EU: Mit der Hausapotheke gegen lebensgefährliche Gebrechen

Modell des Europaparlaments
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Modell des Europaparlaments im Parlamentarium in Brüssel

Viele Kandidatinnen und Kandidaten werden jetzt vor den Wahlen zum Europäischen Parlament das Subsidiaritätsprinzip hochhalten, um dem Verdacht zu entgehen, nach der Wahl mit den „Eurokraten“ in Brüssel kungeln zu wollen. Die Parteien werden sich in der einen oder anderen Weise in ihren Programmen auf das Subsidiaritätsprinzip berufen. Auch in der öffentlichen Diskussion wird es verstärkt eine Rolle spielen. Aber aus den Schlammasseln, in denen die EU steckt, wird das Subsidiaritätsprinzip kaum heraushelfen.

Hans Ulrich Wehler meint in der Zeit (2.1.14), Europa leide unter dem Diktat der Deutschen und dem Brüsseler Zentralismus. Er plädiert für einen Kurswechsel „hin zu einem dezentralisierten System“. Deshalb sollten nicht „überall die Brüsseler Anweisungen dominieren, sondern es sollte das häufig besprochene Subsidiaritätsprinzip herrschen, dem gemäß die einzelnen Materien an Ort und Stelle von den nationalen Institutionen solange wie eben möglich behandelt werden sollten.“

Ebenfalls in der Zeit beklagt Jochen Bittner, der eine Lanze für die Reformvorstellungen des britischen Premiers David Cameron bricht, er habe in seinen vier Jahren als Korrespondent in Brüssel immer wieder „Eurokraten“ getroffen, „die freiweg eingeräumt haben, dass ihnen der Grundsatz der Subsidiarität, also der Vorrang der nationalen Ebene, herzlich egal sei. Vor fünfzig Jahren mag eine solche Attitüde noch ihre Berechtigung gehabt haben; das heutige Europa hingegen braucht keine Integration als Selbstzweck mehr.“ Aber ist es denn die Aufgabe der Beamten der EU, in erster Linie in nationalen Kategorien zu denken? Dafür gibt es doch die Regierungen und die nationalen Parlamente.

Camerons Reformvorstellungen, die Jochen Bittner für die besten hält, leiden im Übrigen an einem unlösbaren Widerspruch. Einerseits will er unbedingt am gemeinsamen Binnenmarkt festhalten, andererseits will er möglichst wenige europäische Regeln. Dabei ist doch der Binnenmarkt Grundlage und Ausgangspunkt für die allermeisten Regeln. Bis zur „Vollendung des Binnenmarktes“ werden noch etliche dazu kommen, schon allein um die Wettgewerbsbedingungen in einem gemeinsamen Rahmen zu halten.

Der Grundsatz der Subsidiarität wird Artikel 5 des Lissabonner Vertrags geregelt. Er hält fest, dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben und für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gelten. Das entscheidende Missverständnis entspringt daraus, dass eine EU-skeptische Lektüre dort, wo von der „Union“ die Rede ist, immer „Brüssel“ und die „Kommission“ heraushört. Tatsächlich werden aber die Zuständigkeiten der Union auf Initiative der Kommission durch die Beschlüsse der Staatenunion, wo Einstimmigkeit erforderlich ist, und, wo Mehrheitsentscheidungen unter den Staaten möglich sind, bei Mitentscheidung des Europäischen Parlaments getroffen. Das heißt aber, dass die Grundätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eine Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments bleiben, auch wenn im „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ beschrieben wird, wer alles angehört und konsultiert werden muss, sowie Bedenken anmelden kann. Es handelt sich also nicht um eine Schutzklausel der Staaten und des EP gegenüber einer höheren Instanz, als die vulgo „Brüssel“ und die „Eurokraten“ der Kommission gelten. Die wichtigste Sicherung gegen eine unverhältnismäßige Regelungswut bleiben die Institutionen der Union selbst.

Nicht zu provinziell denken

Wenn in Deutschland über die „Krise Europas“ nachgedacht wird, dann ist im Allgemeinen die „Eurokrise“ gemeint. Das ist nicht nur eine Engführung. Weder ist „Europa“ durch die Grenzen der EU abgedeckt, noch füllt die Eurozone die Grenzen der EU aus. Geht man von den Grenzen der OSZE aus, dann hat die EU noch keinesfalls ihre Rolle im Rahmen dessen gefunden, was mit der OSZE im weitesten Sinn als das „europäische Haus“ umrissen ist. Weder kommt sie mit den USA im Westen, wie die NSA-Affäre zeigt, klar, noch ist sie sich einig über den Umgang mit Russland und über ihre Politik gegenüber den früheren Bestandteilen der ehemaligen Sowjetunion. Es herrscht Durcheinander im „europäischen Haus“, das ja nicht viel weniger als die Nordhälfte des Globus umfasst. Aber das „europäische Haus“, wie es die OSZE skizziert, steht ja mitten in der sich globalisierenden Welt, also auf unsicherem und schwankendem Boden. Um sich nicht allzu provinziell mit der Frage zu befassen, was das „Subsidiaritätsprinzip“ zur Lösung der  gegenwärtigen Probleme der EU beitragen könnte, muss man ihren ganzen Umfang im Kopf behalten.

Vor 1989 war die EU, sie hieß noch nicht so, ein mehr oder weniger abgeschlossenes, westeuropäisches Konstrukt. Sie hatte sich aus einem Staatenbund der sechs Gründungsmitglieder zu einem westeuropäischen „Staatenverbund“ gewandelt, der im Maastrichter Vertrag (1991) dann seine Form als Staaten- und Bürgerunion fand. Staaten- und Bürgerunion ist eine Beschreibung der Funktionsweise und Realverfassung der EU, keine ideologische Kategorie der eventuell wünschbaren „Finalität“ der europäischen Integration.
 

Mit Mehrheitsentscheidungen wurde aus der ursprünglichen Staatenunion etwas Neues

Die EG war als Staatenunion zunächst durch die Erfordernis der Einstimmigkeit bei allen Entscheidungen zum ausdrücklichen Konsens unter den Mitgliedsstaaten verpflichtet. Bei dieser Konsensfindung unter den Mitgliedstaaten waren die nationalen Parlamente durch Abordnungen allenfalls beratend beteiligt. Die Parlamente der Mitgliedstaaten blieben formell entscheidend, weil die gesetzgebenden Beschlüsse der EG wie auch Vertragsänderungen ihre Zustimmung voraussetzten, bevor sie umgesetzt werden konnten.

Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in den 60er Jahren war keine friktionslose Entwicklung. Ihm ging De Gaulles Politik des leeren Stuhls voraus (ab Mitte 1965). Frankreich sah den Übergang zum Mehrheitsprinzip „ganz zu Recht als ‚point of no return‘ an, ab dem die nationalstaatliche Souveränität durch die Möglichkeit des Überstimmtwerdens in ganz wesentlicher Weise entwertet werden würde“ [1]. Tatsächlich lag dieser Meinung eine Auffassung von Souveränität zu Grunde, die den Nationalstaat als Festung gegen äußere Einmischung verstand. Diese Meinung war insofern nicht aus der Luft gegriffen, weil die EG noch keine Form gefunden hatte, die es erlaubte, die Verletzung der Souveränität von überstimmten Staaten demokratisch zu heilen.

Der Konflikt wurde zunächst durch den Luxemburger Kompromiss (1966) beigelegt, freilich nicht im Sinne irgendeiner Lösung für die eine oder andere Seite. „Seither wurde immer dann – dies ist der Kern des Kompromisses – einstimmig entschieden, wenn auch nur ein Staat dies wollte. Die Befugnisse der Kommission wurden restriktiv ausgelegt. Aber wenn dies alles auch sehr nach De Gaulles Europa der Vaterländer aussieht, war man doch auch insoweit nicht konsequent. Die Europäische Union wurde weiter als Ziel gesehen und auch tatsächlich in den folgenden Jahren nur umso intensiver angestrebt.“ [2]

Im Zuge der Aufnahme neuer Mitglieder in Westeuropa wurde der Verzicht auf Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten dringlicher, womit sich zugleich die Notwendigkeit einer parlamentarischen Beteiligung der Staatsbürger auf europäischer Ebene aufdrängte. Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen unter den Mitgliedsstaaten ging dann Hand in Hand mit der Mitentscheidung eines 1979 erstmals direkt gewählten europäischen Parlaments. Im Konzept der unter den Mitgliedsstaaten der EG geteilten Souveränität bedeutete die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung eine tiefgreifende Veränderung. Die staatliche Souveränität wurde nicht länger als Mauer gegen äußere Einwirkung verstanden und gehandhabt. Zugleich wurde sie der demokratischen Einflussnahme auf der Ebene geöffnet, auf der die Staaten von Anfang an agiert hatten: der Ebene der Union. Eine europäische Verletzung der demokratisch legitimierten Souveränität der überstimmten Mitgliedsstaaten wurde auf europäischer Ebene geheilt durch die Mitentscheidung eines von den Bürgern und Bürgerinnen der Mitgliedstaaten direkt gewählten, demokratisch legitimierten europäischen Parlaments.

Im Englischen kann dieser Fortschritt sehr gut ausgedrückt werden. Die einstimmige Beschlussfassung durch die Mitgliedstaaten bedeutete auch schon eine Teilung der der Souveränität, aber ohne deren Charakter selbst zu verändern: "Sharing of sovereignty". Mit der Mehrheitsentscheidung und der Mitwirkung des demokratisch gewählten Europäischen Parlaments wurde die Souveränität selbst verändert, sie wurde vergemeinschaftet: "Pooling of sovereignty". Gewaltenteilung dagegen ist "separation of Power". Und dann gibt es auch nicht "divide" im Sinne von trennen und spalten. Im Französischen kann man zumindest "partager" klar von "séparer" und "diviser" unterscheiden, wobei "partager" sowohl "sharing" als auch "pooling" beinhalten kann. Das Deutsche ist auf diesem Begriffsfeld eindeutig ärmer. Teilen muss sowohl für die Gewaltenteilung als auch für die Teilung von Souveränität herhalten und damit legt im Deutschen das Wort teilen eher ein Trennen nach Bereichen und Ebenen nahe als ein Zusammenlegen wie es mit pooling gemeint ist. Das mag verständlicher machen, warum im Deutschen viel schneller an eine Trennung nach Ebenen gedacht wird als eine Zusammenlegung von Souveränität auf der gleichen Ebene. In deutschen Kommentaren wird bei der Forderung nach „mehr Europa“ fast immer an ein Abtreten von Souveränität nach oben gedacht. Das aber gibt es nicht in der Union. Zugleich werden die politischen Schwierigkeiten sofort auf die Ebene von Vertragsneuverhandlungen verschoben, statt eine politische Verständigung in der Sache anzustreben.

Auch die europäisch geteilte Souveränität bleibt bei den Mitgliedstaaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern. Sehr plausibel hat im Jahr 2000 Chris Patton, der damalige Kommissar für äußere Angelegenheiten, diese Sicht in der Chatham Lecture des Trinity College unter dem Titel "Sovereignty and Democracy in the European Union" vorgetragen.

Gleichheit und Gewichtung

Die Konstruktion der EU basiert auf der Gleichheit ihrer Mitgliedstaaten. Die Mehrheitsentscheidung unter den Mitgliedstaaten warf in doppelter Weise das Problem der politischen Gewichtung unter prinzipiell Gleichen auf: Konnte es bei der Mehrheitsentscheidung unter den Staaten einfach bei einer quantitativen Auszählung der Stimmen ganz unterschiedlich großer und bevölkerungsstarken Staaten bleiben, oder musste die Mehrheit auch nach dem Gewicht der Staaten qualifiziert werden? Konnten die Wahlen zum Europäischen Parlament, wenn sie innerhalb der Mitgliedstaaten stattfanden, dann nach dem Prinzip der Gleichheit der Bürger der Mitgliedstaaten durchgeführt werden? Die Lösung wurde darin gefunden, dass die großen gewichtigen Staaten nicht so leicht durch eine Mehrheit kleinerer, weniger gewichtiger Staaten überstimmt werden können, und die Bürgerinnen und Bürger der kleineren Staaten in ihren Stimmen höher gewichtet wurden als die Bürgerinnen und Bürger der größeren Staaten. Wie immer man das Problem von Gleichheit und Gewichtung innerhalb einer Staatenunion, die sich über die Mehrheitsentscheidung unter den Staaten und eines direkt gewählten, mit entscheidenden europäischen Parlaments zu einer Staaten- und Bürgerunion entwickelt, zu lösen versucht: Man wird um das Problem der Gewichtung unter gleichen Staaten und gleichen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern als Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern nicht herumkommen. Grundrechte gehen damit nicht verloren.

Ein Problem ist das freilich für Erbsenzähler, die einer Staaten- und Bürgerunion wie der EU unter Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz ihren demokratischen Charakter absprechen wollen. Doch anders als durch Gewichtung der unterschiedlichen Mitgliedstaaten und deren Bürgerinnen und Bürger kann man keine plausible und als einigermaßen gerecht empfundene Abwägung der Stimmen innerhalb einer Staaten- und Bürgerunion erreichen.

Das Resümee der westeuropäischen Integration im Maastrichter Vertrag: 1989 stellt neue Herausforderungen

Mit dem Maastrichter Vertrag fand die Entwicklung der Integration in Westeuropa ihre spezifische politische Form. Sie war durch die Schaffung des Binnenmarktes wirtschaftlich unterlegt. Da die Entwicklung des Binnenmarktes eine große Welle der rechtlichen Harmonisierung und faktischen Normierung verlangt und mit sich gebracht hatte, wurde im Maastrichter Vertrag zugleich versucht, der „Regelungswut“ mit dem Subsidiaritätsprinzip Schranken zu ziehen.

Der Maastrichter Vertrag resümiert die westeuropäische Integration zu einer Staaten- und Bürgerunion. Gleichzeitig sah sich die EU drei neuen Herausforderungen gegenüber, die in der ganzen bisherigen Entwicklung und Konstruktion nicht vorgesehen waren:

  • Der deutschen Vereinigung
  • Den Beitrittswünschen der mittelosteuropäischen Staaten
  • Dem blutigen Auseinanderbrechen Jugoslawiens und der Gefahr ethnischer Konflikte für die europäische Integration

Die deutsche Vereinigung konnte die Gewichtsverhältnisse innerhalb der westeuropäischen Integration sprengen.

Die Erweiterung der EU nach Mittelosteuropa konnte den Zusammenhalt der EU gefährden

Die Ethnifizierung der Auflösung Jugoslawiens konnte zum Sprengstoff für Staatserhalt und demokratische Staatsbildung vor allem der Staaten führen, die sich von der Unterdrückung und Abhängigkeit im ehemaligen Sowjetreich befreit hatten.

Die EU reagierte auf diese neuen Herausforderungen mit Verfahren, die sie gelernt hatte: Das vereinte Deutschland durch „Vertiefung“ einzubinden, das hieß für Frankreich und andere vor allem die Politik der Deutschen Bundesbank zu vergemeinschaften. Die Währungsunion sollte dafür zum Vehikel werden. Für Deutschland und andere hieß das, den Stabilitätspakt und die Stabilitätskriterien als Beitrittsvoraussetzungen nachzuschieben. Verbindliche Regeln sollten fixiert werden, um das ökonomische Abenteuer im politischen Rahmen zu halten.

Für die Erweiterung hieß das nach einigem Hin und Her, alle Willkommen zu heißen, um dann in Kopenhagen Beitrittskriterien nachzuschieben. Den Kriegen in Jugoslawien stand die EU solange hilflos gegenüber bis sie nach der militärischen Befriedung durch die USA und NATO mit dem Beitrittsangebot an die verfeindeten neuen Staaten, die aus den früheren Republiken des ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen waren, wuchern konnte.

Es gab Ende der 80er und anfangs der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts auch Stimmen, die einen anderen Weg (Konföderation zwischen West- und Osteuropa) oder einen kompletten Neuanfang der nun gesamteuropäischen Integration vorschlugen. Mit der Integration, wie sie sie in Westeuropa begonnen hatte, nun gesamteuropäisch weiter zu machen, war aber der einzige sinnvoll gangbare Weg um rasch eine Stabilisierung Europas zu erreichen.

Die heutigen Schwierigkeiten mit Rechtstaatlichkeit in manchen Staaten der erweiterten EU liegen nicht an der Struktur und inneren Verfassung der Union. Sie liegen an der laxen Handhabung der Beitrittskriterien. Gute Regierung in der Union hängt letzten Endes immer noch von den Mitgliedstaaten ab. Über ihnen gibt es keine andere Regierung. Das verlangt einen sehr sorgfältigen Umgang mit den Beitrittskriterien, denn nach einem Beitritt hat die EU wenig Eingriffsmöglichkeiten.

Bei der Währungsunion wurden nicht nur die die Stabilitätskriterien und ihre Kontrolle lax gehandhabt. Für die westeuropäischen Mitglieder hatten die Kopenhagener Kriterien für die Mitgliedschaft in die EU bei deren Aufnahme noch keine Rolle gespielt. Relevant ist diese doppelte Laxheit vor allem im Falle von Griechenland.

Föderalismus und Subsidiarität

Der Maastrichter Vertrag hielt im Prinzip, die im Verlauf der bisherigen westeuropäischen Integration gefundene politische Form als Staaten- und Bürgerunion fest. Der Lissabonner Vertrag, wie auch der gescheiterte Verfassungsvertrag entwickelten diese Form nur weiter. Zugleich ist der Maastrichter Vertrag das Dokument, in dem zum ersten Mal das „Subsidiaritätsprinzip“ vertraglich fixiert wurde. Auch an dessen Geltung hat sich mit dem Lissabonner Vertrag nichts Wesentliches geändert.

Als Staaten- und Bürgerunion funktioniert die EU über die Vereinbarung von allgemeinen Regeln, ihrer sorgfältigen Vorbereitung durch die Kommission als Initiator, ihrer gründlichen Beratung und Verabschiedung durch Rat und EP und die Einhaltung und Ausführung der Regeln durch die Mitgliedstaaten, die dabei wiederum von der Kommission überwacht werden. Gegen ihre Nichteinhaltung kann vor dem EUGH geklagt werden. Sehr übersichtlich wird dieses Entscheidungsverfahren durch einige im Internet einsehbare Folien Pascal Hectors vom Europa-Institut Saarbrücken dargestellt.

Die Exekutive der EU sind im Wesentlichen die Mitgliedstaaten. Die Kommission („Brüssel“) ist keine Regierung. Die EU hat keine Regierung. Die Kommission ist Initiator von Regelungen. „Brüssel“ ist zum Inbegriff der EU geworden, obwohl die EU keine Zentralmacht in Brüssel oder anderswo hervorgebracht hat.

Bei der Verabschiedung von allgemeinen Regeln in der EU handelt es sich um keinen hierarchischen Prozess. Bei allen europäischen Entscheidungen sind die Mitgliedstaaten durch ihre gewählten Regierungen präsent. Die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind doppelt präsent: als Wählerinnen und Wähler ihrer Regierung und als Unionsbürgerinnen und Unionsbürger in dem von ihnen gewählten Europäischen Parlament. Wenn die so beschlossenen europäischen Regeln Vorrang vor den nationalen Regeln haben, und insofern „über“ diesen stehen, handelt es sich um den Vorrang allgemeiner, europäischer Regeln gegenüber den besonderen Regeln der Mitgliedstaaten. Es bedeutet keine Hierarchisierung des Entscheidungsprozesses, wo die EU oben stünde, auf einer höheren Ebene als die Mitgliedstaaten unten, wo die EU von oben über die Bürgerinnen und Bürger unten entscheiden würde.

Die Mitgliedstaaten und ihre Bürgerinnen und Bürger bleiben in allen Phasen des Entscheidungsprozesses über allgemein gültige Regeln der EU präsent. Dennoch hat sich im EU-Diskurs eingebürgert überall dort, wo in den Verträgen von der EU und ihren Entscheidungsprozessen die Rede ist, von „Brüssel“ zu sprechen, so als wäre Brüssel eine Entscheidungsebene über den Mitgliedstaaten und deren Bürgerinnen und Bürger. Diese Tendenz zur Hierarchisierung ist in den Modellen angelegt, in denen sich insbesondere die deutsche Politik und Politikwissenschaft die EU zurecht denkt. Ein Ur-Missverständnis findet sich schon in der Kennzeichnung der EG als „unvollendeten Bundesstaat“ durch Walter Hallstein, den ersten deutschen Kommissionspräsidenten. Auch wenn heute in der deutschen Politik und Publizistik von einer politischen Union die Rede ist, ist meist nicht die gegenwärtige EU gemeint. Vielmehr wird damit ein Ziel der europäischen Integration eingefordert, eine zukünftige Union, die so was wie einen Bundesstaat zu verwirklichen hätte. Was aber ist die EU heute, wenn nicht eine politische Union?

Die Europäische Union in ihrer Form als Staaten und Bürgerunion erscheint als defizitär. Die vereinigten Staaten von Europa, die wir haben, entsprechen nicht dem, was die europäischen Staaten sein sollten, wenn die USA oder die Bundesrepublik zum Maßstab genommen werden. So verhindert ein nur scheinbar kritischer Diskurs zu den Defiziten der EU, die große politische Erfindung, die die EU für die europäische Staatenwelt ist, zu verstehen und aus ihr, so wie sie nun mal ist, das Beste zu machen.

Subsidiarität ein deutsch-britischer Kompromiss

Einen Hinweis auf die komplexe Geschichte der Wahrnehmung der Europäischen Union durch ihre Protagonisten, speziell die deutschen, liefert die Einfügung des Subsidiaritätsprinzips in den Vertrag von Maastricht. Davon berichtet Joachim Bitterlich [3]. Er war von 1987 bis 1993 Referatsleiter für Fragen der europäischen Einigung im Bundeskanzleramt und Helmut Kohls rechte Hand bei den Verhandlungen um den Maastrichter Vertrag. Er erzählt, wie sich die Bundregierung bemühte, zwei Begriffe („Prinzipien“) im Maastrichter Vertrag unterzubringen. Zusammen mit der föderativen Ausrichtung der EU sollte das Subsidiaritätsprinzip verankert werden. Herauskam schließlich ein Kompromiss, der zwischen Deutschland und Großbritannien ausgehandelt wurde. Der Kompromiss bestand darin, dass im Vertrag der Begriff der föderativen Ausrichtung nicht vorkam und das Subsidiaritätsprinzip etwas stärker gefasst wurde, als es andere Teilnehmer im Vorfeld von Maastricht gewünscht hatten.

Dieser Kompromiss zeigt zweierlei: Während die deutsche Regierung immer einen Bundesstaat als hierarchisches Modell, einen Staat und eine Regierung über den Mitgliedsstaaten im Augen hatte, wollte sie gleichzeitig sicherstellen, dass nicht allzu viel „oben“ entschieden würde, was in den Mitgliedstaaten „unten“ genauso gut oder besser geregelt werden konnte. Weil die britische Regierung im Rahmen ihres horizontalen Modells der Teilung von Souveränität jede föderalistische Zielrichtung vermeiden wollte, zugleich aber auch eine Zentralisierungstendenz der horizontalen Entscheidungsfindung fürchtete, war sie für die Aufnahme eines strikter gefassten Subsidiaritätsprinzips in den Vertrag zu haben.

So führten die deutschen Befürchtungen in Richtung auf den erwünschten hierarchischen Bundesstaat zur Verankerung des schützenden Subsidiaritätsprinzips, während es den britischen Vorstellungen gerade recht war, um die Richtung auf einen Bundesstaat abzublocken und die zentralisierenden Tendenzen allgemeiner Regeln in ihrer horizontalen Vorstellung geteilter Souveränität zu mäßigen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass im deutschen Verständnis vielfach das föderale und das subsidiäre Prinzip als Elemente eines (unvollendeten) Bundesstaates gedacht werden, während das Subsidiaritätsprinzip in den Maastrichter Vertrag und die folgenden Verträge nur Eingang fand im Austausche für den Verzicht auf das föderative Ausrichtung. So steht das Subsidiaritätsprinzip etwas verloren in den Verträgen, die außer im Gerichtswesen ein Oben und Unten gar nicht kennen.

Subsidiarität kann eine Vorkehrung gegen den Durchgriff von oben in einem hierarchischen Gebilde sein. Abwehr übertriebener Zentralisierung in einem horizontalen Gebilde wie der EU bedeutet die Zurückhaltung der Gesamtheit Mitglieder bei der Festlegung allgemeiner Regeln, die die Besonderheiten der einzelnen Mitglieder gefährden könnten. Im Diskurs über „Brüssel“ wird dieser wesentliche Unterschied ständig vermischt, zum Beispiel in der oben zitierten Bemerkung von Hans-Ulrich Wehler, der sich von der Geltung des Subsidiaritätsprinzip einen Kurswechsel „hin zu einem dezentralisierten System“ verspricht. In ihrer Entscheidungsstruktur ist die EU ein dezentralisiertes System.

Was also sind die größten inneren Probleme der EU?

Nicht ihre horizontale Struktur, sondern die laxe Aufnahmepraxis zu EU und Eurozone schufen die gegenwärtigen inneren Probleme.
Das Herauswachsen der Eurozone aus der EU als ein verqueres Kerneuropa führt zu einer Spaltung der EU, zu einer ganz falschen zudem bei der Griechenland zu Kern gehörte, Polen zum Beispiel aber nicht. Um die Regelungen in der Eurozone zu legitimieren, denken diverse Politiker und Denker von Wolfgang Schäuble über Joschka Fischer bis zu Jürgen Habermas darüber nach, wie sie der Eurozone eine parlamentarische Entsprechung zu den Beschlüssen der Eurostaaten verpassen könnten. Damit wird implizite der Verzicht erklärt, die bestehende Eurozone als Vorgriff auf die vertraglich geforderte Währungsunion aller Mitgliedstaaten zu verstehen. Nur Großbritannien und Dänemark haben sich von dieser Verpflichtung ausnehmen lassen. Die Eurozone muss im Rahmen der EU- Institutionen gehalten werden, wenn ihr ursprüngliches Ziel ernst genommen bleibt.

Trotz horizontaler Entscheidungsstruktur der EU gibt es ein strukturelles Bürokratieproblem. Es entspringt teilweise eben dieser horizontalen Entscheidungsstruktur. Die Mitgliedstaaten erstrecken ihren Wunsch, in dieser Entscheidungsstruktur überall präsent zu sein, auch auf die Kommission. Da sie letzten Endes nichts Wesentliches zu entscheiden hat. ist sie eigentlich nicht als Repräsentativorgan gedacht. Von den Mitgliedstaaten wird sie jedoch, indem alle mit einer Kommissarin oder einem Kommissar darin vertreten sein wollen, als solches behandelt. Die Folge ist eine dysfunktionale Vielzahl von Kommissarinnen und Kommissaren. Für sie müssen Wirkungsbereiche gesucht werden. In jedem dieser Wirkungsbereiche wird eine beamtete Generaldirektion geschaffen. Und mit all diesen Beamten verhandeln täglich die Ministerialbeamten von jetzt 28 Mitgliedstaaten. Es ist unvermeidlich, dass sich unterhalb der Entscheidungsebene von Mitgliedstaaten und Parlament damit eine um sich greifende europäische Verwaltungsebene ausbildet, die keineswegs nur in Brüssel residiert. Gegenüber dieser europäischen Verwaltung von expliziten EU-Beamten und mitgliedstaatlichen Ministerialbeamten ist es sowohl für die Kommission nicht einfach, ihre politische Initiative zu bewahren, als auch für die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Mitglieder des Europäischen Parlaments schwierig, ihre Entscheidungsbefugnis verantwortlich wahrzunehmen. Das kann auf eine aufgeklärte Beamtenherrschaft hinauslaufen, wie sie Robert Menasse am Wirken sieht [4], oder auf einen bürokratischen Apparat, der für alle Lobbies und Bestechungen offensteht und die eigentlichen Entscheidungsbefugten an der Nase herumführt. Die Gefahr der bürokratischen Deformation entspringt der Sicht auf die Kommission als einer Quasi-Regierung, in der folglich bei einer horizontalen Entscheidungsstrukur natürlich jeder Staat vertreten sein will. In einer komplexen Organisation rufen eben nicht zuletzt Missverständnisse ihres Charakters besonders schädliche Folgen hervor.

In der Währungsunion führte das Versagen der Regierungen gegenüber den Regeln der Währungsunion dazu aus der akuten Notlage mit der EZB eine Quasi-Wirtschaftsregierung entstanden ist, die sich ausschließlich selbst kontrolliert. Schlimm ist, dass man angesichts des Versagens der Regierungen der Eurozone fast noch froh darüber sein muss, dass die EZB dank ihrer politischen Unabhängigkeit in der Eurokrise handlungsfähig geblieben ist. Zugleich steht sie damit als Sündenbock bereit, wenn es mit der Rettung letzten Endes schiefgeht, weil bei der Bildung der Währungsunion neben den Beitrittskriterien nicht auch die Möglichkeit von Austritten geklärt wurde. Die Beitrittskriterien lax zu handhaben und gleichzeitig Austritte auszuschließen, musste die Währungszone ins Schlammassel führen. Dieser Fehler, die Währungszone nach momentanem Dafürhalten zu öffnen und dann ihre Tore nach außen für immer zu verschließen, ergibt sich aus einem Politikgebaren, das manchmal an die realsozialistische Devise erinnert: Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

In dem selbst angerichteten Schlammassel bleibt nichts als Durchwurschteln. Dummerweise verlangt gerade das kluge und weitsichtige Führung durch die Institutionen der EU. Vor allem müssen Entscheidungen vermieden werden, die die Spaltung innerhalb der EU institutionell zementieren.

Endnoten:
[1] Claus Eiselstein, Grundsätzliche Veränderungen im Prozess der Europäischen Integration, in: Rolf Caesar/Renate Ohr (Hrsg.), Maastricht und Maastricht II: Vision oder Abenteuer?,  Baden-Baden 1996, S. 203 – 216, hier S. 209
[2] Ebd.
[3] Joachim Bitterlich, Die Verankerung des Subsidiriatätsprinzips und seine operative Umsetzung, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union. Materialien zur Revision des Maastrichter Vertrags 1996, Gütersloh 1995, S. 177 - 189
[4] Robert Menasse, Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Wien 2012