Politik der Leere: Das Gedenken an den Holocaust in Deutschland, der Ukraine und Russland

Im Rahmen des Projekts „Raum für Dialog schaffen“ trafen sich im Dezember 2016 Nachwuchsjournalist/innen aus Russland und der Ukraine in Berlin. Ihre Diskussionen über eine friedliche Transformation bewaffneter Konflikte und Besuche der Gedenkstätten führten ihnen vor Augen, dass die tragischen Ereignisse des Holocaust Deutschland, die Ukraine und Russland verbinden. Was für Orte des Gedenkens enstanden in den einzelnen Ländern, woran wird erinnert und was wird lieber vergessen?

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin
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Das Holocaust-Mahnmal in Berlin

Übersetzung ins Deutsche: Irina Bondas

Berlin: Gedenken an den Holocaust

In Berlin gibt es besonders viele Holocaust-Mahnmale zum Gedenken an das Schreckenskapitel der Vernichtung von knapp 6 Millionen Juden und Jüdinnen. Im Herzen Berlins, gleich neben dem Brandenburger Tor, befindet sich das wohl bekannteste Denkmal für die Opfer des Holocaust.

Die unausgefüllten, schwindelerregend schrägen Räume des Jüdischen Museums auf der Lindenstraße erzählen eindrücklich von der Tragödie der Juden und Jüdinnen, von ihrem Schmerz und den Verlusten, die sie durch das Naziregime davontrugen.

Die Ukraine: Orte ohne Erinnerung

Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine sind 1,5 der 6 Millionen Juden und Jüdinnen Europas dem Holocaust zum Opfer gefallen. Im westukrainischen Brody, der Geburtsstadt des weltberühmten Dichters Joseph Brodsky, scheint die Zeit stillzustehen. Anfang des vergangenen Jahrhunderts machten die Jüdinnen und Juden einen großen Teil der Bevölkerung aus.

Alles, was nach dem Zweiten Weltkrieg von ihnen übrigblieb, sind ein Straßenname und wenige Häuser, die einst zum Ghetto gehörten. Ebenso ist es um das Schicksal einer anderen ukrainischen Stadt bestellt: Schmerynka, wo Juden und Jüdinnen einst etwa 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten.

Während des Krieges gab es in der Stadt ein Ghetto, in das rumänische Juden und Jüdinnen verbannt wurden. Die letzten jüdischen Straßenzüge, die den Bombardierungen standgehalten hatten, wurden in den 1960 bis 70er Jahren abgerissen, an ihrer Stelle wurde eine Kathedrale errichtet.

Um die Stadt Buczacz, 70 Kilometer entfernt von Ternopil, ist es etwas besser bestellt: Hier ist ein jüdischer Friedhof erhalten. Es gibt sogar ein Mahnmal, an dem bis vor kurzem drei Plaketten angebracht waren: in russischer, englischer und hebräischer Sprache. Letztere wurde von Vandalen zerstört.

in einheimischer Fremdenführer hat die Bruchstücke gefunden und aufgelesen. In Buczacz lebten vor dem Krieg über 5.000 Juden und Jüdinnen. 3.000 von ihnen sind in das Vernichtungslager Belzec deportiert worden, die im Ghetto verbliebenen Jüdinnen und Juden wurden erschossen. Den Krieg haben nur 500 Menschen überlebt, bald haben auch sie diese Stadt verlassen. Dort, wo früher das Ghetto war, ist jetzt ein Markt.

Früher kamen Juden und Jüdinnen aus verschiedenen Ländern her, um den Friedhof zu besuchen. Von solchen Besucherinnen und Besuchern wurde 2012/2013 ein weiteres kleines Mahnmal errichtet. In letzter Zeit kommt wegen des Krieges in der Ukraine jedoch keiner mehr.

Babi Jar: Ort der Erinnerung und des Vergessens

Die Menschen, die heute in den Städten der Ukraine leben, erinnern sich selten an die Orte der Tragödie oder sie wissen kaum etwas darüber. Ein solches Beispiel für das Vergessen ist die Schlucht Babi Jar in Kyiw.

Hier wurden am 29. und 30. September 1941 über 33.000 Juden und Jüdinnen erschossen, insgesamt sind zwischen 1941 und 1943 der Besatzungsmacht über 100.000 Menschen zum Opfer gefallen. Unter ihnen waren nicht nur Juden und Jüdinnen, sondern auch Roma, Karäer, sowjetische Kriegsgefangene und Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Trotz der Ausmaße dieser Tragödie ist für viele Einwohnerinnen und Einwohner Kyiws Babi Jar bloß ein Park mit Bänken und Wegen, auf denen Eltern mit ihren Kindern spazieren gehen. Über den Park verteilt sind etwa dreißig Denkmäler aufgestellt, allerdings ohne übergeordnetes Konzept.

Unbequeme Geschichte

Distanziert man sich von der Heroisierung der Vergangenheit, treten schwierige Fragen auf. Zum Beispiel, was die Beteiligung der ukrainischer Nationalistinnen und Nationalisten am Holocaust betrifft. Bei seiner Rede vor der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, erklärte der israelische Präsident Reuven Rivlin, hinter den Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs hätten oftmals die Kämpfer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gestanden.

Rivlin bringt hier etwas zur Sprache, worüber die ukrainischen Politikerinnen und Politiker bis heute schweigen. Aber auch diejenigen, die aktiven Widerstand gegen die Besatzungsmacht in der Ukraine geleistet haben, finden in seiner Rede Erwähnung. 2016, zum ersten Mal seit vielen Jahren, haben Politiker/innen und Historiker/innen eine öffentliche Debatte über die Erinnerung an den Holocaust angestoßen.

Anlass war der 75-jährige Jahrestag der Tragödie von Babi Jar. Von der Tribüne des Parlamentssaals sprachen Politiker/innen über die Notwenigkeit, das Gedenken aller Opfer in Ehren zu halten und eine ganzheitliche Erinnerungspolitik zu gestalten.

Wolodymyr Wjatrowytsch, Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung, der ausführenden Instanz der Regierung, äußerte die These, die Schuld für die Tragödie liege nicht allein bei den Nazis, die diese Massenvernichtung ausgeführt haben, sondern auch beim kommunistischen Regime der UdSSR, das das Ausmaß der Tragödie verschwiegen hat.

Der Aussage des israelischen Präsidenten widerspricht Wjatrowytsch allerdings und meint, dass dieser den sowjetischen Mythos über die Beteiligung der OUN am Holocaust reproduziert. Ein Jahr zuvor hatte Wjatrowytsch das Gesetz über die Anerkennung der Kämpfer der OUN und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) als Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine in die Wege geleitet.

Im September 2016 hat man in Babi Jar derer gedacht, die den Holocaust überlebt haben. Jedes Jahr werden es weniger. Im Park wurde eine Galerie mit ihren Porträts eingeweiht, aufgenommen von dem Fotografen Luigi Toscano. Bei der Eröffnung waren auch die Protagonisten und Protagonistinnen selbst anwesend.

Russland: Erinnerung, ein Mal pro Jahr

„In Russland sind mehrere hundert Orte bekannt, an denen Juden und Jüdinnen vernichtet wurden, doch es gibt nur vierzig Denkmäler“, so der Co-Vorsitzende des Russischen Forschungs- und Bildungszentrums Holocaust Ilja Altman. Seiner Meinung nach wurde im Gegensatz zu den Ländern des Baltikums, der Ukraine und Belarus, wo Anfang der 1990er Jahre die Aufarbeitung des Holocausts begann, in Russland sehr wenig in diese Richtung unternommen.

Zwar gab es in Russland keine großen jüdischen Städte, wie Odessa, Schmerynka oder Brody in der Ukraine, aber jüdische Siedlungen und den Holocaust gab es sehr wohl. In Rostow am Don reicht die Geschichte der jüdischen Gemeinde bis ins frühe 18. Jahrhundert zurück. Im August 1942 wurden in der Schlucht Smijowskaja Balka 27.000 Menschen ermordet, vor allem Juden und Jüdinnen.

Dieser Ort wird üblicherweise als das russische Babi Jar bezeichnet. 2004 wurde dort mithilfe von Mitteln der jüdischen Gemeinde eine Gedenktafel mit folgendem Text aufgestellt: „Am 11. und 12. August 1942 wurden hier über 27.000 Juden durch die Nationalsozialisten ermordet. Dies ist die größte Holocaust-Gedenkstätte Russlands.“

Allerdings beschloss die Stadtverwaltung bereits 2011, die Gedenktafel auszutauschen. Die Opfer des Holocaust mussten der „sowjetischen Zivilbevölkerung“ weichen. Die neue Aufschrift lautet: „Hier in Smijowskaja Balka wurden im August 1942 über 27.000 sowjetische Bürger aus Rostow am Don und sowjetische Kriegsgefangene durch die nazideutschen Besatzer ermordet.

Unter den Ermordeten waren Vertreter vieler Nationalitäten. Smijowskaja Balka ist die größte Stätte der Massenvernichtungen von sowjetischen Bürgern durch die faschistische Besatzungsmacht während des Großen Vaterländischen Krieges auf dem Staatsgebiet der Russischen Föderation.“

Die „Babi Jars von Russland“

Im postsowjetischen Russland versuchte man, die Geschichte des Holocaust neu zu denken. Anfang der 1990er Jahre begann man, israelische Autoren und Autorinnen auf Russisch herauszugeben, spezielle Programme der jüdischen Agentur Joint und der Stiftung Memorial Foundation for Jewish Culture umzusetzen, die in erster Linie an jüdische Lehrkräfte und Jugendliche gerichtet waren, und dokumentarische Ausstellungen zum „Schwarzbuch" über die Verbrechen an den sowjetischen Juden und Jüdinnen oder zum Leben Anne Franks zu organisieren.

Gespräche auf politischer Ebene endeten damals in den meisten Fällen damit, dass Genehmigungen zur Errichtung von Denkmälern für die Opfer des Holocaust erteilt wurden. 1992 fand ein bedeutsames Ereignis statt: Es entstand die im postsowjetischen Raum erste gemeinnützige Organisation in diesem Bereich – das Forschungs- und Aufklärungszentrum Holocaust.

Nicht ganz zehn Jahre später, 2001, äußerte das Zentrum, das mittlerweile eine gleichnamige Stiftung ins Leben gerufen hatte, den Vorschlag, in Moskau ein staatliches Museum mit dem Namen „Genozid – Holocaust – Toleranz“ zu eröffnen und legte ein entsprechendes Konzept vor. Das Kulturministerium prüfte das Konzept, aber zögerte unter diversen Vorwänden die Unterstützung für die Umsetzung des Projekts hinaus.

Memorialisierung vollzieht sich schleppend und inkonsequent

Gleichzeitig betonte Wladimir Putin im November 2003 beim Treffen mit dem israelischen Premierminister Ariel Sharon die Bedeutung dieses Themas und versprach, „eine Holocaust-Ausstellung“ im Museum des Großen Vaterländischen Krieges auf dem Poklonnaja-Berg zu eröffnen. Eingelöst wurde dieses Versprechen nur unvollständig und erst im Jahr 2008: Das Museum bekam einen neuen Ausstellungsraum unter dem Titel „Genozid der Völker“, der nur teilweise dem Holocaust gewidmet ist.

Nach vier Jahren aktiven Engagements verschiedener jüdischer Organisationen in Russland schien ein weiterer Durchbruch erreicht: 2012 öffneten das Jüdische Museum und das Zentrum für Toleranz in Moskau ihre Türen. Aber auch hier wurden die historischen Ereignisse auf russischem Staatsgebiet aus unerklärlichen Gründen ausgespart.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen hingegen Polen und die Ukraine. Am 27. Januar 2016 erklärte der russische Premierminister Dmitri Medwedewbei auf den Feierlichkeiten zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust in Yad Vashem: „Yad Vashem ist ein leidvoller, schwieriger Ort, aber für uns alle sehr wichtig. Für alle, die verstehen, dass die Tragödie des jüdischen Volkes sich nicht wiederholen darf.

Russland versucht alles dafür zu tun, um die Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges, die Opfer des Holocaust, die Menschen, die in dieser Zeit ihr Leben verloren haben, für immer in der Geschichte der Menschheit zu erhalten.“ Allerdings vollzieht sich die Memorialisierung des Holocaust in Russland höchst schleppend und inkonsequent, dafür, dass der Genozid „für uns alle sehr wichtig“ ist.

Dieser Artikel wurde verfasst im Rahmen des Projekts „Raum für Dialog schaffen: Medien und friedliche Konflikttransformation im postsowjetischen Raum“. Das Projekt wurde vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland gefördert und vom Zentrum für unabhängige soziale Studien CISR Berlin unter Mitarbeit von CISR St. Petersburg, der Ukrainischen Katholischen Universität (Lwiw) und dem Imagine Center for Conflict Transformation (Südkaukasus) durchgeführt.