Srebrenica, 15 Jahre später

15 Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica, bei dem fast 10.000 Menschen ermordet wurden, finden nun 775 neu identifizierte Opfer ihre letzte Ruhe in der Gedenkstätte in Potočari. Trotz positiver Entwicklungen in der letzten Zeit, ist die Aufarbeitung des Genozids in vielerlei Hinsicht noch schwer. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zur EU & Nordamerika.

11. Juli 1995.... 11. Juli 2010.... 15 Jahre später. Während des Völkermordes in Srebrenica sind fast 10.000 Menschen ermordet worden. Die offiziellen statistischen Angaben belaufen sich auf eine Zahl von 8.372 ermordeten Menschen, aber viele der Einwohner Srebrenicas werden behaupten, dass die Zahl um fast 1.000 höher ist. An diesem 11. Juli 2010 wurden 775 von ihnen in der Gedenkstätte in Potočari beigesetzt. Damit fanden nach 15 Jahren etwas mehr als 4.500 Opfer ihre letzte Ruhe. 
 
Die Angehörigen der Opfer, so paradox dies auch klingen mag, freuen sich auf die Identifizierungen und möchten ihre Familienmitglieder so schnell wie möglich würdevoll beisetzen. Sie richten sich nach der Zeit von Juli bis Juli. Viele, vor allem aber die Mütter der Ermordeten, sagen, dass sich ihr Leben im Laufe eines Jahres auf diese wenigen Tage im Juli eines jeden Jahres beschränkt: Wenn sie in einer Reihe von Veranstaltungen teilnehmen, von denen die Beisetzungen an jedem 11. Juli die wichtigsten sind, und sie den Jahrestag des an ihren Liebsten verübten Genozids betrauern können. 

Eine der Mütter aus Srebrenica, Munira Subašić, die Sohn und Mann und noch 24 weitere Angehörige verloren hat, erinnert sich an die Anfänge des Kampfes um die Wahrheit über Srebrenica. Als klar wurde, dass es keine Überlebenden geben wird und die ersten Massengräber deutlich von den Ausmassen des Verbrechens zeugten, war die ursprüngliche Idee, die Gedenkstätte und den Friedhof, auf dem die getöteten Einwohner Srebrenicas beigesetzt werden sollten, auf dem Territorium der Föderation Bosnien und Herzegowina zu errichten.
Dies war die Idee der einheimischen Politiker.

Die Frauen von Srebrenica entscheiden sich für eine Gedenkstätte in Potočari zu kämpfen, dem Ort neben Srebrenica, von dem aus die meisten Männer aus Srebrenica den Weg ohne Rettung gegangen waren.
Zahlreiche Hindernisse stellten sich ihnen bei der Verwirklichung ihrer Idee in den Weg: das Unverständnis der Politiker, fehlende Mittel für eine Umfrage unter den Überlebenden von Srebrenica, mangelnde Unterstützung jeglicher Art.

Den gordischen Knoten löste der damalige Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, Wolfgang Petritsch: „Die Gedenkstätte wird in Potočari errichtet“. Einige Jahre später überstellt ein anderer Hoher Repräsentant, Chrisitian Schwarz-Schilling, die Gedenkstätte in Potočari dem Zuständigkeitsbereich des Staates Bosnien-Herzegowina.

Die Exhumierungen gehen weiter. Durch DNA-Analysen wird der Identifizierungsprozess beschleunigt, aber nicht annähernd so schnell wie erwartet. Noch immer werden Massengräber entdeckt. Das letzte wurde im Gemeindegebiet von Srebrenica entdeckt, in einem Dorf einige Kilometer von der Stadt entfernt, auf einer Mülldeponie. Bisher wurden dort etwa zehn Skelette geborgen. Bestimmte Vermutungen deuten jedoch darauf hin, dass in diesem Massengrab bis zu Eintausend Skelette von Opfern des Genozids in Srebrenica zu finden seien werden. Im Gebiet der Nachbargemeinde Zvornik, im Dorf Kamenica,, wurden 12 Massengräber gefunden. In nur einer von ihnen, genannt Crni Vrh (Schwarze Spitze), fand man fast 1.200 menschliche Überreste. 

Gedenken und Rückkehr

Mit dem Öffnen der Massengräber, vor allem nach der Entscheidung, die Gedenkstätte in Potočari zu errichten, beginnt zeitgleich die Rückkehr der Bosniaken. Von den einst 30.000 vor dem Krieg, leben heute nur noch etwa 4.000 in Srebrenica. Die Rückkehr wurde in all den vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten behindert. Auch das offizielle Sarajevo war nicht immun dagegen. Die vertriebenen Bosniaken aus Srebrenica wurden in Vororte von Sarajevo angesiedelt, aus denen sich 1996, nach der Reintegration der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, die Sarajevoer Serben zurückzogen und sich ausgerechnet in Srebrenica und dem benachbarten Bratunac niederliessen.

An Mitteln für den Wiederaufbau von Srebrenica und dem Leben dort fehlte es nicht. Es ist, auch wenn die Höhe der Summe für Srebrenica nicht genau beziffert werden kann, aber offensichtlich, dass ein Teil des Geldes irgendwo anders endete. 

Manchmal erweckt es den Anschein, die Bosniaken aus Srebrenica, zumindest ein Teil von ihnen, seien gleichgültig gegenüber den Geschichten über die Veruntreuung der Gelder. „Hier wurden fast 10.000 Menschenleben veruntreut“, sagt ein junger bosniakischer Einwohner Srebrenicas resigniert, der allerdings das Glück hatte, aufgrund seiner Qualifikationen eine anständige Arbeit in Srebrenica zu finden.

„Kein Geld der Welt könnte mir meine beiden Kinder zurückbringen. Wir brauchen Gerechtigkeit, denn auf den Straßen begegnen wir täglich jenen, die damals unsere Kinder weggebracht haben“, sagt Hatidža Mehmedović, die an diesem 11. Juli ihre zwei Söhne und den Ehemann beigesetzt hat.

Immerhin wurde ein Teil der Wohnungen und der Infrastruktur erneuert. In zumeist kleineren Produktionsbetrieben fanden einige Hundert Bosniaken aus Srebrenica eine Arbeit. Ein Teil von ihnen ist in der Gemeindeverwaltung tätig, die die einzige mehrheitlich bosniakische Verwaltung in der Republika Srpska ist: Zu Beginn Dank der Stimmen der umgesiedelten Einwohner Srebrenicas, später Dank der Interventionen der Internationalen Gemeinschaft in einem Teil des Wahlgesetzes, welches sich auf Srebrenica bezieht. Aber immer noch sind sehr wenige Bosniaken im Schul- und Gesundheitswesen und der kommunalen Wirtschaft zu finden. Etwas besser sieht es bei der lokalen Polizei aus. Die Situation ist jedoch nicht annähernd zufriedenstellend, selbst wenn die Bosniaken die Mehrheit in der Gemeindeversammlung bilden.

Ein weiteres großes Problem für die Bosniaken Srebrenicas stellt das Bildungssystem dar, angefangen beim Lehrplan, bis hin zu der mehr als bescheidenen Anzahl an bosniakischen Lehrern an den Schulen in Srebrenica. „Es ist schwer, sein Kind in eine Schule gehen zu lassen, in der ihm beigebracht wird, dass der in Srebrenica verübte Genozid ein Befreiungskrieg war; dass das Volk, dem es angehört, eigentlich kein Volk ist, sondern eine Religionsgruppe; dass Kriegsverbrecher Volkshelden sind“, sagt die Mutter eines Mädchens, das in eine der Grundschulen von Srebrenica geht. Immerhin wird in einigen Dorfschulen, die ausschliesslich von bosniakischen Kindern besucht werden, in den nationalen Gruppen der Fächer nach dem Lehrplan der Föderation Bosnien und Herzegowina unterrichtet. Die Eltern aus Srebrenica hoffen, dass dieses Modell auch in den Gemeinschaftsschulen anklang findet, vorrangig aber in der Stadt Srebrenica.

Die Bosniaken aus Srebrenica erinnern sich voller Nostalgie an die Zeit von vor dreieinhalb Jahren, als Gespräche über den Sonderstatus dieser Gemeinde aktuell waren, die vorsahen, die Stadt aus der Gerichtsbarkeit der Republika Srpska heraus zu nehmen. Neben dem allgemeinen bosniakischen Konsens darüber, so beteuern sie, unterstützte auch eine Vielzahl der Serben aus Srebrenica diesen Sonderstatus, da sie in ihm die Chance für einen besseren wirtschaftlichen Aufschwung in Srebrenica und bessere Möglichkeiten für ihre Kinder sahen. Aber, neben der erwarteten resoluten Ablehnung durch die Regierung der Republika Srpska, setzte auch die Internationale Gemeinschaft einen Schlussstrich unter die ganze Geschichte, da der Antrag nach einem Spezialstatus ihrer Meinung nach inakzeptabel sei.

Das Problem der Schuldfrage

Das Prozessieren der Verantwortlichen für den Genozid in Srebrenica ist noch immer einer der wundesten Punkte in der Geschichte Srebrenicas, ungeachtet der jüngsten Verurteilungen von sieben bosnischen Serben, von denen zwei jeweils lebenslängliche Haftstrafen bekommen haben. Die Abteilung der Staatsanwaltschaft Bosnien-Herzegowinas für Kriegsverbrechen in Srebrenica, die in dieser Stadt im März 2008 gegründet wurde, arbeitet mit äußerst bescheidenen Kapazitäten. 

Das Leugnen des Genozids schmerzt die Menschen in Srebrenica am meisten. Und genau das hat der Premierminister der Entität in der sie leben, Milorad Dodik, am 12. Juli bei der Trauerfeier für die serbischen Kriegsopfer in diesem Teil von Bosnien-Herzegowina erneut getan. „Wenn es einen Genozid gegeben hat, dann am serbsichen Volk Ost-Bosniens. Wir geben zu, dass im Laufe der finalen Militäroperationen im Juli 1995 ein großes Verbrechen an den Bosniaken verübt wurde. Aber wir akzeptieren es nicht, dass es sich dabei um Völkermord handelt, denn damit soll den Serben eine Kollektivschuld zugewiesen werden für etwas, dessen sie nicht schuldig sind“, behauptet der Premierminister dieses Teils von Bosnien-Herzegowina. 

Bis zu diesem Jahr war der Tag nach der Trauerfeier in Potočari ein besonders unangenehmer Tag für die Rückkehrer aus Srebrenica. Vorwiegend junge Menschen, mehrheitlich aus dem Nachbarstaat, kamen nach Srebrenica und in das benachbarte Bratunac und demonstrierten Macht und Stärke mit Provokationen und dem Hervorheben der Symbole der Tschetnik-Bewegung, einer faschistischen Bewegung, die im Zweiten Weltkrieg entstanden war. Symbole, unter deren Flagge der Genozid in Srebrenica im vergangenen Krieg verübt wurde. In diesem Jahr blieben derartige Ausschreitungen aus, dank des Engagements der amerikanischen Administration, bzw. der Botschaft der Vereinigten Staaten in Bosnien-Herzegowina, die eine klare Warnung an die Polizei der Republika Srpska gesandt hatten, dass ein solches Verhalten nicht zu tolerieren sei.

Man könnte unendlich über die Probleme in Srebrenica erzählen und schreiben. 
Trotz alledem hat die Stadt Srebrenica auch ihre schönen Seiten. Eine Gruppe junger bosniakischer Rückkehrer, die nach Beendigung ihres Studiums entschieden haben, nach Srebrenica zurück zu kehren, verändern allmälich das Bild der Stadt. Sie sind verantwortlich für die beginnende Normalisierung der Verhältnisse den Serben Srebrenicas gegenüber, die zum größten Teil noch immer nicht über den in Srebrenica verübten Genozid sprechen wollen. Aber einfache zwischenmenschliche Kommunikation, gemeinsames Kaffetrinken, Gespräche über die alltäglichen Sorgen und Geschäfte miteinander sind nun keine Seltenheit mehr in Srebrenica.

Gegenwart und Zukunft des Gedenken an Srebrenica

Kommen wir zurück zum diesjährigen Gedenken an den Jahrestag des Genozids in Srebrenica.
Die bisher größte Zahl an Opfern, die größte Zahl an Besuchern aus ganz Bosnien-Herzegowina und der Welt, die bisher größte Zahl an Rednern. Bei gleißender Hitze waren mehr als 60.000 Anwesende gezwungen, politischen Wahlkampagnen und Reden zuzuhören, großen Worten ohne Sinn, den unartikulierten Rechtfertigungen der internationalen Beamten, den pathetischen Phrasen und Botschaften, die an Geschmacklosigkeit grenzten. Darunter auch die geschmacklosen Lobhudelei auf den serbischen Präsidenten Boris Tadić, auf dessen Initiative hin die serbische Nationalversammlung vor zwei Monaten die Resolution zu Srebrenica verabschiedet hatte, in der das Verbrechen an den Bosniaken verurteilt wird. Von Genozid ist in der Resolution jedoch keine Rede.

An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass es in Bosnien-Herzegowina keine Resolution über die Verurteilung des Genozids in dieser Stadt gibt, ungeachtet der klaren Forderungen des europäischen Parlaments, das dieses Dokument letztes Jahr verabschiedet hat. Vermutlich wird es das noch lange Zeit nicht geben, denn die aktuellen politischen Parteien, die die serbische Wählerschaft aus der Republika Srpska um sich versammeln, tun alles nur erdenkliche, um eine derartige Initiative im Parlament zu verhindern. Dies gelingt ihnen auch aufgrund der Entitätsabstimmung, der als Mechanismus für den Schutz der vitalen nationalen Interessen im Daytoner Friedensvertrag verankert ist.  

Die bosniakischen Politiker sind in diesem Juli eine Geschichte für sich. In den vergangenen Jahren kam es vor, dass die Mehrheit von ihnen zumindest einen Tag früher anreiste und die Nacht in dieser Stadt verbrachte. Dieses Jahr trafen sie, unter massivem Polizeischutz, kurz vor Beginn der Trauerfeier ein. Die meisten reisten noch vor Ende der Beisetzung aller 775 Opfer wieder ab. Denn der 11. Juli 2010 hatte Aufregenderes zu bieten: das Finale der Fußballweltmeisterschaft war für einen Großteil der bosniakischen Politiker wichtiger als, sagen wir, der Besuch bei einer Mutter, die an diesem Tag zwei Söhne, die siebzehnjährigen Zwillinge Mirzet und Mirsad Alispahić beerdigt hat.

„Nie wieder Völkermord, der Gerechtigkeit muß Genüge getan werden, die Verbrecher müssen verhaftet werden, wir stehen euch bei“ hallte es durch das Potočari Tal.
 Ein alter Mann von 83 Jahren, der im Srebrenica-Genozid vier Söhne verlor, flüsterte leise: „Das sagten sie auch nach dem vorigen Krieg, 1945“.


Adnan Rondić ist Journalist und arbeitet in Sarajevo.

 

 

 

Dossier

Europa und der Westliche Balkan

Wollte man im Juli 2010 ein allgemeines Charakteristikum für die Lage auf dem West-Balkan und seine Zukunftsaussichten formulieren, dann müsste man wohl von einer „alten Unübersichtlichkeit“ sprechen. Das Dossier bietet aktuelle Artikel zu Staatlichkeit, Demokratie, Bürgerrechten, Aufarbeitung und der Beziehung der Länder des westlichen Balkans zur EU.

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