Das Irrlicht als Leuchturm

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v.l.n.r. Elke Erb, Bert Papenfuss-Gorek, Klaus Michael, Egmont Hesse, Conny Jentsch, Rainer Schedlinski, Niko Tenten, Leipzig

Lügen und Wahrheiten, Teil 7 - Erinnerungen an ein paar Dachschäden und Freiräume im alten Prenzlauer Berg.  Der Dichter Andreas Koziol sorgte in den achtziger Jahren in Ost und West für Furore in den Feuilletons. Auch die Stasi war in dem Künstler-Biotop im Prenzlauer Berg leibhaftig präsent. In seinem Essay "Lügen und Wahrheiten" berichtet er von einer fast vergessenen Epoche Ostberliner Subkultur.

Das Irrlicht als Leuchtturm

Den pathologischen Lügner, wie Sascha Anderson einer war, konnte man seinerzeit wesentlich eher durchschauen als den Stasispitzel, der er ebenfalls war. Gemeinsam mit der Tatsache, daß er überdies ominös funkelnde, sich selber dramatisch heimleuchten zu scheinende Gedichte schrieb und viele kollektive Kunstprojekte initiierte, machte ihn das in der damaligen Künstlerszene zu einer zwar schillernden, aber auch anziehenden Ausnahmeerscheinung. Erst nach dem Ende der langen Nacht des Wartens auf „was auch immer“ (wie wir dann sahen, war es einfach nur „der Westen“) stand er auf einmal da wie ein überführtes Irrlicht, das vorher viele mit einem Leuchtturm verwechselt hatten. Auf so viel Hinterhältigkeit in der Nähe war das innere Navigationssystem der auf Anderson Orientierten nicht gefaßt gewesen.

Sollte man sich heute noch immer fragen, warum sein Fall damals nach der Offenlegung der Stasiakten eher zu einer Enthüllung ohne Ende anstatt zu einem Ende durch Enthüllung geriet, so mag dies zum Teil daran gelegen haben, daß der Skandal gesellschaftlich viel bedeutender erschien als alle Kunst, die vor seiner Aufdeckung „im Schatten der Mauer“ entstanden war. Wenn sorgfältige Tarnung bezahlter Heuchelei plötzlich eindeutig auffliegt, dürfte es freilich für keinen einigermaßen zurechnungsfähigen Menschen ein Problem darstellen, auch zweifelsfrei daran Anstoß und nachdrücklich davon Abstand zu nehmen. Ich denke, daß der Langmut mancher gegenüber dem um die abenteuerlichsten Ausreden nicht verlegenen Eiertanz des als Spitzel aufgeflogenen Sascha Anderson weniger mit „menschlicher Größe“ als vielmehr mit eigener charakterlicher und mentaler Korruption zu tun hatte. Die persönlichen Gründe, die ich selber hatte, die Beziehung zu ihm nicht sofort für immer fallen zu lassen, habe ich irgendwo weiter oben mit meiner familienpsychologischen Prägung und der sie betreffenden Aporie von Versöhnungswünschen unter unversöhnlichen Bedingungen zu erklären versucht.

Der Befund „charakterliche und mentale Korruption“ soll allerdings auf etwas Allgemeineres anspielen - nämlich auf die steinalte, aber wahre Leier von der Trägheit des Herzens, zu deren seltsamen Merkmalen es gehört, daß sie stets bei den anderen und nie bei sich selber vorzukommen scheint. Dieser Fehler sitzt in einer menschlichen Tiefe, in die sich die Leute bei ihren Bemühungen um Gewißheit über empörendes Fehlverhalten von anderen nicht gerade drängen. Da geht es den Künstlern wie den Leuten. Man haut den Sack (des Skandals) und meint den moralischen Esel seiner selbst. Offenbar scheint es außerhalb des persönlichen Gewissens (Kirchliches einmal beiseite gelassen) keine verbindliche Instanz zu geben, die diesen eigenen Irrtum zu korrigieren imstande wäre.

Genau an dem Punkt enden die Möglichkeiten von Aufklärung mit den Mitteln positiver Indizien und Fakten. Und ein Instinkt sagt mir, daß hier wahrscheinlich auch die Möglichkeiten des moralischen Apells an andere enden. Die Beschaffenheiten des jeweils eigenen Gewissens mögen höchst unterschiedlich sein. Was bei den einen ein Kloster ist, gleicht bei den anderen einem Bordell. Ähnelt es bei manchen einem Streichelzoo, geht es schon beim Nachbargewissen wie auf einem Schlachtfeld zu. Gewissensfreiheit mag es, muß es geben, Gewissensgleichförmigkeit gibt es nicht. Doch weil es Gewissensfreiheit gibt, haben die Gewissenräume der wohl meisten eines gemeinsam: einen mehr oder weniger komplizierten Abwehrmechanismus gegen Eindringlinge von außen.

Wie eindringlich oder flammend Apelle von außen auch immer ausfallen können - ein Gewissen etwa, das sich im Dunkeln sauwohl fühlt, stecken sie damit nicht positiv an. „Aufklärung“ wäre nur ein Verschleierungswort für diesen unergründlichen Sachverhalt, bei dem Sophisten sich streiten mögen, ob er zutiefst menschlich oder nur allzumenschlich sei.

Spotteffekte

Man muß sich vielleicht auch daran erinnern, daß der damalige Zeitgeist in seiner intellektuellen Ausprägung Postmoderne und in seiner jugendkulturellen Manifestation Punk heißen wollte, also unter anderem auch in Form zweier Phänomene spukte, die nicht nur in der DDR die Geister schieden. Der Bruch mit den Traditionen des Humanismus (Postmoderne) sowie die selbstzerstörerische Revolte der ersten Subgeneration nach den Hippies gegen dieselben (Punk) wirkte auf die meisten bürgerlichen Zeitgenossen wie ein unerklärlicher Frontalangriff auf ihre Wertvorstellungen. Und wie noch mehr daneben mußte es erst für die DDR erscheinen, die ja durch die Mauer vom Westen, wo diese Moden sich frei entfalteten, abgeschnitten war.

Es war nun einmal so: Wer sich im Osten eine Westmode anmaßte, ganz gleich um welche Art von Mode es sich handelte, „kam“ unweigerlich „’rüber“ wie einer, der über die hiesigen Verhältnisse lebt und dieser also spottet. Es wird daher wohl alles in allem der Spotteffekt des Unverhältnismäßigen gewesen sein, der damals die Temperamente (um das auch nicht bessere Wort „Gesinnungen“ zu vermeiden) sogar innerhalb ein und derselben Generation polarisierte.

Der anthropologisch festgestellte Typus des Histrionen oder Tricksters, d. h. des Typus des clownesken Halbwüchsigen, der sich in nichtzivilen Stammeskulturen damit hervortut, daß sich er z. B. mit Sand wäscht und mit Wasser abtrocknet, so wie er überhaupt alles Althergebrachte zunächst einmal auf den Kopf stellt - dieser Typus sollte plötzlich durch alle möglichen Geschichts- und Kultursedimente hindurch, wenngleich auch zu einer desintegrierten Witzfigur entstellt, in den Städten der Gegenwart erscheinen. Die Eltern, wenn sie „normalbürgerliche“ waren, schämten oder sorgten sich über das planvoll abgerissene und willkürlich exotische Äußere ihrer Sprößlinge und zogen daraus die düstersten Schlüsse über deren Zukunftsaussichten.

Im kapitalistischen Westen waren solche anfangs verstörende Phänomene ohne weiteres kommerzialisierbar und firmierten jeweils nur als eine weitere „jugendkulturelle Erscheinungsform“. Im Osten hingegen herrschte, von heute aus gesehen, die geschichtliche Zeitverzögerung. Die ideologische Propaganda verklärte zwar ihre Entwicklungsidee des Sozialismus im Vergleich zum Kapitalismus mit der Devise „überholen ohne einzuholen“, aber die historische Wahrheit war dann doch eben die, daß man der Konkurrenz nur systemweit hinterherhinkte. Die realsozialistische Gesellschaftsform hatte keine reale Zukunftsperspektive, jede lebendige Entwicklungsdynamik wurde aus Angst vor ihrer staatlichen Unkontrollierbarkeit im Keim erstickt, und so hatte man stattdessen zunehmend nur noch „Zustände“. „Zustände“ war nicht zufällig ein Lieblingswort der Leute in der DDR, das mit der unerwarteten Aufhebung der innerdeutschen Grenzen dann obsolet und vorübergehend durch das Wort „Wahnsinn“ in seiner euphorischen Bedeutung ersetzt wurde.

Langsam anschwellender Lärm des Politischen

Den jungen Clowns und Helden der Arbeitsverweigerung gegenüber der sozialistischen Bewußtseinsindustrie, deren konkrete Situation ich hier eigentlich nur immer wieder in verschiedenen Ansätzen einzukreisen versuche, bescheinigte man damals im Westen bereits die Attribute von Subversität und Avantgardismus, noch ehe sie selber wußten, was sie mit der angebrochenen Nacht ihrer karnevalesken Endzeitstimmung eigentlich anfangen sollten. Nicht nur jede von den staatlichen Behörden nicht genehmigte Aktivität, sondern beinah schon jedes Lachen, jedes Weinen, jede freche Bemerkung, ach was, überhaupt jede wie auch immer geartete Manifestation der Tatsache, daß man existierte und sich dabei nicht ganz „systemkonform“ benahm, sollte auf einmal politisch sein. Je öfter man von den Westmedien her läuten hörte, daß es für die Schlechtangepaßten gar keine Wahl zwischen dem Privaten und dem Politischen geben könne, weil nun mal gerade das Private auch das Politische sei, desto mehr war man im Osten geneigt, sein eigenes Verständnis von dem, was man tat oder ließ, dieser herbeizitierten Gleichsetzung anzupassen.

Deren Logik schien manchen von uns in ihrer offensichtlichen Absurdität besonders zwingend: Jawohl, genau so ist es: gerade weil wir unpolitisch sind, sind wir politisch. Gerade weil uns der Staat in Ruhe lassen soll, sind wir Unruhestifter. Gerade weil uns die Schönen Künste mal können, sind wir ganz schöne Künstler. Gerade weil wir leise machen, macht man um uns so viel Getöse, usw. usf. Und schon war sie, kaum gefunden, schon verschwunden, die Unschuld des ursprünglich Authentischen, war preisgegeben und geopfert dem nächsten ideologischen Popanz, der einen vom Westen her mit interessant duftender Semiotik einseifte, während einem im Osten, von wo man sich interessiert herrüberreckte, die ganze eigene Lage vielleicht nur schon zu lange nach „immer derselben Scheiße“ (Entschuldigung) stank.

Heute, nach der Revolution der digitalen Vernetzungstechnik, besitzt das damalige Reden vom Politischen bzw. Öffentlichen des Privaten kaum noch mehr als den Charme einer vollkommen wahnwitzigen und leider recht umfassend wahr gewordenen Polizeifantasie. Der Lärm des Politischen war damals im Vergleich zu heute noch nicht so allgegenwärtig wie der Verkehrslärm, aber er schwoll schon vernehmlich an.

Ironie im Widerstand

Wie verhält sich einer eigentlich gegenüber etwas, das ihn strukturell überfordert? Möglicherweise ausweichend, sofern zum Ausweichen Raum ist. „Widerstand“ jedoch wurde mit der größten Selbstverständlichkeit als ein Begriff gehandhabt, der nur für offen gegen die Funktionäre der Macht Aufbegehrende einen Inhalt haben sollte. Außerhalb dieser rein politischen Bedeutung des Worts sollte es keine relevanten Spielarten des Widerstands geben bzw. vor allem im Rückspiegel der Nachwende-Öffentlichkeit gar nicht gegeben haben können.

Zwar machte in den frühen achtziger Jahren die Liedzeile „Die Funktionäre sind im Widerstand“ unter uns etwas Furore, weil sie einem um sich greifenden Empfinden, daß die alten dialektischen Begriffe nur noch im propagandistischen Leerlauf klapperten, amüsiert auf die Sprünge halfen. Sogar der Liedermacher Stephan Krawzyk, der für eine kurze Zeit die Stellung des ausgebürgerten Wolf Biermann mit heroischer Verzweiflung zu halten versucht hatte und gewiß den skeptischen Wortspielkollegen im Prenzlauer Berg recht fern stand, kleidete, wenn auch erst nach seiner Ausreise, Skepsis gegenüber dem ausgeleierten Kampfbegriff „Widerstand“ in die Form eines Liederprogrammtitels: „Wieder stehen“.

Und es ist nur eine verhältnismäßig kleine Ironie dieser an Selbstironisierungen nicht armen Geschichte der späten DDR-Zustände, daß der Verfasser von „Die Funktionäre sind im Widerstand“ niemand anderes als Sascha Anderson war, dessen einstige Einfälle im nachträglichen Licht seiner Stasispitzelakten mit einiger Unvermeidlichkeit den Schein von bezahlter Widerstandszersetzungstätigkeit angenommen haben. Ein Erzschelm wie Bert Papenfuß wiederum besetzte den Begriff „Widerstand“ ohne weitere Rücksicht auf die politischen Realitäten mit dessen elektrotechnischer Bedeutung, und er tat dies gewiß nicht deshalb, weil ihm als gelernten Elektriker zu diesem Begriff nichts anderes einfiel als die Eigenschaft bestimmter Stoffe, das Fließen des elektrischen Stroms zu hemmen.

Mit dem Widerstand des einzelnen in der DDR war es eben so eine Sache. Man konnte bereits für das Erzählen eines politischen Witzes ins Gefängnis kommen. Manche wurden in sozialistischen Haftanstalten eingesperrt, weil sie Verbesserungsvorschläge für den Sozialismus gemacht hatten. Andere verloren als Wehrdienstverweigerer einen Teil ihrer jungen Lebensjahre. Einige verhielten sich berechnend renitent, indem sie darauf hofften, nach einer Verhaftung und kurzer Freiheitsstrafe in den Westen abgeschoben zu werden und somit eher „drüben“ zu landen als andere, die seit Jahren auf die amtliche Stattgebung ihres Ausreiseantrags warteten. Eine Aufzählung sämtlicher Gründe und Anlässe, aus denen man als eigentlich Nichtkrimineller hinter Gittern landen konnte, muß DDR-Historikern überlassen bleiben. Es sei hier lediglich etwas hinzugefügt, das man wahrscheinlich zu leichtsinnig als genügend bekannt voraussetzen würde: Der wahre Charakter eines jeden Staats offenbart sich erst innerhalb seiner Gefängnismauern.

Mit dem Widerstand bei so manchen nachträglichen Behauptungen von so vielen, in der DDR im Widerstand gewesen zu sein, ist es übrigens auch so eine Sache. Es verhält sich damit wie mit der Wahrheit überhaupt: Diejenigen, die so tun, als hätten sie die Wahrheit gepachtet, werden sich nie mit denen verstehen, die mit Sicherheit nur wissen, daß sie auf der Suche sind. Mittlerweile reicht das Spektrum derjenigen, die der Meinung sind, mit ihrem Wirken in der DDR zum Untergang derselben entscheidend mit beigetragen zu haben, von den literarischen und politischen Dissidenten und Bürgerrechtlern über verschiedene systemkritisch verfaßt gewesene Jugendbewegungen bis hin zu diversen Partei-, Geheimdienst- und Wirtschaftsfunktionären und noch weiter bis hin zu verdienten Unterhaltungskünstlern des einstigen Ostfernsehens.

Der bei all dem souverän außerhalb jeder Konkurrenz bleibende Widerstandskämpfer war und blieb natürlich Wolf Biermann. Er hatte per Westfernsehauftritt im November ´76 mit seiner Gitarre den Grabstein ins Rollen gebracht oder den Drachen kräftig auf den Schwanz getreten, oder wie auch immer man der Tatsache schmeicheln oder spotten will, daß der Name Biermann seit der Übertragung seines Konzerts eine Erschütterung im Staatsgefüge symbolisierte, die nach ihrer gewaltsamen Niederhaltung immer nur weitere Risse zutage treten ließ. Die Risse breiteten sich in alle Richtungen aus und marodierten mit sozusagen strukturstatischer Eigendynamik solange durch das sanierungsresistente Machtgefüge, bis es seinen feudalen Besitzern in den eigenen Händen zerbrach. Billiger als in den letzten zehn Jahren der DDR scheint politischer Widerstand nie zuvor zu haben gewesen zu sein. Ob Widerstand in der DDR am Ende nicht doch bloß ein elektrisches Leitungsphänomen gewesen ist? Ich will die Sache nicht mutwillig ins Lächerliche ziehen, sondern lediglich auf die Ironie der historischen Tatsache hinweisen, daß revolutionäre Energien in Deutschland von jeher die Eigenschaft aufwiesen, sich in vorstrukturierten Bahnen zu bewegen.

Auszüge aus dem unveröffentlichten Essay Lügen und Wahrheiten, Oktober 2014

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