend. So konnte es sich den politischen Spielraum sichern, um Indiens nationalen Rahmen für Datenverwaltung und sein Datenschutzgesetz zu gestalten und seine Vorschriften zu Informationstechnologie 2021 zu ändern. Diese Regeln und Gesetze sind zwar bei weitem nicht perfekt, doch könnten sie nun durch die Forderungen der EU nach einer vollständigen Liberalisierung des grenzüberschreitenden Datenverkehrs untergraben werden. Indien würde wirtschaftliche Rechte an Daten nutzen und entwickeln können, selbst staatliche Daten für indische und ausländische Unternehmen gleichermaßen liberalisieren, Steuern auf elektronische Übertragungen sowie das Verbot einer verpflichtenden Übertragung von bzw. Zugang zu Quellcode abschaffen. Solche Verpflichtungen nehmen Indien die Möglichkeit, seine eigene digitale Wirtschafts- und Industriepolitik zu gestalten, und stehen in völligem Widerspruch zu seiner eigenen Position, sich nicht an der plurilateralen E-Commerce-Initiative der WTO zu beteiligen. Eine weitere Auswirkung für Indien sind Einnahmeverluste durch die von der EU vorgeschlagene dauerhafte Abschaffung von Steuern auf grenzüberschreitende elektronische Übertragungen. Einem Wirtschaftswissenschaftler der Vereinten Nationen zufolge entgingen Indien aufgrund des derzeitigen WTO-Moratoriums für derartige Steuern, welches Indien gerne beenden möchte, Einnahmen in Höhe von 1,53 Milliarden USD im Jahr 2020 und in Höhe von 4,92 Milliarden USD zwischen 2017 und 2020.

Die Jagd der EU nach Rohstoffen

Im Rahmen der Verhandlungen über das Investitionskapitel sind die von der EU vorgeschlagenen Investitionsschutzbestimmungen weitaus ehrgeiziger als das indische Modell des bilateralen Investitionsvertrags. Es beinhaltet den berüchtigten Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismus (ISDS), der den Raubbau an natürlichen Ressourcen verschlimmern und Erhaltungsmaßnahmen verhindern könnte. Darüber hinaus hat die EU auch ein Kapitel über Rohstoffe und Energie vorgeschlagen. Die in diesem Kapitel vorgeschlagenen Bestimmungen, wie etwa ein Verbot von Subventionen für die heimische Industrie oder von Preisfixierung für kritische Energieerzeugnisse im Inland, untergraben ernsthaft die politische Flexibilität Indiens, Produktion und Verbrauch seiner eigenen Energieerzeugnisse und -dienstleistungen zu unterstützen, einschließlich der Entwicklung erneuerbarer Energien. Diese beiden Kapitel, in Verbindung mit der Forderung der EU nach Abschaffung sämtlicher Ausfuhrabgaben auf Exporte in die EU, dienen dem Bestreben der EU, die Rohstoffversorgung aus Entwicklungsländern zu sichern, wie in ihrer Rohstoffinitiative (2008) und dem vorgeschlagenen Rohstoffgesetz dargelegt. Somit wird Indien seine künftige Rohstoff- und Energiepolitik nicht mehr selbst gestalten, seine Umweltressourcen nicht mehr erhalten und deren Abfluss nicht mehr verhindern können.

Nachhaltige Entwicklung muss echte Nachhaltigkeit gewährleisten (HIER)

Trotz solcher Forderungen behauptet die EU, durch verschiedene Kapitel wie SFS, Rohstoffe und Energie sowie ein erweitertes Kapitel über nachhaltige Entwicklung Nachhaltigkeitsstandards zu fördern. All diese Kapitel zielen jedoch nicht darauf ab, Indiens Bemühungen um Nachhaltigkeit zu unterstützen, sondern sie nutzen Nachhaltigkeitsstandards als Instrument zur Erweiterung des eigenen Marktzugangs. Die Forderungen der EU in diesem Freihandelsabkommen stehen auch im Widerspruch zu ihrem erklärten Ziel, weltweit für Nachhaltigkeit zu sorgen, z. B. durch ihre Maßnahmen zur Anpassung der Kohlenstoffgrenzwerte (CBAMS). Interessanterweise geht die EU nicht auf wesentliche Themen ein, die sich negativ auf den Umweltschutz auswirken, wie etwa die ISDS. Ebenso wenig wird erwogen, auf geistige Eigentumsrechte zu verzichten, um den Technologietransfer bei Arzneimitteln oder Umweltprodukten zu fördern, was einen großen Beitrag zur Nachhaltigkeit der indischen Wirtschaft leisten könnte. Entgegen der weit verbreiteten Überzeugung, dass Handelsabkommen den Erfordernissen von Nachhaltigkeit und Gleichheit gerecht werden können, stellt sich die Frage, ob sich diese Ziele im streng kommerziellen Rahmen eines Handelsabkommens überhaupt erreichen lassen.

Verschärfte Ungleichheiten zwischen Bevölkerungsgruppen

Wie bereits erwähnt, wirft das vorgeschlagene Freihandelsabkommen Bedenken darüber auf, wie es sich auf gefährdete Bevölkerungsgruppen auswirken wird. Zu berücksichtigen sind Auswirkungen auf Arbeitsplätze in der informellen Industrie und im Dienstleistungssektor; Verluste für Kleinbauern; ärmere Patient*innen, denen höhere Kosten den Zugang zu Arzneimitteln und Gesundheitsdiensten erschweren werden; die Landbevölkerung, die durch das Investitionskapitel Zugang zu natürlichen Ressourcen verlieren wird; und für kleine Unternehmen, die Zugang zu wichtigen Märkten verlieren könnten. Das Freihandelsabkommen wird ihnen auch insofern schaden, als es ihren Zugang zu Rohstoffen, wichtigen Dienstleistungen, Medikamenten, Finanzmitteln und wirtschaftlichen Möglichkeiten einschränkt.

Wir erwähnten bereits die von diesem Freihandelsabkommen erwarteten verschiedenen Auswirkungen auf Frauen, seien es Landwirtinnen, Arbeitnehmerinnen, Unternehmerinnen oder Patientinnen. Interessanterweise behauptet die EU zwar, geschlechterspezifische Fragen im Kapitel über nachhaltige Entwicklung zu berücksichtigen, und bietet auch einige Regelungen an, versäumt es aber letztlich, auf die Probleme einzugehen, die sich aus den von ihr selbst geforderten inhaltlichen Bestimmungen des Abkommens für Frauen ergeben, wie etwa in den Bereichen Landwirtschaft, Zugang zu Arzneimitteln und öffentliches Beschaffungswesen. Wie bei den oben erwähnten Umweltthemen drängt sich auch hier der Verdacht auf, dass die Kapitel über nachhaltige Entwicklung lediglich dazu dienen, das Freihandelsabkommen schmackhaft zu machen, ohne die tatsächlichen nachteiligen Auswirkungen auf schwache Bevölkerungsgruppen zu korrigieren.

Interessanterweise sind es nicht nur zivilgesellschaftliche Organisationen und Handelsanalysten, die infolge dieses Freihandelsabkommens zunehmende Ungleichheit erwarten. Auch die von der Europäischen Kommission 2009 in Auftrag gegebenen Folgenabschätzungen (Ecorys et al.) und die kürzlich vom Europäischen Parlamentarischen Forschungsdienst (EPRS, 2020) durchgeführte Folgenabschätzung prognostizieren dies sehr deutlich. Die EPRS-Studie weist darauf hin, dass „die Auswirkungen der Handelsliberalisierung auf Armut und Ungleichheit komplex sind und dass das Ergebnis nicht eindeutig zugunsten der Armen ausfällt. Diese Auswirkungen sind in der Tat kontextspezifisch und können mehrere Dimensionen der Ungleichheit beeinflussen (...). In diesem Zusammenhang kann es zu ‚Anpassungskosten‘ kommen, wenn die Politik nicht eingreift.“

Indiens handels- und entwicklungspolitischer Spielraum

Indiens Freihandelsabkommen mit Industrieländern sind eine große Herausforderung, da eine Senkung von Einfuhrzöllen, was ja das Hauptziel der Freihandelsabkommen ist, dem Land eher schadet als nutzt. Indiens durchschnittliche MFN für landwirtschaftliche und nicht-landwirtschaftliche Erzeugnisse liegen bei 39,2 % bzw. 14,9 % im Vergleich zu 11,7 % bzw. 4,1 % in der EU, was für Indien wesentlich drastischere Zollsenkungen bedeutet. Zugleich stellen die Vertiefung und Ausweitung solcher Freihandelsabkommen eine enorme Bedrohung für den souveränen politischen Spielraum aller Entwicklungsländer dar. Indien beteiligt sich an diesem Freihandelsabkommen offensichtlich im Interesse einiger weniger Sektoren des verarbeitenden Gewerbes wie Textilien und Bekleidung, Leder, Edelsteine und Schmuck, Maschinenteile sowie des IT-Sektors, der seine besten Zeiten bereits hinter sich hat. Seine Forderungen zur Migration von Arbeitnehmer*innen unter Modus 4 haben noch nie zu positiven Ergebnissen geführt und werden wahrscheinlich auf noch größeren Widerstand seitens der Industrieländer stoßen, wie die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und Indien zeigen. Dieses Freihandelsabkommen beschränkt jedoch den nationalen politischen Spielraum in den Bereichen Landwirtschaft und Lebensmittel, Industrie, Dienstleistungen, Gesundheit und Arzneimittel, Erhaltung natürlicher Ressourcen, öffentliches Beschaffungswesen sowie unabhängige Digitalpolitik. Dies hat entscheidende Auswirkungen darauf, ob Indien die SDGs erreichen kann. Auch die erwarteten Einbußen bei den Zolleinnahmen könnten den politischen Spielraum für soziale Entwicklung und die Erreichung der SDGs erheblich einengen. Die EPRS-Studie (2020) schätzt den Verlust an Zolleinnahmen für Indien aus dem Freihandelsabkommen bei einschneidenden Zollsenkungen auf 0,91 Mrd. EUR für die EU und auf gigantische 1,86 Mrd. EUR.

Schlussfolgerung

Zwar sind und bleiben die EU und Indien wichtige Handelspartner und Verbündete in vielen globalen Fragen, doch ist die Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens zwischen zwei so ungleichen Partnern mit unterschiedlichen Ambitionen möglicherweise kontraproduktiv. Darüber hinaus hat die Position der EU in der WTO die entwicklungspolitischen Anliegen Indiens in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Dienstleistungen, Investitionen und besondere und differenzierte Behandlung häufig untergraben. Es müssen also zunächst die WTO-Positionen der beiden Seiten besser abgeglichen werden, ehe ein ehrgeiziges Abkommen zwischen ihnen wirksam werden kann. Angesichts der großen Lücken und schweren Bedenken im Zusammenhang mit diesem Freihandelsabkommen könnten beide Seiten vielleicht weitaus mehr erreichen, indem sie ihr bestehendes Kooperationsabkommen von 1994 stärken.

 

Das englische Original ist hier erschienen: in.boell.org

Übersetzt vom Englischen ins Deutsche durch Kerstin Trimble.