Zu viele Flüchtlinge? Nein, zu wenig Kinder

Spenden für Geflüchtete in einem Klassenzimmer
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Spenden für Geflüchtete in einem Klassenzimmer

In vielen Dörfern an der Westküste Schleswig-Holsteins fehlen Kinder. Schulen und Kindergärten werden geschlossen, das Dorf stirbt einen langsamen Tod. Können Flüchtlinge die Rettung sein?

Abseits der „großen Debatte“ über grenzenlose Aufnahme oder Erschöpfung der Kapazitäten gibt es abseits der Metropolen eine ganz andere Diskussion: In vielen Gemeinden der Westküste Schleswig-Holsteins sind in den letzten Jahrzehnten, beginnend Anfang der 70er Jahre, die Strukturen stark verändert worden. Die Zahl der Geburten ging zurück, und junge Familien zogen vermehrt vom Dorf in die Stadt. So wurden an vielen Orten die Schulen geschlossen und durch Schulbusse ersetzt, die zum nächsten größeren Ort pendeln. Im nächsten Schritt wurden die Schulbusse für die Allgemeinheit geöffnet, die im Gegenzug den Öffentlichen Nahverkehr verlor, den gibt es in vielen Gegenden Schleswig-Holsteins nur noch zwischen den größeren Orten.

Die gegenwärtige Aufnahme von Flüchtlingen hat hier zu einem unterschwelligen Wettbewerb der Gemeinden geführt. Sie versuchen, verbliebene, aber von der Schließung bedrohte Schulen durch die Aufnahme von Flüchtlingskindern zu sichern. In der langfristigen Planung Schleswig-Holsteins, die erhebliche Stellenstreichungen im Öffentlichen Dienst, vor allem in der Verwaltung und bei den Lehrerstellen, vorsieht, wurde für 2015 angenommen, dass die Zahl der Schulkinder in diesem Jahr um 6.000 sinken wird. Stattdessen führt die Aufnahme der Flüchtlingsfamilien in den ersten zehn Monaten des Jahres 2015 zu einer Zunahme der SchülerInnen-Zahl um über 10.000. Hier wittern viele Dörfer die Chance, die schon beschlossene oder zumindest angedrohte Schulschließung, die Verkleinerung des Kindergartens und die Ausdünnung der Buslinien aufzuhalten oder gar umzukehren.

Bleiberecht und Bleiben

Allerdings macht ihnen die Landesregierung nicht viel Hoffnung: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge braucht zwar zehn Monate, den Asylantrag entgegenzunehmen, und danach durchschnittlich acht Monate für eine Entscheidung, in vielen Fällen natürlich länger – aber danach, so die Prognose, wird die Hälfte der Anerkannten dem schönsten Bundesland Deutschlands den Rücken kehren und sich eher in Städten wie Hamburg, Köln, Frankfurt oder Berlin niederlassen.

Auf den Dörfern fehlen noch Konzepte, die frisch angekommenen Flüchtlinge auch zu halten. Aber es gibt erste Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Amtsverwaltungen und Freundeskreise, die auch das als Aufgabe sehen und annehmen. So äußerte ein Landrat im Gespräch mit mir, man sollte in der Erstaufnahme diejenigen herausfinden, die ihre Zukunft in der Landwirtschaft sehen, um sie gezielt in die Orte zu verteilen, die Sommer für Sommer Saisonarbeiter anwerben und oft nur unzureichend finden.

Da gerade an der Westküste Schleswig-Holsteins viele Bauern nicht mehr Getreide ernten, sondern Wind, wäre das auch ein Betätigungsfeld für MechanikerInnen und IngenieurInnen – und ein Grund mehr, nicht nur die Asylverfahren, sondern auch die Anerkennung mitgebrachter Qualifikationen zu beschleunigen. Denn was auf Bundesebene erst in den Anfängen und oft ohne Sachkenntnis diskutiert wird, war in vielen Dörfern schon im Sommer 2015 klar: Wer dort lange lebte, bemerkt tobende Kinder im Ortskern schon am ersten Tag, hat man das doch in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr gehört oder gesehen.

Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Schleswig-Holstein finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).