Die Kongress-Partei: Sozialdemokratie oder Familien-Betrieb?

Teaser Bild Untertitel
Rahul Gandhi, Vizepräsident der Kongresspartei (links) winkt seinen Parteimitgliedern zu, während Parteipräsidentin und Mutter Sonia Gandhi, bei der Parteiversammlung am 17. Januar 2014 in die Menge lächelt.

Seit seinem unerwarteten Sieg bei der Unterhauswahl 2004 führte der  Kongress zwei Koalitionsregierungen. Die Partei befindet sich nun, zehn Jahre danach, in einer tiefen Krise. Spätestens nach den schweren Niederlagen bei den jüngsten Landtagswahlen Ende 2013 in Madhya Pradesh, Chhattisgarh, Rajasthan und Delhi geht der Kongress mit einem großen Handicap in die bevorstehende Unterhauswahl.
 
Das Land befindet sich bereits im Vorwahlkampf. Wie werden die Trennlinien zwischen den Parteien und entlang welcher großen Themen verlaufen? Korruption, Inflation, Arbeitslosigkeit, „Kommunalismus“ und gute Regierungsführung werden sicherlich die Themen im Wahlkampf dominieren.

Wird es eine Art präsidentielle Auseinandersetzung zwischen Narendra Modi, dem Spitzenkandidat der Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) sowie Herausforderer der regierenden United Progressive Alliance (UPA), und dem von Rahul Gandhi geführten Kongress geben? Können andere Parteien und Persönlichkeiten eine maßgebliche Rolle im Wahlkampf spielen, um die Vielfalt Indiens angemessen widerzuspiegeln? Kongresspartei und hindunationalistische BJP sind bislang die einzigen indischen Parteien, die über eine nationale Reichweite verfügen. Allerdings ist diese, speziell im Fall der BJP, bislang begrenzt und umfasst nicht alle Landesteile. Alle anderen Parteien verfügen bestenfalls über eine sehr eingeschränkte regionale bzw. in der Regel sogar nur über eine einzelstaatliche Präsenz.

Die erst 2012 gegründete und gegenwärtig in Delhi regierende Aam Aadmi Party (AAP, "Partei des einfachen Bürgers") wird bei der Unterhauswahl 2014 antreten. Sie könnte die bisherigen Voraussetzungen speziell in den städtischen und semi-städtischen Wahlkreisen maßgeblich verändern. Das Mantra von der "größten Demokratie der Welt" verhindert häufig einen realistischen Blick auf die indische Parteienlandschaft. Indische Parteien unterscheiden sich erheblich von jenen in Europa. Sie verfügen praktisch über keine innerparteiliche Demokratie und werden von einer Art „politischer Feldherren/innen“ geführt. Landesweit gibt es ca. 120 politische Dynastien bzw. politische Familien.

Wahlen sind außerdem eine teure Angelegenheit, 2004 und 2009 wurden schätzungsweise jeweils mehrere Milliarden Euro bei der Unterhauswahl eigesetzt. Ein nicht unbeträchtlicher Teil davon stammt aus illegalem Hawala-Geld der politischen Klasse, das unter anderem aus (Auslands-) Geschäften mit so genannten Kickbacks (Schmiergeldern), u. a. bei Waffen-Importen, stammt. Hier offenbart sich die plutokratische und teilweise auch kriminelle Komponente von nicht wenigen Akteuren der indischen Demokratie. Der frühere Kabinetts-Sekretär T. S. R. Subramanian nannte in einer Fernsehsendung "Politik, das größte private Geschäft". Die Mehrzahl der Politiker wolle keine Reformen und hätte kein Interesse am Wandel.

Politische Instabilität und Fragmentierung

Die Dominanz der, nach der Unabhängigkeit über Jahrzehnte allein regierenden, Kongresspartei ist bereits bei den Unterhaus-Wahlen 1989 und spätestens 1996 gebrochen worden. Insgesamt sechs Unterhauswahlen zwischen 1989 und 2004 – normalerweise reicht dies für eine Periode von 30 Jahren – dokumentieren das ganze Ausmaß politischer Instabilität in jener Zeit. Mehrere Minderheitsregierungen, der schleichende Niedergang des Kongresses, der Aufstieg der hindu-nationalistischen BJP, gestärkte Regionalparteien sowie eine offenkundige Fragmentierung des Parlaments mit streckenweise über 40 Parteien, führten zu den zwischen 1998 bis 2004 von der BJP angeführten Koalitionsregierungen der National-Demokratischen Allianz (NDA). Seit 2004 führte der Kongress die Koalitionsregierungen UPA-I und II, regiert gegenwärtig jedoch nur noch mit wechselnden Mehrheiten durch Unterstützung von außen.

Ein kurzer Rückblick: Die wechselhafte Geschichte der Kongresspartei INC

Der 1885 gegründete Indische Nationalkongress (Indian National Congress, INC) ist die älteste indische Partei und blickt naturgemäß auf vielfältige Transformationen in ihrer Geschichte zurück. Diese Speerspitze der indischen Unabhängigkeitsbewegung zählte so herausragende Namen wie Mahatma Gandhi, den Verfechter der Gewaltfreiheit, seine Gegenspieler Subhas Chandra Bose, der mit seiner Indischen National-Armee (Indian National Army, INA) im Bündnis mit Japan und Hitler-Deutschland die britischen Kolonialherren mit Gewalt bekämpfte, aber auch Dr. B. R. Ambedkar, Vater der indischen Verfassung und fast als "gottähnlich" verehrter Führer der "Unberührbaren", die sich heute als Dalits (Unterdrückte) verstehen.
 
Hinzu kommen prominente Politiker wie Jawaharlal Nehru, Indiens überragender und visionärer erster Premierminister von 1947 bis 1963, der Bildungspolitiker Maulana Azad und Sardar Patel, Indiens erster Innenminister, der auch häufig als "indischer Bismarck" bezeichnet wird, da er mit eiserner Hand nach der Unabhängigkeit 1947 die Einheit der Indischen Union schmiedete. Der Alt-Gandhianer Morarji Desai brach 1977 das bis dahin als selbstverständlich angesehene Herrschaftsmonopol des Kongresses, trotz erster Rückschläge 1967. Als Führer einer Kongress-Abspaltung sowie eines Bündnisses aus Sozialisten, Bauernführern und Hindu-Nationalisten übernahm er nach dem Ende des von Nehrus Tochter Indira Gandhi verhängten und für die indische Demokratie so desaströsen Ausnahmezustands (Emergency, 1975-77) das Amt des Premierministers. 1980 musste die Janata Party die Macht jedoch wieder an die "eiserne Lady" abgeben, die bis zu ihrer Ermordung 1984 ein Comeback als Premierministerin – vorher bereits von 1969 bis 1977 regierend – feierte.

Auch ihr zwischen 1984 und 1989 regierender Sohn Rajiv Gandhi gehört zum Erbe dieser großen und geschichtsträchtigen politischen Sammlungsbewegung, die allerdings in Zeiten einer tiefen gesellschaftspolitischen Krise ihre einst überragende Sonderstellung in der indischen Politik nun wohl dauerhaft zu verlieren droht. Die gebürtige Italienerin Sonia Gandhi, Witwe von Rajiv Gandhi, gilt mittlerweile als erfahrene, wenn auch nicht immer erfolgreiche Wahlkämpferin. Sie setzt das Erbe der Nehru/Gandhi-Dynastie fort. Die Präsidentin des Kongresses gilt als der "Kitt", der die keineswegs auf sicheren Füßen stehende Partei zusammenhält und bislang vor dem Zerfall in Einzelbestandteile bewahrte. Sie versucht nun den Stab an ihren Sohn Rahul Gandhi weiter zu reichen, der als Kongress-Vizepräsident den Wahlkampf seiner Partei 2014 führen wird. Ein Vorhaben, dass in den Unwägbarkeiten der indischen Innenpolitik jedoch nicht als gesichert angesehen werden kann.

Die Kongress-Ideologie

Die ursprünglich vom Fabian Socialism inspirierten und überwiegend von Jawaharlal Nehru formulierten gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen (Demokratie, Sozialismus, Säkularismus) verdeckten zunehmend die wahren Interessen einer demokratisch legitimierten post-kolonialen Staatsklasse. Diese Interessen lehnten grundlegende Sozial- und Land-Reformen ab. Der Staat förderte über Subventionen die seit den 1990er Jahren verstärkt in den Parlamenten vertretenen Groß- und Mittelbauern. Über den öffentlichen Sektor konnten sich Teile der politischen Klasse, Spitzenbeamte und Funktionäre der parteipolitisch ausgerichteten Gewerkschaften aufgrund einer unübersehbaren Vetternwirtschaft Privilegien aneignen.

„Säkularismus“, d. h. die Gleichstellung der Religionen, wurde vom Kongress als ein Markenzeichen seiner Herrschaftsform und gesellschaftspolitischen Überzeugungen immer wieder in den Auseinandersetzungen mit der BJP ins Spiel gebracht. Die BJP ihrerseits warf dem Kongress vor, dadurch eine Spaltung der Bevölkerung entlang religiöser Trennlinien, speziell zwischen Hindus und Muslimen zu bewirken. Der Kongress seinerseits bezichtigte die BJP der Diskriminierung von Muslimen.

Im Rahmen des Lizenz-Systems (Licence Raj) wurden ein starker öffentlicher Sektor und die Privatunternehmen gegen internationale Konkurrenz abgeschirmt. Diese Politik endete 1991 im finanziellen Offenbarungseid. Durch die danach beschlossene Liberalisierungspolitik und Öffnung für ausländische Investoren unter Premierminister P. V. Narasimha Rao (1991-96) und seinem Finanzminister Dr. Manmohan Singh, wandte sich der Kongress auch verbal vom "Sozialismus" ab und erkannte den Primat des privaten Sektors der Volkswirtschaft an.

Die Wählerschichten

Oberkasten, wenn auch speziell in Nordindien sehr reduziert, eine traditionelle, jedoch schwindende Unterstützung durch die als Adivasis bezeichnete benachteiligte Ursprungsbevölkerung (Scheduled Tribes, ST‘s) und die unteren Kastengruppen  der "Unberührbaren" (Scheduled Castes, SC‘s), sowie Muslime und Christen machen die große Basis der Kongresswählerschaft aus. Die Kongresspartei gewinnt jedoch nicht mehr, wie über viele Jahrzehnte hinweg, überproportional Mandate in den für SC‘s und ST‘s reservierten Wahlkreisen. Die Parteiführung hat erkannt, dass sie die Interessen der Kleinbauern, landlosen Landarbeiter, SC‘s, ST‘s sowie religiöser Minderheiten, u. a. durch Beschäftigungsprogramme sowie soziale Maßnahmen, verstärkt vertreten muss, um eine weitere Erosion ihrer sozialen Basis aufzuhalten. 2004 und verstärkt 2009 konnte der Kongress sehr viel Unterstützung aus dem Lager der städtischen Mittelschichten gewinnen. Dies scheint sich u. a. durch das Auftreten der AAP, die sowohl Wählerschichten vor allem vom Kongress aber auch der BJP bei der jüngsten Landtagswahl in Delhi abzog, grundlegend zu ändern.

Der sogenannte „High Command“, d. h. de facto Sonia und ihr Sohn Rahul Gandhi, bedingt auch Tochter Priyanka, sowie ein sehr kleiner interner Zirkel, hat zu einer Überzentralisierung innerhalb des Kongresses, begleitet von einer die Gandhis umgebenden Klüngel, und damit zu einem weitgehenden Ausbleiben starker politischer Persönlichkeiten in den Einzelstaaten geführt. Der „Familien-Betrieb“ der Gandhi-Dynastie ist in seiner gegenwärtigen Form einerseits dysfunktional, andererseits droht ein Kongress ohne diese Dynastie in seine Einzelbestandteile zu zerfallen, ähnlich wie einst die indischen Sozialisten. Es bedarf daher viel Fingerspitzengefühl, um den von Rahul Gandhi angestrebten innerparteilichen Demokratisierungsprozess, der ja auch potenziell ihn in Frage gestellet werden könnte, in absehbarer Zeit Wirklichkeit werden zu lassen.

Wofür steht der Kongress heute?

Wird der zunehmend von Rahul Gandhi geführte Kongress über die Kraft verfügen, sich neu zu erfinden oder droht das bestehende Establishment des Kongresses alle Reformversuche im Keim zu ersticken? Rahul Gandhi hat die innere Demokratisierung der Partei sowie mehr Mitsprache ihrer Basis zu seinem Anliegen erklärt und diesen Prozess seit Jahren in den Jugend- und Studenten-Organisationen des Kongresses begleitet.

In der Regel kommen jedoch nur die Söhne und Töchter aus politischen Familien in führende Positionen. Der bevorstehende Wahlkampf mit einer wahrscheinlichen Niederlage für den Kongress, ermöglicht es Rahul Gandhi vielleicht, die Partei vom bestehenden Establishment weitgehend zu befreien und einen Generationswechsel mit neuen Zielen und Methoden einzuleiten. Rahul Gandhi hat auch der Korruption den Kampf angesagt: kein leichtes Unterfangen angesichts der schweren Korruptionsfälle innerhalb des Kongresses und der von ihm geführten Koalitionsregierung.
 
Die Jahre 2009 bis 2014 im Rückblick

Die zweite Legislaturperiode unter der Führung von Premierminister Dr. Manmohan Singh begann mit einem überaus guten Abschneiden des Kongresses mit 206 Sitzen bei der Wahl 2009 recht vielversprechend. Die Wirtschaft verzeichnete hohe Zuwachsraten, die erst in den letzten Jahren abflachten, nicht nur als Folge der internationalen Finanzkrise sondern auch durch Indien-spezifische Faktoren.

Allerdings erschütterten massive Skandale, deren Ursprünge teilweise auf die Periode von UPA 1 zurückgingen, die Regierung. Der sogenannte 2G – Skandal, d. h. die Vergabe von Lizenzen an Unternehmen des Telekommunikations-Sektors, die Aufträge für die Commonwealth Games in 2010 sowie die Vergabe von Lizenzen zum Kohle-Abbau (Coal-Gate), sind nur einige der sehr kostspieligen Beispiele von Korruption auf höchster politischer Ebene. Eine wesentliche Ursache für diese Skandale ist die ungeregelte Parteien-Finanzierung, die zur illegalen Bereicherung der politischen Klasse und zu Formen der Förderung von sogenanntem „crony capitalism“ (Kumpel-Kapitalismus) führte. 

Andererseits drückte der Kongress, teilweise in kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Regierung, Gesetze wie das Recht auf Schulbildung und das Recht auf Nahrungsmittel durch, um die Unterstützung der marginalisierten und unterhalb sowie knapp oberhalb der Armutsgrenze lebenden Menschen zu gewinnen. Maßgeblich verantwortlich für diese eher populistischen Initiativen zeichnete der von Sonia Gandhi geführte National Advisory Council, der praktisch eine Art parallele Machtstruktur zur Regierung darstellte.
 
Die jüngste Verabschiedung eines Lokpal-Gesetzes, das verschärft gegen Korruption vorgehen soll und von der prominenten Antikorruptionsbewegung seit 2011 ins Rollen gebracht wurde, wurde letztendlich maßgeblich auf Drängen von Rahul Gandhi verabschiedet.
 
Niederlagen bei Landtagswahlen

Die Ursachen für die schweren Niederlagen bei den jüngsten Landtagswahlen in Madhya Pradesh, Chhattisgarh, Rajasthan und Delhi sind vielfältiger Natur. Die guten Regierungsbilanzen der BJP in Madhya Pradesh und Chhattisgarh veranlassten die Wähler, zum dritten Mal in Folge die dortigen Regierungen zu bestätigen. Trotz Stimmengewinn des Kongresses legte dort auch die BJP zu. In Rajasthan gewann die BJP ca. 12 Prozent an Stimmen hinzu, was vor allem auf die Ineffizienz und Skandale der bisherigen Kongress-Regierung zurückzuführen war. Selbst relativ spät aufgelegte Wohlfahrtsprogramme stimmten die Wähler nicht mehr um.

Die BJP profitierte auch von dem „anti-incumbency“-Faktor gegenüber der Zentralregierung, nicht zuletzt wegen der hohen Nahrungsmittel-Inflation und der Korruption der letzten Jahre. Der „Modi-Faktor“ trug, speziell in Rajasthan, sicherlich ebenso zu den BJP-Erfolgen bei, wie die sich teilweise bekämpfenden Fraktionen innerhalb der Kongress-Landesverbände zeigen.

In der Landeshauptstadt Delhi dezimierte das Auftreten der von Arvind Kejriwal geführten AAP den Kongress mit nur acht Mandaten fast zur Bedeutungslosigkeit. Allerdings verhinderte die AAP, trotz sechs Auftritten von Modi, dass die BJP Stimmen hinzugewinnen konnte. Die BJP verlor trotz Mandatszugewinnen sogar ca. 2 Prozent an Stimmen gegenüber 2008.

Ausblick

Wer sind die wichtigsten Kontrahenten unter den Parteien, wer sind ihre wichtigsten Zielgruppen? Persönlichkeiten, Sitz- und Koalitionsabsprachen sind neben einem außerordentlich hohen Finanzaufwand, abgesehen von nicht allzu ausgeprägten ideologischen Positionen, wichtige Faktoren, um unter den Bedingungen eines reinen Mehrheitswahlrechts nach britischem Vorbild den Sieger zu ermitteln. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob die Aussichten des Kongresses auf eine Rückkehr zur Macht äußerst gering bzw. geradezu unmöglich erscheinen. Finanzminister Chidambaran sieht den Kongress in einer Außenseiter-Rolle. Die BJP geht gegenwärtig mit ihren ganz wenigen Verbündeten als Favorit in das Rennen. Auch eine „dritte Kraft“ könnte mit Außenunterstützung die künftige Regierung stellen. Es ist jedoch keineswegs völlig auszuschließen, dass sich dieses Bild noch ändern könnte. Die wenigen Monate bis zur Unterhauswahl sind eine lange Zeit in der indischen Politik.

Eine nicht ganz unwesentliche Rolle dürfte in diesem Zusammenhang die Aam Aadmi Party spielen. Sie wendet sich vor allem an die unzufriedenen städtischen Mittelschichten, die sich nach ihrem Rückzug aus der indischen Politik nun wieder mit ihren Vorstellungen engagieren. AAP erhält aber auch viel Zuspruch von Unterschichten und Slumbewohnern. Falls die von Arvind Kejriwal geführte Minderheitsregierung in Delhi zusammenhält und einige positive Ergebnisse in ihrer Regierungstätigkeit wird vorzeigen können, könnte sie zu einer gesamtindischen politischen Kraft werden, indem sie vor allem Stimmen vom Kongress als auch von der BJP abzieht. Allerdings treten innerhalb der AAP zunehmend Widersprüche auf und es bleibt abzuwarten, ob sie ihren ursprünglichen Elan beibehalten kann.

Europäische Ideologien und ihre wechselseitigen Ausgrenzungen sind in Indien nur begrenzt anwendbar. „Links“ und „rechts“ sind als Begriffe kaum tragfähig. Die Generation indischer Sozialisten ist ausgestorben. Es gibt keine wirklich erklärte sozialdemokratische Partei, obwohl angesichts der sozio-ökonomischen Grundbedingungen, u. a. mit weit verbreiteter Armut, sicherlich ein weiterer „social-democratic space“  vorhanden ist.

Der Kongress sieht sich ideologisch als eine „links“ vom Zentrum der indischen Politik angesiedelte Partei, die zumindest verbal die Anliegen benachteiligter Bevölkerungsschichten vertritt. Die Partei organisierte vor einigen Jahren eine internationale Konferenz, in der die Frage aufgeworfen wurde, ob der Kongress eine Art indische Sozialdemokratie darstelle bzw. bilden könne.

Mani Shankar Aiyar, Oberhaus-Mitglied und früherer Kabinettsminister, meint jedoch, dass zahlreiche Politiker im Kongress nur ihre eigenen materiellen Interessen verfolgen, verantwortlich für die Korruption seien und von den ursprünglichen Zielen und Werten der Partei signifikant abweichen würden. Der Schriftsteller Chetan Bhagat fordert von Gandhi, er müsse „die Köpfe derer rollen lassen, die den Kongress heruntergewirtschaftet hätten.“

Wird es Rahul Gandhi in der bis zu den Wahlen zur Verfügung stehenden Zeit gelingen, sich vom ausgeprägten „anti-incumbency“–Faktor gegen den Kongress und den mit ihm alliierten, wenigen Parteien zu befreien und eine plausible neue Vision für die nächste Zukunft zu entwerfen? Oder muss die Partei erst eine Phase der Opposition durchlaufen, um die notwendigen innerparteilichen Reformen anzugehen und neue programmatische Schwerpunkte zu erarbeiten?

Rahul Gandhi’s Rede vor den Delegierten des All India Congress Committee (AICC) am 17. Januar 2014 offenbarte einen neuen, sehr viel aggressiveren Stil mit sogar bislang nicht sichtbaren charismatischen Elementen. Beobachter nannten es eine „Mischung aus Kejriwal und Modi.“

Unions-Minister Jyotiraditya Scindia verwies auf das von Rahul Gandhi propagierte „Modell inklusiven Wachstums“, das sich vor allem, so Gandhi, „mit den breiten Schichten oberhalb der Armutsgrenze und unterhalb der Mittelschichten befassen müsse.“ Scindia unterstrich Gandhi’s starken Willen, das bestehende System grundsätzlich zu verändern.

Ob diese Rhetorik, begleitet von einer landesweiten Werbekampagne über die Erfolge des Kongresses und der UPA 2-Regierung, wirklich noch das Ruder herum reißen wird, kann nur von den Wählern beantwortet werden. Prashant Bhushan, einer der führenden AAP-Köpfe, sieht den Kongress nicht als einen ernsten Bewerber um die Macht. „Die Bevölkerung ist nicht bereit, dem Kongress zu verzeihen.“

Der bewusste Verzicht von Sonia Gandhi, ihren Sohn zum Kandidaten für das Amt des Premierministers zu erklären, soll einerseits vermeiden, in die Falle einer präsidialen und dann vermutlich ungleichen Auseinandersetzung zwischen Narendra Modi und Rahul Gandhi zu laufen. In dieser Entscheidung drückt sich aber auch die Absicht aus, nach der Wahl offener für Allianzen zu sein – dies kann auch eine sogenannte „dritte Kraft“ mit Außenunterstützung durch den Kongress bedeuten - um unter allen Umständen Narendra Modi als Premierminister zu vermeiden.
 
Fest steht, die älteste indische Partei ist in ihrer gegenwärtigen Form nicht mehr zeitgemäß. Sie bedarf einer grundlegenden Erneuerung, um weiterhin ein entscheidender Akteur in einem sich rapide verändernden Indien mit seinen immensen Herausforderungen sein zu können.
 

Weitere Artikel, Interviews, Analysen sowie Studien und Publikation zu Indien im Wahljahr 2014 in unserem Dossier:
"Indien im Wahljahr – Aufbruch oder Stagnation?".