"Wir wollen beide Staaten in der EU sehen!“

Schriftzug "NEWBORN"

Vierzehn Jahre nach dem Ende des Kosovokrieges haben die Ministerpräsidenten Serbiens und des Kosovos, Ivica Dačić und Hashim Thaçi, in diesem Frühjahr unter der Vermittlung der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton in Brüssel ein Abkommen über die Normalisierung ihrer Beziehungen ausgehandelt. Das „Brüsseler Abkommen“ öffnete den beiden verfeindeten Staaten die Tür nach Europa. Am 28. Juni entschieden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Anfang 2014 mit den Beitrittsverhandlungen Serbiens zu beginnen. Parallel dazu soll auch mit dem Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen angestrebt werden. Dies ist eine Vorstufe späterer Beitrittsverhandlungen. Wichtig sei nun, hieß es aus Brüssel, dass Serbien und das Kosovo ihr jüngst geschlossenes Abkommen zur Normalisierung ihrer Beziehungen tatsächlich verwirklichen. Im Dezember, bevor es zum endgültigen Beschluss über die Aufnahme der Verhandlungen kommt, sollen die Fortschritte nochmals überprüft werden.

Einen Monat vor dieser Überprüfung durch die EU versuchte eine öffentliche Podiumsdiskussion unter dem Veranstaltungstitel „Endlich Normalität?“ in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin den aktuellen Entwicklungsstand der serbisch-kosovarischen Beziehungen gesellschaftspolitisch einzuordnen. Es diskutierten: Dr. Dušan Janjić, Soziologe an der Universität Belgrad und Vorsitzender der Partei „Aktives Serbien“, Besa Shahini, Politologin und Analystin des think tanks „European Stability Initiative“ in Priština, Petar Miletić, serbisch-kosovarisches Parlamentsmitglied und Stellvertretender Vorsitzender der „Independent Liberal Party“, Leon Malazogu, Direktor der Nichtregierungsorganisation „Democracy for Development“ in Priština und David Gudisch, Referent für Serbien und EU Außenbeziehungen im Auswärtigen Amt in Berlin. Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Andreas Poltermann, dem Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad.

Zu Beginn sollten die geladenen Gäste die Ereignisse rund um die Kommunalwahlen Anfang November im Kosovo kommentieren. Die erste landesweite Kommunalwahl seit Jahrzehnten unter Beteiligung der serbischen Minderheit war ein Kernstück des „Brüsseler Abkommens“ gewesen. Petar Miletić, der 2010 ein Mordattentat serbischer Nationalisten nur knapp überlebte, sprach von den besten Wahlen seit 1999. Südlich des Flusses Ibar seien die Wahlen fair und demokratisch verlaufen. Die Wahlbeteiligung der Kosovo-Serben lag hier bei über 60 Prozent. Im serbisch dominierten Nord-Mitrovica seien die Wahlen jedoch gescheitert. Dort hätten serbische Extremisten Wahllokale gestürmt und die Bürger gewaltsam vom Urnengang abgehalten. Seine eigene serbisch-kosovarische Partei habe im Norden nicht frei agieren können. Dort bezeichne man ihn und seine Partei als „Verräter“ und „ Thaçi-Serben“. Ihnen wurde mit Bomben und Gewalt gedroht.

Ein wichtiger Schritt

„Trotz dieser Ausschreitungen in Nord-Mitrovica“, sagte Dr. Dušan Janjić, „waren diese Wahlen ein wichtiger Schritt Richtung Europa“. Zwar habe seine eigene Partei „Aktives Serbien“ wegen Morddrohungen keinen Kandidaten für das Bürgermeisteramt in Nord-Mitrovica aufgestellt, doch müsse man am Anfang eben pragmatisch sein, dürfe nicht zu viel auf einmal erwarten. Allerdings sei es von entscheidender Bedeutung, dass die Serben bei der Wiederholung der Kommunalwahlen am 17. November in den drei Wahllokalen in Nord-Mitorivca, - die wegen der Gewalttätigkeiten beim ersten Wahlgang nötig geworden waren - diesmal ihren Wahlboykott revidieren. „Denn ein Kosovo-Albaner als Bürgermeister in Mitrovica,“ sagte Dr. Dušan Janjić, „würde Krieg bedeuten.“

Kritisch zu den Wahlen äußerte sich auch Leon Malazogu mit Blick auf die albanisch-kosovarische Seite. Obschon es keinen massiven Wahlbetrug gegeben und auch die Wahlbeobachter von fairen Wahlen gesprochen haben, seien doch bedenkliche Missbrauchsfälle aufgetreten. So habe es erhebliche Probleme mit den Wahllisten gegeben. Auf den Wahllisten standen zum Beispiel die Namen der im Ausland lebenden Kosovaren, für die Einheimische ihre Stimme abgeben konnten. So etwas dürfe in der Zukunft nicht mehr vorkommen, sagte Malazogu.

Ungeachtet der großen Probleme in Nord-Mitrovica und einiger Unregelmäßigkeiten, war man sich auf dem Podium darüber einig, dass es zwar noch viel zu verbessern gebe, aber die Wahlen ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen seien. David Gudisch vom Auswärtigen Amt in Berlin sagte: „Wir betrachten die Kommunalwahlen als Erfolg. Sie waren ein guter Schritt Richtung Normalisierung.“

Im Anschluss daran wurden einige umstrittene Punkte des „Brüsseler Abkommens“ diskutiert. Besa Shahini kritisierte das neue Amnestiegesetz. Wir von der Zivilgesellschaft, sagte sie, seien unzufrieden mit den ersten Entwürfen. So sollen zum Beispiel auch Menschen, die im Süden des Kosovos Verbrechen begangen haben, unter das Amnestiegesetz fallen. „Wer soll da alles frei gesprochen werden“, fragte sie rhetorisch in die Runde. Die Internationale Gemeinschaft habe, ohne die Rücksicht auf die Menschen im Kosovo, das Amnestiegesetz schnell und nicht demokratisch durchsetzen wollen. Dies sei so nicht in Ordnung gewesen.

Gefahr einer zweiten Republika Srpska

Weitaus heftiger wurde dann über den neuen Status der serbischen Gemeinden innerhalb des Kosovos debattiert. Die zwischen dem Kosovo und Serbien ausgehandelte Vereinbarung besagt, dass nach den Kommunalwahlen, sich die sechs südlichen und vier nördlichen serbischen Gemeinden zu einer „Gemeinschaft der serbischen Gemeinden“ mit erheblichen Selbstverwaltungsrechten zusammenschließen dürfen.

Diese Vereinigung, sagte Leon Malazogu, Direktor des think tanks „Democracy for Development“ in Priština, sei ein Trojanisches Pferd. Die Belgrader Regierung wolle eine Assoziation, eine Gemeinschaft bilden, die in Serbien und im Kosovo den Status der Legitimität genieße. Dadurch würden die Parallelstrukturen im Gesundheitswesen, der Bildung, in der Polizei und der Justiz eben nicht abgeschafft. „Die Gemeinschaft der serbischen Gemeinden“ innerhalb des Staates Kosovo sei ein Irrweg und bewege sich Richtung dem Vorbild der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina. Dies sei eine nicht akzeptable und gefährliche Entwicklung.

Auch Petar Miletić, serbisch-kosovarisches Parlamentsmitglied, sieht die Gefahr einer neuen Republika Srpska im Kosovo. Allerdings sei der Status dieser neuen „Gemeinschaft der serbischen Gemeinden“ im Brüsseler Abkommen nicht genau definiert worden. Alles sei völlig unklar, man wisse zum Beispiel noch nicht, wem das staatliche Vermögen und Eigentum gehöre und wie die Universität organisiert werde. Man könne einfach noch nicht sagen, welche Rolle diese Vereinigung in Zukunft spielen wird.

Ebenso wie seine zwei Vorredner betonte Dr. Dušan Janjić das Konfliktpotential dieser neuen Körperschaft. Man müsse aufpassen, sagte er, dass sich die Serben nicht aus dem Staat Kosovo herauslösen. Allerdings sehe er in der Vereinigung auch die Chance zu einem serbischen Regionalismus mit Minderheitenrechten innerhalb eines multiethnischen Kosovos. In Zukunft müsse man diese Perspektive stärken und ausbauen. Um zu einer Normalisierung, die noch in weiter Ferne liege, zu gelangen, sagte Janjić, müsse man insbesondere den zivilgesellschaftlichen Dialog innerhalb des Kosovos fördern.

Alle waren sich darüber einig, dass man die Ausgestaltung jener „Gemeinschaft der serbischen Gemeinden“ genauestens beobachten und kontrollieren müsse. Denn abgesehen von ein paar Nationalisten im Norden des Landes, habe niemand ein Interesse daran, im Kosovo zypriotische oder bosnische Verhältnisse zu schaffen.

Zum Abschluss der Veranstaltung stellte der Moderator Dr. Andreas Poltermann die Frage nach der EU-Perspektive des Kosovos und Serbiens. Die Europäische Union hatte den beiden Staaten, als Anreiz und Belohnung, Beitrittsverhandlungen beziehungsweise für das Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen für Ende des Jahres in Aussicht gestellt.

Von dem Abkommen mit der EU erhoffe sie sich, sagte Besa Shahini, für das Kosovo einen ähnlichen Modernisierungsschub wie ihn Kroatien erlebt habe. Die Verwaltung im Kosovo müsse reformiert, das Bildungsniveau gehoben und der Arbeitsmarkt reformiert werden. Ohne die Hilfe der Europäischen Union sei es nahezu unmöglich, diese enormen Transformationsprozesse einzuleiten.

Mitgliedschaft in der Europäischen Union

Allerdings sei es ein Problem, sagte Shahini, dass die EU das Kosovo nicht als Staat anerkenne. Am 17. Februar 2008 hatte das Parlament in Priština seine Unabhängigkeit von Serbien proklamiert. Der völkerrechtliche Status des Landes ist jedoch umstritten. Serbien erkennt - ebenso wie die EU-Mitglieder Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Zypern - das Kosovo nicht als unabhängigen Staat an. Dieser Zustand, sagte Besa Shahini, sei unhaltbar – denn um ein Mitglied in der Europäischen Union zu werden, müsse man ein Staat sein. Auf der Grundlage der Nichtstaatlichkeit, sei ein vollständiger Integrationsprozess in die EU unmöglich.

An dieser Stelle widersprach ihr David Gudisch vom Auswärtigen Amt in Berlin. Er sagte: „Das Kosovo ist ein potentieller Beitrittskandidat. Der Prozess der Integration findet bereits statt.“ Es gebe Handelserleichterungen, verkehrspolitische Maßnahmen, wirtschaftliche Vorteile und entwicklungspolitische Fördergelder. Ebenso hätten die fünf Staaten, die das Kosovo nicht anerkennen, dem Assoziierungsabkommen zugestimmt.

Darüber hinaus verknüpfe man eine Zustimmung zu den Beitrittsverhandlungen Serbiens am Ende des Jahres ja auch mit der Situation im Kosovo. Dort wollen wir, und dies sagte er auch mit Blick auf die Gründung einer „Gemeinschaften der serbischen Gemeinden“ im Kosovo, einen Abbau der Parallelstrukturen erreichen. Die serbischen Polizisten und Gerichte müssen in den kosovarischen Staat eingegliedert werden. Hier müsse der politische Wille Belgrads sichtbar werden. Und dann sagte er noch: „Wir wollen beide Staaten in der EU sehen!“

Mit dieser positiven Zukunftsaussicht endete das Berliner Podiumsgespräch. Die zweistündige Debatte in der Heinrich-Böll-Stiftung hatte den zahlreich erschienen Gästen vielfältige Ein- und Ausblicke in die gegenwärtige Situation des Kosovos vermittelt. Als Fazit des Abends kann man sagen: Die Lage im Kosovo ist schwierig, aber nicht hoffnungslos. Das „Brüsseler Abkommen“ zwischen Belgrad und Priština ist ein fragiler, aber nichtsdestoweniger erster wichtiger Schritt hin zu einer Normalisierung zwischen Serben und Kosovaren. Die Zukunft beider Staaten liegt in der Europäischen Union. Der Weg dorthin wird steinig und langwierig sein. Aber immerhin gibt es mittlerweile einen Weg, den man gemeinsam begehen kann.