Die Ukraine auf dem Weg in das Friedensprojekt Europa begleiten

Erklärung des Vorstands

Trauer um die Opfer in der Ukraine und Entsetzen über das skrupellose Streben Russlands nach der Herrschaft des Stärkeren prägen die Gedanken ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion.

Schaukelndes Kind vor zerstörten Häusern in Kyjiw
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Spuren des Krieges: zerstörte Häuser in Kyjiw.

Der Februar ist für viele Ukrainer*innen in diesem Jahr nur Fluch und Trauma. „Werden wir für immer im Februar leben?“, heißt es besorgt in Kyjiw: mit Sirenen und Fliegeralarm, in Bombenkellern, ohne Strom oder Heizung. Das Land ist voller Gerüchte über eine bevorstehende erneute Invasion russischer Truppen aus dem Norden, aus Russland und Belarus. Der 24. Februar, an dem sich Russlands umfangreicher Krieg gegen das Nachbarland zum ersten Mal jährt, wird von vielen Menschen mit Erschöpfung, aber vor allem mit Bangen erwartet. Gleichzeitig ist ihr Widerstandsgeist dennoch ungebrochen.

Es ist ein Angriffskrieg, der vor keinen menschlichen Opfern zurückschreckt und alle mit Vernichtung bedroht, die sich nicht ergeben und unterordnen wollen. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt, für viele das Totenbuch noch nicht geschrieben. Zehntausende haben ihr Leben verloren, wurden verwundet, vergewaltigt, verstümmelt. Millionen Ukrainer*innen mussten ihre Heimat verlassen, sind auf der Flucht und leben in Ungewissheit über den nächsten Tag. Es ist ein Krieg, der die Souveränität eines Staates, die Geschichte einer Nation, die Kultur eines Volkes auslöschen soll. Die russische Führung greift die regelbasierte Weltordnung an und will als neues, globales Machtsystem die Vorherrschaft des Stärkeren und Skrupelloseren etablieren. Der Kriegstreiber, ein autoritäres System, das zur Kriegsdiktatur verkommt, bekämpft ausdrücklich das Modell einer freien, offenen, demokratischen Gesellschaft. Es ist also ein Krieg, der uns direkt betrifft und bedroht.

Es erfüllt mit Schrecken, dass ein solcher Krieg in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts möglich ist. Wir verurteilen diese Barbarei und halten es für dringend notwendig, die Menschen in der Ukraine in ihrem beeindruckenden Widerstandsgeist gegen diese existenzielle Bedrohung zu unterstützen. Dies geschieht sowohl mit Waffen und gar Kampfpanzern, um die russische Aggression und den brutalen Bruch mit dem Völkerrecht zu stoppen, als auch anderweitig mit Solidarität und Zusammenarbeit. Das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Kyjiw arbeitet unter erschwerten Bedingungen weiter. Unsere ukrainischen Kolleginnen helfen unseren Partnerorganisationen aus der Zivilgesellschaft, damit diese Organisationen ihre Projekte weiterführen und sich zugleich neuen humanitären Maßnahmen und Nothilfeinitiativen widmen können. Es ist diese äußerst aktive ukrainische Zivilgesellschaft, der wir uns besonders verbunden fühlen. Sie trägt die Hoffnung auf eine lebendige demokratische Ukraine in einer friedlichen Zukunft mit.

Wiederaufbau und europäische Integration

Eines der Themen, die uns bereits jetzt umtreiben, ist der Neuaufbau des Landes. Das mag erstaunlich klingen im Angesicht des Krieges, aber schon jetzt werden national und auch in den Kommunen wichtige Entscheidungen dazu getroffen. Für uns ist von grundsätzlicher Bedeutung, dass der Prozess des Neuaufbaus grün sein wird: eine „Green Recovery“, die sich an den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Menschen orientiert, mit Blick auf ökologische Prinzipien und gerichtet auf Nachhaltigkeit. Gerade die Einbeziehung vieler unterschiedlicher Perspektiven und Wünsche, sei es der Familien mit Kindern, der Berufspendler*innen, der Radfahrer*innen oder der älteren Menschen, wird für den Erfolg der erneuerten Städte und sanierten Mobilitätsnetze entscheidend sein.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die in der Ukraine ersehnte europäische Integration, die von Seiten der Europäischen Union intensiv und ebenso fördernd wie fordernd begleitet werden sollte. Sicherlich erschwert der Krieg die Umsetzung aller notwendigen Reformen, um den EU-Kriterien gerecht zu werden, aber er motiviert auch zusätzlich. Viele kleine Schritte hat die Regierung in Kyjiw bereits in den vergangenen Jahren unternommen. Der politische Wille ist da und könnte den Neuaufbau des Landes nach gemeinsamen europäischen Standards und gemäß den Zielen des von der EU verkündeten Green Deal als Chance zur Modernisierung nutzen. Der Weg der Ukraine nach Europa bietet dem Land die Chance, einen Platz in Freiheit, Demokratie und Sicherheit zu finden. Nicht als Pufferstaat zwischen Ost und West, sondern als Teil einer Staatengemeinschaft, die sich historisch gerade auch als Friedensprojekt gegründet hat. Die Heinrich-Böll-Stiftung wird die Ukraine auf dem Weg nach Europa engagiert begleiten.

Solidarität auch mit den Repressierten in und aus Russland und Belarus

Unsere Solidarität und Unterstützung gilt aber natürlich allen, die für Menschenrechte, für Demokratie und die Freiheit des Einzelnen eintreten. Hier fühlen wir uns fest unserem Namensgeber Heinrich Böll verbunden, den in seiner engen Freundschaft mit dem russischen Schriftsteller Lew Kopelew gerade auch das Wissen um die verheerenden Folgen von Krieg und Ideologie, das Gefühl für Anstand und Verantwortung und die tiefe Abneigung gegen die Zwangsenge eines totalitären Staats getragen hat. Die Freundschaft beider unterstreicht, wie wichtig der Wille zur Versöhnung und die Offenheit für den Einzelnen vor dem kollektiven Hintergrund sind. Deshalb werden wir auch dem „anderen Russland“ und dem „anderen Belarus“ unsere Solidarität nicht verweigern. Sie gehört unseren russischen und belarusischen Partnerinnen und Partnern, die fast alle von den Staatsorganen bedroht und verfolgt wurden und ihr Land verlassen haben. Die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft ihrer Heimatländer, so fern diese auch zu liegen scheint, teilen wir mit ihnen. Damit das kräftige „Nie wieder!“, das Böll und Kopelew verband, tatsächlich eines Tages in ganz Europa verstanden und beherzigt wird.