Argentinien: Staatliche Politik für LGBTIQ* ist eine schwierige Aufgabe

Interview

Alba Rueda ist Unterstaatssekretärin für Diversitätspolitik im neuen Ministerium für Frauen, Gender und Vielfalt. Sie ist die erste Trans*-Aktivist*in, die ein so hochrangiges Amt im argentinischen Staat bekleidet. 

Alba Rueda

51 Jahre sind seit dem Stonewall-Aufstand vergangen, einem Meilenstein im Kampf um die Rechte LGBTIQ* und Ursprung des internationalen Gedenktages Christopher-Street-Day. In den letzten Jahren wurden für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Queere und Menschen mit trans-, und intersexuellen sowie nicht binären Geschlechtsidentitäten Rechte zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erstritten.

In Argentinien wurden mehrere Gesetze verabschiedet, die zu einer Stärkung der Geschlechterdemokratie beitragen. Eingeführt wurden etwa das Recht auf gleichgeschlechtlichen Ehe, ein Gesetz über Geschlechteridentität, das Recht auf kostenlosen Zugang zu Reproduktionstechnik, ein Gesetz für ganzheitliche Sexualerziehung und das sogenannte „Micaela-Gesetz“ (Ley Micaela), mit dem Staatsbedienstete zu Weiterbildungen in Geschlechtersensibilität verpflichtet werden. Dennoch ist es bisher nicht gelungen, die strukturelle Gewalt zu beseitigen und das Recht auf Wohnung, Gesundheit, Bildung und Arbeit in vollem Umfang durchzusetzen. Unter den derzeitigen Bedingungen der Wirtschafts- und Coronakrise sind gerade diese Rechte besonders stark beeinträchtigt. Verschiedene Organisationen fordern vom argentinischen Staat eine aktive Rolle und ganzheitliche Politikkonzepte.

Wir haben dazu Alba Rueda befragt, Unterstaatssekretärin für Diversitätspolitik des neu eingerichteten argentinischen Ministeriums für Frauen, Gender und Vielfalt. Sie ist die erste Trans*-Aktivist*in, die ein so hochrangiges Amt im argentinischen Staat bekleidet.

Vor dem Hintergrund der weltweiten Corona-Pandemie, d.h. zwischen Notsituation und strukturellem Wandel, fragen wir: Wo liegen Ihre zentralen Arbeitsschwerpunkte bei der Gestaltung staatlicher Politik für Bevölkerungsgruppen, die als Minderheiten gelten?

Infografik: Femizide in Lateinamerika
Femizide in Lateinamerika

Unsere Gesellschaften sind zutiefst ungleich, ungerecht und durchzogen von Vorurteilen und Diskriminierung gegen viele Bevölkerungsgruppen. Dies hat mit traditionell geprägten Sichtweisen zu tun. Das Ministerium stellt sich jetzt zunehmend seiner riesigen Verantwortung und begreift sie als historische Schuld gegenüber den Frauen, der sexuellen Vielfalt und den diversen LGBTIQ*. In diesem Sinne liegt der Ausgangspunkt in den ungerechten Bedingungen, die im Zusammenhang mit der Pandemie und den Ausgangsbeschränkungen zwar besonders deutlich zu Tage getreten sind, aber schon seit Jahren von den Organisationen, den sozialen Bewegungen und den führenden Aktivist*innen für sexuelle Vielfalt aufgezeigt werden. Ich meine damit die strukturelle Gewalt gegen Trans*personen, die in den letzten Monaten sehr konkret zu Tage getreten ist. Sie hat mit Hunger zu tun und mit fehlenden staatlichen Politikkonzepten, d.h. es geht dabei auch um institutionelle und soziale Gewalt. Vor diesem Hintergrund steht für uns die Verantwortung für die historische Schuld staatlicher Politik in Bezug auf Gender und Diversität an erster Stelle. Außerdem haben wir gerade in den letzten Monaten gesehen, dass unsere Politikkonzepte nicht zersplittern dürfen. Für ein Verständnis staatlicher feministischer Politik gibt es zwei Kernansätze, nämlich Ganzheitlichkeit und Transversalität. Wir müssen jeglicher Form von Gewalt entgegenwirken, nicht nur körperlicher oder polizeilicher Gewalt, sondern auch der Gewalt in der Familie, in der Schule, im Gesundheitsbereich.

Für die hiesigen Verhältnisse, für die sozialen Projekte, die die Ungleichheit zum Thema machen und sich für die Überwindung zutiefst ungerechter Gesellschaften einsetzen, ist staatliche Präsenz dringend notwendig. Die Lösungsansätze dürfen sich aber nicht auf die Vorstellung vom Ministerium für Frauen, Gender und Vielfalt beschränken, sondern das Ministerium muss in der Lage sein, eine auf Geschlecht und Vielfalt ausgerichtete Agenda als Querschnittsaufgabe zu gestalten und zu steuern, und dies nicht nur in der Nationalregierung, sondern auch im Dialog mit den Provinzregierungen und den Kommunalverwaltungen. Ich will damit sagen, dass die Perspektive eine regionale ist und jenen Stimmen den größten Wert beimisst, die historisch gesehen, die Forderungen entwickeln.

Zur Datenlage: Inwieweit werden Informationen bereitgestellt, um die von Ihnen erwähnte staatliche Politik zu konzipieren?

Infografik: Geschlechtliche Selbstbestimmung in Lateinamerika
Geschlechtliche Selbstbestimmung in Lateinamerika

Das ist derzeit eine schwierige Aufgabe, denn bisher haben wir darüber gesprochen, wie Politik ausgehend von diesen neueren Entwicklungen entworfen werden kann. Aber auch die staatliche Planung braucht für die Politikgestaltung Informationen über die argentinische Bevölkerung. Zu den Erkenntnissen aus den letzten sechs Monaten gehört auch, dass uns tatsächlich keine Daten über die LGBTIQ* in Argentinien vorliegen. Dies ist Fakt, und wir haben jetzt die gigantische Aufgabe, solche Daten zusammenzutragen. Deshalb gibt es in unserem Ministerium auch eine Statistikabteilung. Wir streben eine Einbindung in das nationale Statistiksystem ein, um über die Variablen und Dateninterpretationen sprechen zu können, auf die sich heute die staatlichen Politiken stützen. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen, nicht nur in Argentinien, sondern weltweit, und dazu gehört auch die Frage, wie wir die Perspektive der Vielfalt in das Datenerfassungssystem einbinden können, das heißt wie wir die binäre Struktur in der Erfassung von Bevölkerungsdaten aufbrechen können.

Unter den derzeitigen Bedingungen der Wirtschaftskrise und der Ausgangsbeschränkungen (konnten wir beobachten, wie sich die ärmeren Bevölkerungsgruppen schnell und weitreichend organisiert haben, um Unterstützung zu leisten. Dabei ging es nicht nur um solidarische Hilfe, sondern auch um politische Organisation und Vernetzung mit staatlichen Strukturen in verschiedenen Themenbereichen. Worauf lässt sich das in Ihren Augen zurückführen?

Die sozialen Organisationen haben hier eine Schlüsselrolle gespielt. Sie waren in der Lage, lenkend einzugreifen, auf bestehende Forderungen hinzuweisen, die Stimme zu erheben und die Ungleichheiten deutlich zu machen. Die sozialen Bewegungen in Argentinien und in ganz Lateinamerika besonders hervorzuheben ist von zentraler Bedeutung, denn sie sind die Kraft, mit der eine größere Anerkennung von Rechten, ein stärkeres Engagement für die Demokratie und auch ein stärkeres Engagement auf regionaler Ebene erreicht werden kann. Sie zeigen die Grenzen der demokratischen Systeme, und deshalb besteht auch eine wichtige Aufgabe darin, sehr genau zuzuhören. Ich komme aus den sozialen Bewegungen, und in meinen Augen liegt die große Herausforderung seit meinem Amtsantritt in der Umsetzung dieser politischen Forderungsagenda als Schlüsselbereich staatlicher Politik.

Wie können diese Problemfelder unter Berücksichtigung regionaler Eigenheiten aus nationalstaatlicher Sicht angegangen werden?

Wir müssen uns Gedanken über ein riesiges Land machen, und im Rahmen unserer Agenda auch an die verschiedenen Regionen denken. Damit tragen wir etwas sehr Wichtiges bei, nämlich die Textur der Vielfalt. Hier konnte der Feminismus die Variable der Intersektionalität aufzeigen, die etwas mit Klasse zu tun hat, mit Ethnie, mit Geschlecht; und ebenso auch die Regionalität, um so die spezifischen lokalen Bedingungen einzubeziehen und Indikatoren zu entwickeln, die Antworten liefern und Möglichkeiten bieten, gemeinsame Szenarien und konkrete Agenden zu entwerfen, beispielsweise für die Menschen in Jujuy im Süden Argentiniens mit ihren spezifischen kulturellen und sozialen Lebensbedingungen. Es gibt eine Textur der Vielfalt, und sie ist kein liberales Prinzip, sondern genau das Gegenteil: ein Prinzip der Anerkennung einer Geschichte, die von sozialen Kämpfen, von Gewalt und struktureller Gewalt geprägt ist. Die staatliche Politik muss in der Lage sein, die Rechte für alle wiederherzustellen.

Woran merken Sie, dass sich Ihr Leben verändert hat, seit Sie diese neue Rolle übernommen haben?

Also, ich werde Ihnen etwas sagen, wovon ich nicht weiß, ob das die Antwort ist, aber ich dachte vorher, dass ich viel gearbeitet hätte (lacht). Jetzt weiß ich, dass viel auch sehr viel sein kann. Ich habe die historische Lücke in Bezug auf unsere Rolle erkannt und den Fokus der Verantwortung in Richtung einer historischen Verantwortung verlagert. Ich fühle mich sehr verantwortlich für die Szenarien, die wir durchlaufen. Ich denke, wir müssen wissen, wie wir diese Verantwortung in eine Menge Arbeit umsetzen können, in eine Menge Bewusstsein, das ist meiner Meinung nach ein ethischer Horizont.

Ganz persönlich habe ich etliches über die Vielfalt unserer Gesellschaften gelernt. Diesbezüglich gibt es für uns alle eine Menge zu lernen, und ich habe das Privileg, viel sehen und viele Stimmen hören zu dürfen, und diese Stimmen sind notwendig, um überhaupt so denken zu können. Ich beziehe mich dabei auch auf die Frage, wie wir die stumpfen Sichtweisen der Bevölkerung durchbrechen und erkennen können, dass die Trans*personen unseres Landes ihre eigene Textur besitzen und das Recht haben, sich auch in ihrer Rolle gegenüber den Institutionen selbst zu denken. Ich lerne also mit großem Respekt, meine Arbeit voranzubringen.

Was würden Sie gern den jüngeren Generationen sagen?

Diese Frage ist sehr notwendig, aber auch ausgesprochen schwierig zu beantworten. Ich arbeite daran, dass sich tatsächlich die Horizonte der Vielfalt öffnen, in den Schulen, den Familien, den Quartieren, damit die Kinder, die Jugendlichen ihre persönliche Entwicklung wirklich mit der Freiheit erleben können, die wir nicht hatten. Dies ist ein Prozess mit einem viel breiter angelegten sozialen Projekt als die Arbeit, die ich leisten kann. Dennoch hoffe ich sehr, dass ich in diesem Schlüsselbereich einen Beitrag leisten kann. Ich weiß aber auch, dass damit nichts zu Ende gebracht ist, sondern dass dies nur einer von vielen wichtigen Schritten auf dem Weg zum Ziel sein wird.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Geschlechterdemokratie in Lateinamerika.


Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt