Warschau – die vegane Hauptstadt

Auch wenn das Vorurteil sich hartnäckig hält, dass traditionelle polnische Küche selten ohne Fleisch auskommt: Vegane Ernährung boomt und ist schon lange kein Nischenangebot mehr. Polens Metropole ist grün. Vor allem, was das Speiseangebot betrifft.

Ich bin Vegetarierin seit dem 16. Lebensjahr, und Veganerin seit dem 20. Ich bin zwar noch jung, aber ich erinnere mich an eine Zeit, in der es eine Herausforderung war, auswärts zu essen, in der ich für veganen Joghurt durch die halbe Stadt fahren musste und in der ich veganes Gebäck nur in meiner eigenen Küche zubereiten konnte. Langsam jedoch entwickelte sich die vegane Gastronomie in Warschau und öffnete uns die Augen für neue kulinarische Möglichkeiten.

Der Siegeszug des veganen Burgers, der die pflanzliche Küche populär machte, nahm mit der Kette Krowarzywa seinen Anfang. Das erste Lokal von Krowarzywa war im Stadtzentrum, klein und ein Geheimtipp, dort wurden Jaglanex (Hirsegrützeburger), Seitanex (Seitanburger) und Cieciorex (Kichererbsenburger) auf ökologischen Einwegtellern aus gepresster Kleie serviert. Ich saß auf einem bunten Holzhocker, neben mir auf den Bänken junge tätowierte Vegetarier/innen und Manager/innen in schicken Anzügen, die ihre Mittagspause nutzten, um sich einen Rote-Bete-Burger mit großzügiger Portion veganer Mayonnaise zu holen. Mittlerweile hat Krowarzywa allein in Warschau fünf Restaurants und weitere in anderen polnischen Städten. Die besondere Atmosphäre des kleinen Lokals ist zwar nicht mehr so zu spüren, doch die Burger werden weiter nach den alten Rezepten gemacht und sind immer noch so gut.

Bald gab es andere pflanzliche Speisen im Angebot und weitere Restaurants in Warschau – von Hotdog-Bars über schicke italienische Pizzerias bis hin zu hervorragenden Sushi-Restaurants und der traditionell polnischen Küche. Bereits im Jahr 2017 belegte Warschau den dritten Platz im Happycow-Ranking der veganfreundlichsten Städte der Welt, gefolgt von New York, London und San Francisco. Nach wie vor ist die Stadt in den Top 10. Derzeit gibt es dort über 60 rein vegane Restaurants und doppelt so viele vegetarische. Wie das Lokal Vegan Bistro. Es zeigte, dass polnische Hausmannskost auch ohne Fleisch auskommt.

Veganes Essen

Als junge Veganerin genoss ich jede Mahlzeit, die kein Fleisch und keine Milch enthielt. Aufgewachsen bin ich aber in einem Elternhaus, in dem fast jeden Tag Fleisch auf dem Tisch stand, in Form von Schweinekoteletts, Buletten, Gulasch – alles typische Gerichte der polnischen Küche der 90er Jahre. Viele Menschen, die auf Fleisch verzichten, sehnen sich nach dem Geschmack der Gerichte, die sie von den Familienmahlzeiten und aus der Schulkantine kennen. Dies ist vielleicht der Grund für den enormen Erfolg des veganen Schnitzels Schabowy im Lokal Vegan Bistro.

Veganes «Schweinekotelett» Schabowy mit Dill-Kartoffeln und Mizeria, Gurkensalat mit saurer veganer Sahne, schmecken dort genauso gut wie die Gerichte aus früherer Zeit. Das zeigt, dass Veganismus weder mit Verzicht einhergehen noch besonders raffiniert und exotisch sein muss. Vegane Gerichte basieren nicht immer auf neuen, unbekannten Zutaten. Ganz im Gegenteil, sie können genauso vertraut und bekannt sein wie die Tomatensuppe bei Oma, «Hering  in Sahne» oder regionale Kartoffelkuchen Babka ziemniaczana. Das ist auch die Philosophie vom Lokal Vegan Bistro – traditionell, bekannt, wie bei Oma schmeckend, nur ohne Fleisch und Tierprodukte.

Peaches Gastro Girls
Das Peaches Gastro Girls ist ein beliebter Treffpunkt mit einem bunt gemischten Publikum.

Joanna Maria Stolarek leitet seit eineinhalb Jahren das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Polen, bei ihrer kulinarischen Reise durch Polens Hauptstadt machte sie die Erfahrung, dass traditionelle polnische Speisen mit so viel Phantasie und so schmackhaft zubereitet werden, dass sie sich manchmal schon beim Personal vergewissern musste, ob alles tatsächlich rein pflanzlich ist. Ihr Lieblingslokal ist das Leonardo Verde. «Das Schnitzel dort und der Gurkensalat mit Sahne aus Sonnenblumenkernen machen süchtig», sagt sie und lacht.

Das Lokal zeigt sein soziales und politisches Engagement bei Tierhaltungs- und Klimafragen, aber auch bei anderen gesellschaftlich relevanten Themen. Bereits am Eingang wird man mit einer großen Regenbogenflagge begrüßt, als Zeichen der Unterstützung für die LGBTIQ+-Community in Polen, und einem Plakat «Free Belarus». Der Ort wurde von einer Gruppe von Freunden gegründet, die eine Sozialgenossenschaft namens «Margines» ins Leben riefen, um über die üblichen Formen des Unternehmertums hinauszugehen und die Tradition der polnischen Genossenschaftsbewegung wiederzubeleben. «Es war diese Bewegung, die die polnische Wirtschaft aufgebaut hat, es waren nicht die privaten Eigentümer. In kapitalistischen Systemen, insbesondere in dem Polens, wird der menschliche Faktor in den Hintergrund gedrängt», sagte einer der Gründer im Jahr 2014 in einem Interview mit Polens größter Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

Die «Kollektivsmitgliederinnen» des veganen Restaurants Słuszna Strawa
Die «Kollektivsmitgliederinnen» des veganen Restaurants Słuszna Strawa.

Man könnte meinen, dass das Lokal ein Nischenklientel anzieht. Es wurde aber schnell populär, auch bei Promis, und man trifft dort heute eine bunte Mischung aus Schriftsteller/innen, Aktivist/innen und liberalen Politiker/innen.

Hinter den Restaurants verbirgt sich eine bunt gemischte Szene: Von sozialen Genossenschaften, religiösen Gruppen, Freundinnen und Küchenchefinnen, Enthusiasten der japanischen Popkultur bis hin zu Programmierern – alles ist dabei. Wie zum Beispiel Michał, Mitbegründer des IT-Unternehmens CD Projekt, das durch das Computerspiel The Witcher internationale Anerkennung erlangte. Er betreibt heute die rein vegane Kneipe Wegeguru auf dem legendären Plac Zbawiciela, einer der Warschauer places to be. So vielfältig wie die Gruppe der Gründer/innen ist auch der Kundenkreis der veganen Restaurants: nicht nur linke Hipsters, Vegetarier/innen und Radfahrer/innen kommen hierher, auch nicht nur Menschen mit relativ hohem Einkommen. In dem Café Kryzys auf dem Syrena-Squat Gelände zum Beispiel wird vollständig vegane Küche serviert – hungrige Gäste können für ihre Mahlzeit einen niedrigeren «Krisen»-Preis und einen höheren «Solidaritäts»-Preis zahlen. Das ist das günstigste vegane Essen in Warschau, nicht nur für Leute, die sich mit den Bewohner/innen von Syrena solidarisieren wollen.

Soziales Engagement zeichnet viele vegane Gastronomien aus. Słuszna Strawa ist ein veganes Restaurant und Catering, das von einem Kollektiv im Jahr 2020 gegründet wurde. Die Gruppe setzt sich überwiegend aus in Warschau wohnenden Migrant/innen und geflüchteten Menschen zusammen. Die Idee des Restaurants war es, die Menschen zu unterstützen, die ihre ersten Schritte im Land Richtung Selbstständigkeit machen und eine anständig bezahlte Beschäftigung suchen, wo sie frei von Diskriminierung und Rassismus arbeiten können. Die Chefinnen, Harugu aus Eritrea, Maysoon aus dem Irak, Julia aus Belarus und Gurdip aus Indien kochen veganes Essen nach den Rezepten aus Orten und Ländern, die sie verlassen mussten. Zu den beliebtesten Gerichten gehören tschetschenische Manty, irakisches Fladenbrot Lahme bi Ajeen und eritreische Sambusa.

Veganes Eis ind er Waffel

Das Peaches Gastrogirls ist ein weiteres Projekt, das während der Pandemie entstanden ist. Die Freundinnen Kaludia und Monika verloren während des Lockdowns ihre Arbeit, lebten zusammen und kochten die Gerichte, die sie vermissten. Mit einer Spendensammlung auf einer Website eröffneten sie ein veganes Catering-Unternehmen, das heute, weniger als ein Jahr später, zu einem Restaurant geworden ist, in dem man kaum einen Tisch am Abend bekommt. Die Speisekarte ist durchdacht und kombiniert verschiedene kulinarische Traditionen von japanisch bis mexikanisch. Ähnlich sieht es mit der Einrichtung aus. Die Räume sind in Grüntonen gehalten, Pfirsichorangen dekorieren appetitlich – daneben findet man Erinnerungsstücke aus dem kommunistischen Polen – hohe Blumenständer aus Metall und Duralex-Geschirr. Das Restaurant vereint also vielfältige kulinarische und ästhetische Vorlieben der Gründerinnen, ihr weltanschauliches Fundament ist neben dem Veganismus auch der Feminismus. «Die ‹Köchin› ist in unserer Vorstellung immer noch die Dame aus der Schulkantine. Bei uns gibt es Küchenchefinnen und Sous-Chefinnen. Wir müssen auch Mädchen in einer professionellen Küche zeigen», sagen die Gründerinnen Klaudia und Monika.

Unternehmerinnen sind in der veganen Gastronomie Warschaus sehr präsent und prägen sie entscheidend mit. Ein weiteres Frauenteam bilden Maja und Basia, die Gründerinnen vom Vegan Ramenshop. Das Lokal wurde 2017 als erstes Ramen-Restaurant in Warschau eröffnet. In einem winzigen Raum saßen die Gäste zwischen japanischen Postern mit Rilakkuma-Bären und Godzilla-Figuren und machten sich auf ihre ersten veganen Entdeckungstouren. Vegan Ramenshop ist ein Tempel des Umami-Geschmacks – des sogenannten sechsten Geschmacks, dessen Intensivität gewöhnlich mit Fleischprodukten verbunden wird. Die Ramen-Mädchen räumen mit diesem Mythos auf. Die vor Ort zubereiteten Suppen mit Nudeln sind wahre Meisterwerke. Die Köchinnen ziehen intensive Aromen aus Pflanzen und verwenden dabei klassische Zutaten wie Sojasauce, Algen, Miso-Paste, Pilze oder Tomaten. Ein weiterer Ort, der davon zeugt, dass vegane Küche nicht fade und asketisch sein muss. «Diese Küche hat nichts mit einer Diät zu tun! Wenn mich jemand fragt, wie viele Kalorien unsere Schüssel Ramen hat, antworte ich, dass es wahrscheinlich etwa Tausend sind. Es soll hedonistisch sein, obwohl es rein pflanzlich ist», sagt Maja vom Vegan Ramenshop.

Schüsseln mt veganem Essen

Das bekannteste vegane Duett besteht aus Malka Kafka und ­ihrer Lebensgefährtin Laura Monti. Ihnen gehört das israelische ­Restaurant Tel Aviv, eines der ersten rein vegetarischen Restaurants in Warschau. Schon 2010 machte Malka die Warschauer Kundschaft mit Hummus, Pita und israelischen Pickles vertraut. Schon ein paar Jahre später wurde das Tel Aviv vegan, ganz nach der Entwicklung ihrer Gründer­innen. Malka und Laura setzen sich zudem für die Rechte von LGBTIQ+-Menschen in Polen ein und nutzen ihre Restaurants als Plattform für verschiedene Solidaritätsaktionen. Allein in Warschau gibt es schon sieben Filialen, auch in anderen polnischen Städten wurden bereits Restaurants eröffnet. Und das in Zeiten der Pandemie.

Die veganen Gastronomiebetriebe verraten trotz ihres Erfolges nicht ihre Ideale. Sie kochen und backen vegan, weil sie es aus ethischen Gründen ablehnen, Tiere für menschliche Ernährung zu nutzen, weil sie nachhaltig und ökologisch wirtschaften und etwas für den Klimaschutz tun möchten. Es ist den Restaurants, Bäckereien und Bars gelungen, veganes Essen populär zu machen und aus der Nische zu holen. Auch widerlegen sie das Vorurteil, vegane Küche sei elitär und nur einer kleinen Gruppe von Idealisten zugänglich. Veganismus ist in Warschau ein politisches und ethisches Statement, steht aber gleichzeitig für Geschmack und Qualität, was auch Fleischesser/innen und Flexitarier/innen anzieht. Ein wirksamer Ansatz für den sozialen Wandel, bei dem die pflanz­liche Ernährung immer mehr zu unserem Alltag gehört. Smacznego!

Guten Appetit!


Anna Jakubowska ist Kulturanthropologin. Sie beschäftigt sich mit ländlichen Gebieten und Landwirtschaft und ist Koordinatorin des Programms der Europäischen Agrarpolitik im Warschauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.

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