Die Ernährungsungleichheit in Brasilien spitzt sich zu

Analyse

Nachrichten über die steigenden Zahlen zu Hunger und Ernährungsunsicherheit häufen sich, ebenso wie Nachrichten über den bereits vom Großteil der Bevölkerung beim täglichen Einkauf spürbaren Preisanstieg für Lebensmittel sowie über die sich parallel zunehmende Armut. Diese Entwicklungen zeichneten sich aber bereits vor der Covid19-Pandemie ab.

Menschen gehen in einem Mercado in Sao Paulo einkaufen.
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Mercado in Sao Paulo: Die Pandemie hat zu einer Veränderung vieler Gewohnheiten geführt und damit auch der Essgewohnheiten.

Daten aus 2021 belegen, dass im selben Jahr die Anzahl der weltweit während der Pandemie verhungerten Menschen die Anzahl der Todesopfer des Corona-Virus überstieg. Darauf weist auch der durch die UNO koordinierte Bericht über den Stand der Ernährungssicherheit und Ernährung in der Welt hin. Aus dem Bericht geht hervor, dass sich im Jahr 2020 der Hunger auf der Welt so drastisch verschlimmert hat, dass das zweite Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG 2: Kein Hunger bis 2030) nicht erreicht werden wird.

Die Situation in Brasilien ist besorgniserregend: Das brasilianische Forschungsnetzwerk für Ernährungs- und Nahrungsmittelsicherheit und Souveränität (Rede Penssan) zeigt auf, dass das Hungerniveau wieder auf die Werte der 1990er Jahre angestiegen ist und dass Hunger somit wieder ein strukturelles Problem Brasiliens darstellt. Ende 2020 war, nach fast einem Jahr der Pandemie, mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen. Aktuell sind 15,5% der Bevölkerung von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen – das macht 33 Mio. Menschen, die starken Hunger leiden.

Gesunde Essgewohnheiten nur für Gutverdienende

Die Pandemie hat zu einer Veränderung vieler Gewohnheiten geführt und damit auch der Essgewohnheiten. In Brasilien bringt dies zwei Aspekte mit sich: Auf der einen Seite hat der reichste Teil der Bevölkerung, meist Anwohner und Anwohnerinnen großer Städte, gesündere Essgewohnheiten erlangt, mit einem höheren Verbrauch von natürlichen und frischen Produkten. Außerdem ist der Trend zu beobachten, dass zunehmend Bio- Produkte konsumiert werden. 2020 erlebte der Bio-Sektor im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg von etwa 30 %. Doch die Entwicklung hat auch eine Kehrseite. In den ärmsten Regionen und unter den am wenigsten gebildeten Menschen ist der Verzehr von stark verarbeiteten Lebensmitteln angestiegen und [sogenannte] Nebenprodukte aus der Lebensmittelherstellung, wie Bruchreis oder Rinderknochen, sind Teil der Hauptnahrungsmittel für viele Brasilianer und Brasilianerinnen geworden.  

Die Situation verschlechterte sich mit dem Ausbruch des Corona-Virus. Der Lateinamerikanische Adipositas Verband (FLASO) schlussfolgert nach der Analyse der Daten in Lateinamerika, dass die Region durch die ungesunde Ernährung, insbesondere durch den zu hohen Konsum von stark verarbeiteten Lebensmitteln, mit zwei Pandemien konfrontiert sei – mit dem Corona-Virus und mit Übergewicht. Daher ist es besonders wichtig Politiken aufzulegen, die dem erhöhten Konsum von stark verarbeiten Lebensmitteln entgegenwirken. Nicht umsonst steht im Ernährungsratgeber für die brasilianische Bevölkerung, dass auf diese Produkte möglichst verzichtet werden sollte. Es wäre jedoch auch notwendig, die Produktion, Vermarktung und Verbreitung hochverarbeiteter Lebensmittel stärker zu reglementieren.

Eine Graphik, auf der es um die Verteilung von Fleisch und Obst geht.

Nicht nur im Bereich der Ernährung stehen wir vor einer herausfordernden Entwicklung. Die soziale Ungleichheit in Brasilien ist während der Pandemie stark angestiegen: Die Reichsten sind noch reicher geworden, während die Armut zunimmt. Es sind (wenige) neue Milliardäre hinzugekommen und eine große Anzahl an Menschen wurde in Richtung Misere gedrängt. Diese Entwicklung wurde durch die Pandemie beschleunigt, war jedoch bereits zuvor in vollem Gange. Das trifft nicht nur auf Brasilien zu – auf der ganzen Welt wächst die Kluft zwischen den beiden Extremen der sozialen Pyramide. Daher ist es, wenn man die Ernährungssysteme der heutigen Zeit untersucht, auch erforderlich, die Gesamtheit der unsere Gesellschaft bestimmenden Systeme in denen Reichtum und Macht konzentriert wird, in den Blick zu nehmen.

Die Macht des Agrobusiness

Es muss ebenso erwähnt werden, dass abgesehen von der Ungleichheit auch die Anzahl der in Brasilien zugelassenen Pestizide angestiegen ist. Das (Pandemie)Jahr 2021 war ein Rekordjahr in Bezug auf die in Brasilien neuregistrierten Agrargifte. Zwar steigt ihre Anzahl seit 2016, doch allein im Jahr 2021 wurden 562 Pestizide und damit 14% mehr als im Vorjahr freigegeben. Das Agrobusiness beschwört den wirtschaftlichen Aufschwung und steigert die ohnehin bereits alarmierend hohen Zahlen an industriell und unter Einsatz dieser Chemikalien produzierten Lebensmittel und wird dadurch auch immer mächtiger. Und mit ihm nimmt auch die Zerstörung der Ökosysteme zu.

So kann die Schuld für die hohen Quoten der von Hunger und Ernährungsunsicherheit betroffenen Menschen in Brasilien nicht allein der Pandemie zugeschrieben werden. Wie oben dargestellt, bestand diese Entwicklung bereits, bevor das Virus zum ersten Mal nachgewiesen wurde. Schon vor der Pandemie wurden Politiken und Initiativen für Ernährungssicherheit und gesunde Ernährung eingestampft. Die Nationale Politik für Agrarökologie und ökologischen Anbau (PNAPO), die aufgrund ihrer hohen Wirksamkeit zur Förderung der Agrarökologie 2018 mit dem silbernen Preis des Future Policy Award (FPA) ausgezeichnet worden war, ist beispielsweise abgebaut worden. Sie wurde in einem breit angelegten Dialog mit der Zivilgesellschaft entwickelt und trug maßgeblich dazu bei, dass über fünftausend Gemeinden in Brasilien mindestens 30% ihres Haushalts dafür nutzen, die Lebensmittel für die Schulspeisung aus ökologisch oder agrarökologischer Produktion zu beziehen, also zumeist aus der Betrieben der familiären Landwirtschaft. Diese Politik ist insbesondere auf Bundesebene geschwächt worden, während das sogenannte „Giftpaket“, das Gesetzespaket für einen flexibleren Einsatz von Agrargiften in Brasilien, breite Unterstützung erhielt.

Graphik zur Ernährungsunsicherheit in Brasilien

Dennoch kämpfen die Bewegungen für Agrarökologie und der traditionellen Völker weiter gegen den Hunger und für die Stärkung von Gruppen, die gesunde Lebensmittel erzeugen und sich der Mär des Agrobusiness als einzigen Weg der Lebensmittelproduktion (und des Reichtums) entgegenstellen. Die brasilianische Bevölkerung sprach sich 2021 beispielsweise für die Annahme des Gesetzesvorhabens Nr. 823/2021 aus, durch das Nothilfemaßnahmen für die familiäre Landwirtschaft eingeführt werden sollten, um die sozioökonomischen Folgen der Corona-Pandemie aufzufangen. Der Kampf für die Einführung einer nationalen Politik zur Reduzierung von Agrargiften (PNaRA) mobilisiert ebenfalls weiterhin unterschiedliche Akteure der Zivilgesellschaft und der sozialen Bewegungen der auf dem Land und in den Wäldern lebenden Völker.

Es wird deutlich, dass es notwendig ist die Produktion und den Konsum von agrarökologischen, sozial gerechten und feministischen Produkten zu fördern und das Potenzial der familiären Landwirtschaft als einen Pfeiler der Lebensmittelsysteme zu berücksichtigen. Dies zu ignorieren würde bedeuten, die Kluft zwischen denjenigen, die Zugang zu einer gesunden, frischen und ökologisch produzierten Ernährung haben, und denjenigen, die nicht einmal wissen, ob sie alle Mahlzeiten des Tages zusammenbringen werden, noch weiter auseinanderzutreiben. Auch wenn die Pandemie die soziale Ungleichheit in Brasilien vertieft hat, darf die Rolle der aktuellen Lebensmittelsysteme als ein Motor dieser sozial-ökologischen Ungerechtigkeit nicht unbeachtet bleiben.


Übersetzung aus dem Portugiesischen: Kirsten Grunert

Der portugiesische Originaltext erschien in der Publikation „Poder, Pobreza, Fome: Fatos do sistema alimentar 2022 auf der Webeite der Heinrich-Böll-Stiftung Brasilien [br.boell.org] und kann hier eingesehen werden. Der deutsche Text wurde von Julia Ziesche und Mareike Bödefeld gekürzt und redigiert.