Ukraine: Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz

Interview

Der Wiederaufbau in der Ukraine muss auch die soziale Infrastruktur umfassen. Dafür sprechen nicht nur humanitäre Gründe. Es ist auch die Voraussetzung, um einen Rückfall in traditionelle Geschlechterrollen zu vermeiden. Ein Interview mit Galyna Kotliuk, Koordinatorin des Programms Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine. Von Anna Lysiak.

Umriss einer Frauensilhouette
Teaser Bild Untertitel
Mehr als zwei Millionen Menschen haben durch den Krieg in der Ukraine ihr Zuhause verloren.

Der Sieg der Ukraine über die russische Aggression ist eine notwendige Bedingung für einen nachhaltigen Wiederaufbau im Land. Dennoch darf die Diskussion über die Vision und konkrete Schritte des Wiederaufbaus nicht aufgeschoben werden. Normale Lebensbedingungen für die Bevölkerung zerstörter Städte sowie Millionen von Binnen- Vertriebenen müssen schon jetzt, während der Krieg noch andauert, geschaffen werden. Die ukrainische Gesellschaft braucht Resilienz auf ganz verschiedenen Ebenen. Das Interview verdeutlicht eine feministische Perspektive auf die Prioritäten des Wiederaufbaus sowie die Bedeutung internationaler Solidarität.

Anna Lysiak: Was sind aus feministischer Sicht die größten Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau?

Galyna Kotluik: 2,4 Millionen Menschen haben durch den russischen Krieg in der Ukraine ihr Zuhause verloren. Daher wird die Bereitstellung von Wohnungen für Binnenvertriebene und aus dem Ausland zurückkehrende Flüchtlinge – zumeist Frauen - eine der wichtigsten Aufgaben sein, denen wir uns stellen werden. Was den Wiederaufbau beschädigter bzw. den Bau neuer Häuser angeht, ist es sehr wichtig, eine gendersensible Vorgehensweise zu gewährleisten, um die Bedürfnisse von Frauen mit Kindern, LGBTQ+ Gemeinschaften sowie behinderten und älteren Menschen zu berücksichtigen.

Außerdem ist es äußerst wichtig, die von der russischen Armee zerstörten Einrichtungen der sozialen Infrastruktur wieder aufzubauen – Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Altersheime. Ohne diese Infrastruktur – dessen müssen wir uns bewusst sein – würde die Last der zumeist von Frauen geleisteten unbezahlten Pflegearbeit wieder stark ansteigen. Auch müssen wir uns um die Bedürfnisse von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt kümmern.  Die Mehrheit von ihnen sind Frauen, doch sind uns auch Fälle bekannt, in denen Männer und Jungen geschlechtsspezifische Gewalt erfahren haben. Das bedeutet, Hilfszentren zu eröffnen, um diesen Menschen medizinische, rechtliche und psychologische Unterstützung zu bieten und zu helfen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dies erfordert sowohl entsprechend eingerichtete Räume als auch geschultes Fachpersonal. Um etwa auch Bedürfnissen von LGBTQ+ Menschen gerecht zu werden, müssen sich die Einrichtungen ebenso spezielle Kompetenzen aneignen. Nur so können wir sicherstellen, dass wir inklusive, nichtdiskriminierende Ansätze verwenden, um den Opfern der geschlechtsspezifischen Gewalt zu helfen.

Glauben Sie, dass sich das Rollenverständnis von Frauen in der ukrainischen Gesellschaft nach dem Krieg ändern wird? Wenn ja, dann auf welche Weise? Sehen Sie hier mehr Herausforderungen oder mehr Chancen?

Galyna Kotliuk sitzt an einem Tisch und schaut in die Kamera.
Galyna Kotliuk, Koordinatorin des Programms Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine.

Dies ist eine sehr komplexe Frage, die sich kaum eindeutig und endgültig beantworten lässt. Wir sehen alle, wie aktiv ukrainische Frauen zum Sieg der Ukraine über die russische bewaffnete Aggression beitragen: Zahlreiche Frauen, aber auch Mitglieder der LGBTQ+ Gemeinschaft haben sich den Streitkräften angeschlossen, um die Ukraine mit zu verteidigen. 56.000 Frauen dienen in den ukrainischen Streitkräften, – nur wenige NATO-Armeen haben so viel Frauen in ihren Reihen. Viele Frauen, darunter auch Vertreterinnen verschiedener feministischer Nichtregierungsorganisationen, und LGBTQ+ Menschen arbeiten aktiv als freiwillige Helferinnen und Helfer, um die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen. Das Engagement von Frauen im Militär und als freiwillige Helferinnen ist bereits auf staatlicher Ebene anerkannt worden. Ich persönlich hoffe, dass nach dem Sieg der Ukraine diese Anerkennung nicht zur Vergangenheit wird und dass der Beitrag von Frauen nicht nur auf der Ebene des Diskurses, sondern auch auf der Entscheidungsebene anerkannt wird, sodass ukrainische Frauen stärker in der Regierung und im Parlament vertreten sein werden. Auch hoffe ich, dass in der ukrainischen Armee Reformen eingeführt werden, um es Frauen zu ermöglichen, in der Nachkriegszeit eine Karriere im Militär zu machen. Andererseits ist ein großer Teil der sozialen Infrastruktur der Ukraine zerstört worden, und deren Wiederaufbau verlangt sowohl Geld als auch Zeit. Bis diese Infrastruktur wiederhergestellt ist, werden Frauen gezwungen sein, sich um ihre Kinder und betagte Familienangehörige zu kümmern, was den patriarchalischen Charakter der Rollenverteilung der Geschlechter nur noch verstärken wird. Daher ist es sehr wichtig, beim Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg eine geschlechtersensible Vorgehensweise zu gewährleisten. Sonst besteht das Risiko eines Rückfalls zu einer traditionellen Verteilung der Geschlechterrollen.

Und wie sieht die Situation für die LGBTQ+-Community aus?

Die allgemeine Einstellung gegenüber der LGBTQ+ Gemeinschaft in der Ukraine hat sich inzwischen bedeutend zum Besseren verändert: In den letzten sechs Jahren (2016–2022) ist die Zahl der Ukrainer*innen, die LGBTQ+ Menschen gegenüber negativ eingestellt sind, um das 1,5-fache gesunken (von 60,4 Prozent auf 38,2 Prozent), dabei hat sich die Zahl der positiv Eingestellten vervierfacht (von 3,3 Prozent auf 12,8 Prozent), und die Zahl der neutral Eingestellten ist von 30,7 Prozent auf 44,8 Prozent gestiegen. Am 8. Juli 2022 erreichte die Petition für die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen 25.000 Unterschriften. Nach Beginn der umfassenden Invasion in der Ukraine gingen viele LGBTQ+ Menschen an die Front, um ihr Land vor den russischen Besatzern zu verteidigen. Somit sind LGBTQ+ Familien in der Ukraine verletzlicher denn je geworden: Nach der geltenden Gesetzgebung dürfen sie weder standesamtlich heiraten noch das Sorgerecht für Kinder bekommen oder das Vermögen des Partners erben. Ihnen wird sogar das Recht verweigert, die Beerdigung des verstorbenen Partners einzuleiten. Der Präsident hat zwar auf die Petition reagiert und als alternative Lösung die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften beantragt, trotzdem sind bisher keine einschlägigen Änderungen in der ukrainischen Gesetzgebung eingetreten. Meiner Meinung nach soll es die Aufgabe der ukrainischen Zivilgesellschaft sein, die Situation zu überwachen und für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften einzutreten. Jeder von uns sollte sich dafür einsetzen, dass alle ukrainischen Bürger, egal welchen Geschlechts, welcher sexuellen Orientierung, welcher ethnischen Zugehörigkeit und welchen religiösen Bekenntnisses, die gleichen Rechte und Freiheiten genießen können, denn darin liegt ja der Hauptunterschied zwischen der Ukraine und dem Aggressorstaat.

Der Wiederaufbau wird vor allem die ukrainische Gesellschaft vor Herausforderungen stellen. Aber auch die internationale Unterstützung spielt auch eine wichtige Rolle. Welche Art von Unterstützung ist aus feministischer Sicht am nötigsten?

Zunächst einmal finanzielle Unterstützung. Laut Angaben der Weltbank werden die für den Wiederaufbau und die Wiederherstellung benötigten Kosten zum Stand von Juni 2022 auf etwa 349 Milliarden US-Dollar geschätzt, man sollte aber mit einem noch höheren Betrag rechnen. Auf der Ukraine-Wiederaufbau-Konferenz (Ukraine Recovery Conference) in Lugano hat die Ukraine den Wiederaufbauplan für die Ukraine präsentiert. Diesem Plan fehlt jedoch der geschlechtersensible Ansatz zum Wiederaufbau der Ukraine in der Nachkriegszeit. Es ist also absolut notwendig, sowohl die Regierung zu überzeugen, diese Komponente in den Wiederaufbauplan aufzunehmen, als auch lokale Initiativen und Nichtregierungsorganisationen zu unterstützen, die über die erforderlichen Fachkenntnisse und Erfahrung verfügen. Sehr wichtig ist auch die Unterstützung durch Expert*innen, die ihre bewährten Ansätze (z. B. auf dem Gebiet der Wiedereingliederung von Opfern der geschlechtsspezifischen Gewalt) mit Organisationen der ukrainischen Zivilgesellschaft teilen könnten. Drittens braucht es breite Informationsarbeit. Der umfassende Krieg in der Ukraine dauert jetzt schon fast ein Jahr. Und unsere Partnerländer und Verbündeten haben sich inzwischen daran gewöhnt. Aber das ist falsch, denn Krieg ist nicht normal, und er prägt den Zustand der Gesellschaft im höchsten Maße. Deshalb ist es wichtig, Menschen in der EU ständig an den Krieg zu erinnern und ihnen zu erklären, warum es wichtig ist, die Ukraine zu unterstützen.

Netzwerke und Gemeinschaften, die sich für dieselben Werte einsetzen, könnten und sollten Teil der internationalen Unterstützung sein. Die feministische Gemeinschaft als solche ist zwar sehr vielfältig und komplex, aber wie ist Ihr allgemeiner Eindruck: Fühlen sich Feminist*innen in der Ukraine ausreichend von der internationalen Gemeinschaft wahrgenommen und unterstützt?

Im Allgemeinen – ja, und es ist wirklich herzerwärmend, die Unterstützung der Gemeinschaft zu spüren. Allerdings bekommen wir ab und zu pazifistische Parolen und Aufrufe zum Frieden zu hören, die nichts Konstruktives auf den Tisch bringen. Also noch einmal: Ukrainische Feminist*innen wollen Frieden, aber zu diesem Zeitpunkt hätten jegliche Verhandlungen mit Russland keinen Sinn – sie würden den Krieg nur verlängern und nicht beenden.

Uns entgehen nicht die Bemühungen unserer westlichen Kolleg*innen, ukrainische, russische und belarussische Feministinnen zusammen zu bringen, unsere dreiseitigen Diskussionen zu fördern und uns dazu zu bringen, „wieder Freunde zu sein“. Aber solche Zusammenkünfte der Vertreter*innen von drei „Brudernationen“ würden nur noch gekünstelt erscheinen und alle von der Realität ablenken. Die ukrainische feministische Gemeinschaft betrachtet solche Veranstaltungen nicht als ein effektives Instrument im Kampf gegen den Krieg. Wir leugnen nicht die Notwendigkeit, in Zukunft wieder miteinander zu kommunizieren, aber nicht bevor die Ukraine den Krieg gewonnen hat, Russland Reparationen zahlt und allen Kriegsverbrechern in Den Haag der Prozess gemacht wird. Wenn wir jetzt zur Teilnahme an solchen Treffen gezwungen werden, trägt das nicht zum Sieg der Ukraine bei.

Welche Unterstützung fehlt noch?

Erstens ist der antikolonialistische Ansatz erforderlich, um die historischen, kulturellen und politischen Verbindungen und Beziehungen zwischen Russland (als Imperium) und seinen Kolonien, zu denen auch die Ukraine gehört, neu zu überdenken. Viele westliche Intellektuelle weigern sich immer noch, Russland als Imperium und die Ukraine als Opfer seiner kolonialistischen Ambitionen anzusehen. Deshalb wäre dies ein wichtiger erster Schritt in der Wissensproduktion auf der Grundlage eines antikolonialistischen Ansatzes und Denkens. Dieser Ansatz sollte auf allen Ebenen des Diskurses, einschließlich akademischer und öffentlicher, integriert werden.Zweitens brauchen wir internationale Kooperationen und Projekte. Ich wünschte, es gäbe mehr internationale Zusammenarbeit zwischen feministischen Gemeinschaften und mehr internationale Sichtbarkeit für ukrainische Feminist*innen. Anfang Dezember veranstaltete das Gunda-Werner-Institut einen Instagram-Livestream mit zwei ukrainischen Expert*innen zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt in der Ukraine. Ich finde es sehr wichtig, dass es mehr solche internationalen Veranstaltungen gibt, bei denen ukrainische Expert*innen über die Ukraine und die aktuelle Situation sprechen könnten.

Was erwarten Sie von internationalen feministischen Netzwerken?

Ukrainische Nichtregierungsorganisationen blieben lange Zeit von internationalen Netzwerken ausgeschlossen, wobei russische Nichtregierungsorganisationen immer viele Möglichkeiten hatten, eine Verbindung zu diesen Netzwerken herzustellen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ukrainische Nichtregierungsorganisationen in diese Netzwerke eingebunden werden – dies würde den Wissens- und Erfahrungsaustausch fördern und die Integration der ukrainischen Zivilgesellschaft in den europäischen Raum sicherstellen.

Welche Informationsquellen würden Sie denjenigen vorschlagen, die sich zu geschlechterpolitischen Fragen und feministischen Diskursen in der Ukraine informieren wollen?

Seit dem Beginn des umfassenden Krieges haben ukrainische Feminist*innen und Forscher*innen Zugang zu westlichen akademischen Ressourcen. Das ist ein gutes Zeichen. Und wir müssen sicherstellen, dass dieser Zugang auch nach dem Kriegsende nicht beendet wird, denn er kann und sollte eine Grundlage für die zukünftige Zusammenarbeit zwischen ukrainischen und europäischen feministischen Gemeinschaften werden.

Heute zeigen unsere westlichen Kolleg*innen ein beispielloses Interesse an der Ukraine. Es gibt jedoch ein Problem mit der Wissensproduktion: Praktisch alle im Westen vorhandenen Materialien über die Ukraine stammen von westlichen Wissenschaftlern, und dies beeinflusst die Sicht auf die Ukraine und die ukrainische feministische Gemeinschaft bedeutend. Ukrainische Expert*innen schreiben über die ukrainischen Fragen meistens nur auf Ukrainisch und nicht auf Englisch. Wir sehen zwar eine zunehmende Nachfrage nach englischsprachigen einschlägigen Materialien seitens unserer westlichen Kolleg*innen, aber angesichts der Umstände ist es meistens alles andere als leicht, die Herstellung einer Übersetzung zu veranlassen. Das Team unseres Projektes “Gender in Detail” in der Heinrich-Böll-Stiftung hat einige ausgewählte Artikel ins Englische übersetzt eine Initiative, die sowohl von ukrainischen Wissenschaftler*innen im Westen als auch von unseren westlichen Kolleg*innen sehr begrüßt wurde. Aber das ist ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein, dessen bin ich mir bewusst. Im nächsten Jahr wollen wir weitere Materialien übersetzen und auf unsere Website hochladen.

Vielen Dank für das Gespräch.

 


Gender in Detail“ ist auch in sozialen Medien präsent, und zwar in englischer Sprache: Twitter und LinkedIn.