Zehn Jahre in einer Parallelwelt

Syrien

Der Tag, an dem niemand mehr etwas von "Reformen" hören wollte: Jahrzehntelang hatte das Assad-Regime das Leben der Syrer völlig in Beschlag genommen, als sie 2011 endlich aufstanden und zeigten, dass sie sich nicht mehr mundtot machen lassen. Ameenah A. Sawwan erzählt von ihrem mühsamen Weg in eine bessere Zukunft.

Graphic: Part of a Syrian banknote with ink stain

2011 fing alles an

Der Freitag, auf den der 18. März 2011 fiel, hatte den Namen „Freitag der Würde“ bekommen. Ich war gerade einmal zwanzig und was an jenem Tag geschah, überstieg all meine Erwartungen und kühnsten Fantasien. Ich war völlig überrumpelt. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass wir einmal in jenem Königreich der Angst gegen unseren Bürgermeister aufstehen würden, oder den Bezirksverwalter, geschweige denn den Präsidenten.

Das Jahr hatte mit viel Jubel angefangen, nachdem wir die frohe Botschaft aus Tunesien erhalten hatten: Ben Ali hatte die Flucht ergriffen. Unvergesslich war die Stimme jenes Mannes, der auf der Bourguiba-Straße in Tunis in die Nacht schrie: „Freiheit für das große tunesische Volk! Keine Angst vor Niemand! Wir sind befreit! Das tunesische Volk ist frei! Ben Ali ist weg!“

Tag und Nacht hingen wir vor den Nachrichten. Zusätzlich zu den Meldungen aus Tunesien und Libyen galt es ja noch die Entwicklungen am ägyptischen Tahrirplatz zu verfolgen. Und am 11. Februar 2011 trat Mubarak zurück! Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Besonders an die Reaktion meiner Mutter, die zum Fenster stürzte, es fest verschloss, und dann auch noch die Zimmertür, hinter der die Straße lag. Dann ließ sie mehrere Freudenträller los und machte buchstäblich Luftsprünge, so sehr freute sie sich. Ja, meine Mutter, die es gewöhnlich nie zeigte, wenn sie ergriffen war, sah mich nun mit Tränen in den Augen an.

„Brot, Freiheit, Menschenwürde!“, oder auch: „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“. Mächtig erhoben sich die Sprechchöre über den Tahrirplatz und irgendwie schien sich alles um Würde zu drehen. Dabei war mir, als junge syrische Frau, das Wort „Würde“ vor den Revolutionen noch nicht oft untergekommen.

Ich denke zurück an unsere Kindheit, in der es von pompösen Slogans nur so wimmelte. In den Schulen mussten wir sie immer nachsprechen. Ich rufe mir einen nach dem anderen ins Gedächtnis. Kam da nicht irgendwo auch das Wort „Würde“ vor? Fehlanzeige. Das syrische Regime sah wohl keine Notwendigkeit, die Menschen auf ein Konzept wie „Würde“ einzustimmen. „Würde“ lag wohl, seiner Meinung nach, jenseits der Bedürfnisse der Syrerinnen und Syrer.

„Wir lieben dich nicht“

Ich kann mich noch gut an die lange Mauer erinnern, die den Vorhof der Bezirksverwaltung meiner Stadt Moadhamiya umfasste. Parolen der Baath-Partei überzogen die komplette Mauer. Solche Sprüche waren in diesem Syrien, das nicht unseres war, ein Merkmal des öffentlichen Raumes. Slogans von „Einigkeit“, „Freiheit“, „Sozialismus“ und der „ewigen Nation“ geziert von Portraits, selbstverständlich von Hafez, Bassel und Baschar al-Assad, die ihre Blicke hinter Sonnenbrillen vor dem gemeinen Volk verbargen. Genau diese Mauer war es, an der wir uns im Jahr 2011 kreativ austobten. Mit Spraydosen gewappnet gestalteten wir die Portraits zu Witzfiguren um. Dabei spielten wir ein lustiges Spiel mit der Staatssicherheit: Sie pinselten ihre Loyalitätsbekundungen zu Baschar al-Assad an die Mauer, unter anderem ihr berühmtes „Wir lieben dich“, gerne verwendet in der Kampagne zur „Erneuerung der Staatstreue“ vom Jahr 2008, und dann kamen wir und sprühten ein müheloses „nicht“ dahinter.

„Wir lieben dich nicht“, „Hau ab!“, „Das Volk will den Sturz des Regimes“ und vieles mehr.

Wenn wir sprühen gingen, verließen mein Bruder Obaida und ich das Haus im Morgengrauen gegen vier Uhr. Wir hatten uns viele Spraydosen gekauft und uns allein schon durch das Kaufen und Lagern strafbar gemacht. Der Morgenwind wehte uns ins Gesicht, als wir kichernd von Gasse zu Gasse rannten, durch die menschenleere Stadt. So machten wir das ein paar Mal, und jedes Mal war ich der glücklichste Mensch auf Erden. Seit dem Tod meines Bruders im Jahr 2013 habe ich immer einen Kloß im Hals, wenn ich mich an all die schönen gemeinsamen Erlebnisse vor und nach 2011 zurückerinnere. Es fällt mir nicht leicht. Obaida war mein größter Unterstützer. Ohne ihn hätte ich es nie geschafft, mich an unseren Eltern vorbei zu mogeln. Seit 2011 und 2012 bekamen wir uns ständig mit ihnen in die Haare. Sie hatten große Angst, meine Geschwister, aber vor allem ich, könnten uns an irgendetwas im Zusammenhang mit der Revolution beteiligen. Obaida half mir, mich aus dem Haus zu schleichen und gemeinsam unternahmen wir viel. Er half mir, mich durchzusetzen, gegen unsere Eltern, unsere Verwandten, gegen das Umfeld und die Gesellschaft in der wir lebten.

Der zehnte Jahrestag der Revolution: Wie sollen wir akzeptieren, dass zehn Jahre nach all dem vergangen sind, ohne Herz und Verstand zu verlieren?

Jedes Jahr ist der Jahrestag der Revolution der Zeitpunkt, alles Revue passieren zu lassen. Deshalb war ich auch erstmal guter Dinge, als ich mich entschieden hatte, diesen Text zu schreiben. Doch je näher der Jahrestag rückte, desto klarer wurde mir, wie schwierig es werden würde. Ich machte die Textdatei auf und starrte auf die weiße Fläche. Zwei, drei Tage lang. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte, und mehr als das, gab es scheinbar auch nicht zu sagen. Nur Fragen, die mir durch den Kopf schossen. Zuallererst: Ist es überhaupt okay, anderen durch mein Erzählen so viel Schmerz und Entmutigung zuzumuten? Ich bin mir ja selbst nicht einmal sicher, wie ich mich fühle. Meine Laune schlägt ständig um. Oft fühle ich, dass wir schlichtweg versagt haben. Jeden März kann ich förmlich spüren, wie mir ein Stück meines Herzens verloren geht. Aber, wie mein Freund der Aktivist Raed Fares immer sagte, „Revolution ist eine Idee, und Ideen sterben nie“. Wie wünschte ich, Raed wäre heute hier. Dann würde ich zurück fragen: Und was ist, wenn man zu gelähmt sind, um überhaupt denken zu können? Was ist, wenn man an einem Punkt feststeckt, während die Welt um einen herum sich ungerührt weiterdreht? Was, wenn es nur wir sind, die in einem Paralleluniversum leben? Aber dann sage ich mir wieder: Wenn es eine Sache gibt, die sicher ist, dann die: Die Revolution, die uns als Individuen verändert, wird nie aufhören. Unsere individuelle Veränderung zum Besseren, wenn sie denn stattfindet, ist der erste Erfolg der Revolution.

11. März: Muttertag in Syrien

Muttertag war bei uns zu Hause immer ein Tag voller Trübsal und schmerzlicher Erinnerungen und die traurigen Lieder, die den ganzen Tag über im syrischen Fernsehen ausgestrahlt wurden, verstärkten die Grabesstimmung noch. Vor über vierzig Jahren hat mein Vater seine Mutter bei einem tragischen Autounfall verloren – meine Großmutter Amina. Er war zu klein, um sich an sie zu erinnern, aber jedes Jahr im März saß ich an seiner Seite und hörte seinen Geschichten von meiner Großmutter zu. Sie hatte hart arbeiten müssen, um ihre sieben Kinder durchzubringen. Unter schwersten Bedingungen arbeitete sie Nächte durch und sparte sich jeden Bissen vom Mund ab für ihre Kinder, und das in einer Gesellschaft, die das Ganze noch schwerer machte. Denn mein Großvater hatte in jungen Jahren einen Unfall gehabt, von dem er bleibende Schäden am Rücken davongetragen hatte. Seinem eigentlichen Beruf, nämlich Landwirt, konnte er nicht mehr nachgehen. Die Gesellschaft lehnte es ab, dass meine Großmutter „Männerarbeit“ verrichtete, so nannten sie das damals, da sie größtenteils draußen stattfand. Sie musste sich gegen ihre Eltern durchsetzen und gegen all das Geläster hinter ihrem Rücken, das nie abriss und ihre Situation immer schwieriger machte. In unserem Wohnzimmer hängt ein großes Portraitfoto meiner Oma, dieser starken Frau, die ich nie getroffen habe und die jeden März wie ein Gestirn ihre Kreise um uns zieht. Ich freue mich immer riesig, wenn mein Vater mich mit ihr vergleicht. Manchmal denke ich, es ist besser so, dass sie nicht bei uns ist. So musste sie immerhin die Verhaftungen meines Vaters, meiner zwei Onkel und vielen ihrer Enkelkinder nicht miterleben. Meine Oma, von der erzählt wird, dass der Verlust ihrer Liebsten das Einzige war, was imstande gewesen wäre, sie zu brechen.

Allgemein gesprochen fand ich den Muttertag schon immer ein deprimierendes, kommerzielles und nerviges Fest. Wäre das alles gewesen – aber hinzu kam, dass ich jedes Mal am Muttertag an diejenigen aus den besetzten syrischen Golanhöhen denken musste, die in Damaskus studierten. Ihr Muttertag spielte sich folgendermaßen ab: Zu Dutzenden zogen sie los, nach Ayn al-Tinah – dem Dorf auf der syrischen Seite, das genau gegenüber dem Örtchen Madschdal Schams in den besetzten Golanhöhen liegt. Über die Grenze hinweg riefen sie ihren Müttern durch Lautsprecher Segenswünsche zu und winkten ihnen mit Taschentüchern – die wohl tragischste Art, Muttertag zu feiern.

Das Übelste aber rund um den Muttertag in Syrien war die Sache mit dem Gesetzesbeschluss 301 aus dem Jahr 1988. Mit diesem hatte das syrische Regime den Tag offiziell auf das Nowruz-Fest, das kurdische Neujahrsfest gelegt. Davor hatte man in Syrien den Muttertag am 13. April gefeiert. Hafiz al-Assad aber verlegte ihn, in einem von vielen Versuchen kurdische Kultur, Identität und Narrative in Syrien auszulöschen, auf den 21. März vor. Damit lag der Nowruz-Tag zwar auf einem öffentlichen Feiertag, doch die syrischen Sicherheitskräfte nutzten geschickt das Notstandsgesetz aus, um alle Versammlungen zum kurdischen Neujahrsfest mit viel Gewalt aufzulösen. Auch wenn Versammlungen an Feiertagen grundsätzlich erlaubt waren, wurden alle Symbole, die auf Kurdisches hindeuteten, verboten. Dazu sagt meine kurdische Freundin: „So wurde das Nowruz-Fest von einem für uns ganz besonderen Feiertag zu bloßen Familienausflügen mit Grillgelage im Grünen degradiert.“

21. März 2011, Moadhamiya in West-Ghuta

Von den Demonstrationen, die in den anderen Gegenden Syriens stattfanden, hatten wir natürlich schon gehört. Um die Mittagszeit, als wir gerade dabei waren, Mittagessen zu kochen und mit meiner Mutter Muttertag feierten, hörten wir ungewöhnlich lauten Lärm von draußen. Die erste Demo in meiner Stadt. Wir liefen alle aus dem Haus, um zu sehen, was da los war und was wir sahen, verschlug uns den Atem. Allerdings kamen keine fünf Minuten später auch schon die Busse voller Geheimdienstler angefahren, die auf die Demonstrant/innen einschlugen. Es gab viele Festnahmen, ein paar wenige schafften es, zu entkommen. Einer der so Festgenommenen war mein sechzehnjähriger Cousin. Sie hatten ihn bei den Armen gepackt und schleiften ihn über den Boden, während ich weinte und schrie: „Aber er ist doch noch so klein! Lasst ihn los! Er hat nichts getan!“ Meine Mutter packte mich, zerrte mich weg und presste mir die Hand auf den Mund. Die Szene habe ich noch komplett vor Augen. Bis heute erinnere ich mich genau an die Gesichter der zwei Schergen, die auf meinen Cousin einprügelten und ihn festnahmen, und ich werde sie auch nie vergessen. In jenem Moment war das für mich das Erniedrigendste und Grausamste, was ich je erlebt hatte und die schlimmste Grenzüberschreitung, die ich mir vorstellen konnte. Ich konnte ja nicht wissen, was uns noch erwartete, sowohl durch das Regime, als auch die anderen Akteure.

Ein paar Tage später wurde mein Cousin wieder freigelassen. Es war eine unvergleichliche Freude. Ich erinnere mich noch, wie er uns zum ersten Mal nach seiner Freilassung besuchte. Sein Lächeln, sein kahlgeschorener Kopf, wegen der Läuse. Er sagte zu mir: „Schau nur, wie ich ausseh’! Könntest du mir vielleicht gleich ein Makdous-Sandwich machen? Ich mag doch die eingelegten Auberginen meiner Tante so.“

Im Jahr 2012 wurde mein Cousin ein zweites Mal festgenommen. Und auch diesmal kam er ein paar Tage später zurück. Aber als Leiche, deren Gesichtszüge so entstellt waren, dass wir ihn fast nicht wiedererkannten. Manchmal wünschte ich, ich hätte ihn damals nicht gesehen. Wäre es nicht würdevoller für unsere Liebsten, wenn wir nur die schönen und lachenden Bilder von ihnen in Erinnerung behielten? Sogar die hat man uns kaputt gemacht. Wir hätten einfach nur eine nicht-entstellte, nicht-blutige Erinnerung gewollt, ein brauchbares Familienbild.

Erinnerungsstrom

Viele der Erinnerungen meiner dreiundzwanzig ersten Lebensjahre, die ich in Syrien verbracht habe, sind mit Gewalt, Angst und Zögerlichkeit verbunden. Dieses Gefühl, dass vor einer jungen Frau in meinem Alter Dutzende Levels lagen, die sie erst bestehen muss, bevor sie dort hinkann, wo sie hinwill, unter der alles erstickenden Decke der Heimat – dieses Gefühl hat mich nie verlassen. Das mag auch daran liegen, dass ein Großteil meiner vielen Fragen mit Schweigen beantwortet wurden, ich vertröstet oder mir die Antwort verweigert wurde. Als Kind war ich eine richtige Quasselstrippe. Ich hatte Fragen über Fragen, und mit denen löcherte ich meine Mutter den ganzen Tag. Die war davon meistens eher genervt und manchmal platzte ihr der Kragen. Dann sagte sie: „Och, jetzt ist aber auch mal genug! Du willst immer wissen woher das Ei kommt, und dann willst du wissen, woher das Huhn kommt!“

Dabei war die Art, wie bei mir zu Hause mit meiner Fragerei, mit meinem Wissensdurst und überhaupt mit mir umgegangen wurde noch die netteste! Ich hasste die Schule und alles was damit zu tun hatte. Dieses Gefühl habe ich sogar nach Deutschland mitgenommen. Noch heute hasse ich Prüfungen und Unterrichtssituationen. Obwohl es hier natürlich völlig anders zugeht, habe ich immer das Gefühl, ein schweres Gewicht sitzt mir auf der Brust. Dabei ist hier wirklich alles anders. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte, um die Unterschiede aufzuzählen. Vielleicht mit dem Respekt, der uns als Student/innen entgegen gebracht wird? Oder, dass man uns als „Menschen“ behandelt?

Wir brauchten wirklich eine Revolution, weil wir uns gegen die all Jahre und Schichten der Ungerechtigkeit, der Misshandlung und Korruption an jedem Ort in Syrien auflehnen mussten. Die Ungerechtigkeit fing schon in der Schulzeit an – zum Beispiel, wenn über ganze Schulklassen Kollektivstrafen verhängt wurden, weil eine einzige Schülerin etwas falsch gemacht hatte; oder wenn ein Schüler zum kleinen Spitzel ernannt wurde. Aufgabe des Klassensprechers war es, die Namen all der Mitschüler an die Tafel zu schreiben, die er als aufmüpfig einstufte, damit sie bestraft würden. In der fünften Klasse schlug mich meine Klassenlehrerin, weil ich mich nicht an die Frisurenordnung gehalten hatte, die sie allen Schülerinnen auferlegt hatte. In der neunten Klasse demütigte mich meine Englischlehrerin vor der ganzen Klasse und gab mir eine Ohrfeige. Dann schleifte sie mich vor die Direktorin. Das Verbrechen, das ich begangen hatte, war die volle Punktzahl in der Prüfung zu erhalten. Meine Klassenlehrerin bezichtigte mich des Schummelns. Sie befand, die Fragen seien viel zu schwierig gewesen, sodass es schier unmöglich sei, dass jemand die volle Punktzahl erreichen konnte. Die schlimmste Erfahrung jedoch machte ich in der zehnten Klasse mit dem Physiklehrer, der den Großteil seines Unterrichts damit verbrachte, in aggressiver Macho-Manier über seine Ehefrau zu lästern, um uns am Ende Aussagen wie diese an den Kopf zu schmettern: „Ihr seid doch alle Eselinnen, ihr habt doch keine Zukunft! Ach was – das wäre ja jetzt eine Beleidigung für Esel!“  Aber die gemeinste Strafe kam von der Philosophielehrerin, die uns zwang, ihre Lektion hundert Mal aufzuschreiben. Einmal fand ich keinen anderen Weg, um die Strafe herumzukommen, als eine volle Woche von der Schule zu fehlen. Auch die Erdkundelehrerin wurde richtig kreativ, wenn es darum ging, uns zu demütigen. Einmal forderte sie meine Mitschülerin auf, sich hinter die Klassenzimmertür zu stellen, wo auch der Mülleimer stand, weil sie „im Grunde genommen auch Müll sei“, und dann sollte sie auch noch einen Fuß in den vor Dreck überquellenden Eimer zu stellen. Als ich einwandte, dass sie das doch nicht machen könne, zumal meine Freundin ja gar nichts falsch gemacht habe, sondern mich nur nach einem undeutlich geschriebenen Wort an der Tafel gefragt hatte, warf sie uns aus dem Unterricht und ließ uns auf dem zugigen Gang im eisigen Wind stehen, wobei ich mir eine Erkältung holte.

Doch beschränkt sich unser Problem nicht auf irgendwelche individuellen Verhaltensweisen innerhalb des syrischen Lehrkörpers. Seine Wurzeln reichen viele Jahrzehnte zurück, in die patriarchale Grundstruktur einer Gesellschaft, die autoritäres Denken in ihren unterschiedlichen Ausformungen verinnerlicht hat, in der Politik, in familiären und auch in pädagogischen Strukturen.

Nach diesem endlosen Erinnerungsstrom muss ich innerlich fast lachen. Wie haben wir Syrerinnen und Syrer diese Schulzeit in diesen Mini-Geheimdienstkasernen namens Schulen eigentlich überstehen können? Wie konnte das syrische Regime diese allesübergreifende Struktur erschaffen, die unsere Menschlichkeit, unsere Würde und unser Selbstwertgefühl zerstört? Meine Generation hat zwölf Jahre des syrischen Schulsystems, mindestens vier Jahre des syrischen Universitätssystems (auf das ich jetzt aber nicht näher eingehen werde) und zehn Jahre Revolution überlebt. Nur…haben wir wirklich überlebt?

„Verräter ist, wer sein Volk tötet, ist … Mag er sein, wer er will“

Ende März 2011 war das neue Lied „Ya Heif“[1], (dt. „O Schande“) plötzlich in aller Munde. Das Lied erzählte uns von Deraa und den Kindern, die dort den Satz „Jetzt bist du dran, Doktor“[2] an die Mauern ihrer Schule geschrieben hatten, wofür der syrische Geheimdienst sie verhaftete und folterte - ein Vorfall, der das Fass des endlosen Zorns der Syrer/innen, über die Ungerechtigkeit auf allen Ebenen, zum Überlaufen brachte.

Manchmal frage ich mich: Glaubten wir damals wirklich, dass wir „durch die Hand unserer Geschwister“ gestorben sind, wie es in einer Zeile des Liedes heißt? Waren wir denn wirklich irgendwann Geschwister? Und wenn ja, wann, wie, und wo? Haben wir ernsthaft geglaubt, dass wir es schaffen würden, vierzig ganze Jahre, während derer die Assads emsig daran gearbeitet hatten, uns als Volk zu spalten und uns voreinander Angst zu machen, zu überwinden? Womit das Lied allerdings sicherlich recht behalten hat und auch in zehn oder hundert Jahre noch recht behalten wird, ist der Satz: „Verräter ist, wer sein Volk tötet … Mag er sein, wer er will.“ Egal, ob man ihn nun auf das syrische Regime beziehen will, oder auf sonst irgendeine andere Partei in Syrien.

Jahrelang bin ich dem Lied „Ya Heif“ aus dem Weg gegangen, weil es mich an so Vieles erinnert, an das ich lieber nicht erinnert werden will. Jetzt denke ich an das erste Mal zurück, als ich es von einer Freundin geschickt bekam. Das war im April 2011, über Bluetooth. Wir saßen auf den Stufen vor unserem Haus neben den schönen Topfpflanzen meiner Mutter und hörten es uns leise an. Meine Mutter kam gerade mit einer Kanne Kaffee an und als sie begriff, was wir taten, geriet sie in helle Panik. Sie zischte uns an: „Macht sofort diesen Scheiß aus, sonst kommen sie uns noch holen!“ Dann forderte sie mich auf, das Lied umgehend von meinem Handy zu löschen. Wir stritten uns noch eine ganze Weile. Das war wahrscheinlich noch die netteste Auseinandersetzung mit meiner Mutter und meinem Vater. Meine Eltern wollten nicht, dass meine älteren Geschwister sich an irgendwelchen Aktionen im Zusammenhang mit der Revolution beteiligten, geschweige denn ihre jüngste Tochter. In den Jahren 2011 und 2012 herrschte zwischen meiner Mutter und mir ein unerbittlicher Krieg. Egal, was ich machen wollte, immer musste ich mich dafür aus dem Haus stehlen. Ich log in einer Tour. Und meistens kam mir meine Mutter mit meinen unschuldigen Lügen auf die Schliche und sagte: „Du willst wohl, dass ich einen Herzschlag kriege!“

Einmal hatte ich mich verspätet, und meine Mutter rief an. Sie hörte natürlich gleich, dass ich mich auf einer Demo befand. Sofort machte sie sich auf den Weg, um mich schleunigst nach Hause zu holen. Selbstverständlich nahm ich es ihr sehr übel, dass sie mich einfach so von meinen Kampfgenoss/innen wegzerrte und mich vor ihnen anschrie. Aber wenn meine Mutter und ich heute über diese Zeit reden, müssen wir immer ein bisschen lachen, und viel weinen. Weinen, weil wir nicht zusammen sein können und über all unsere Verluste und Enttäuschungen.

Erster Schrei, erster Sprechchor

Oft werde ich nach dem ersten Mal gefragt, als ich auf einer Demo mitschrie. Und obwohl ich es bis jetzt noch nie geschafft habe, die Szene angemessen in Worten zu beschreiben, versuche ich die Frage immer wieder zu beantworten. Es war bei der Demo am „Großartigen Freitag“, dem 22. April 2011, und eigentlich hatte ich gar nicht mitlaufen wollen. Es war die größte Demo, die es bis dahin in meiner Stadt gegeben hatte. Der Strom der Demonstrant/innen kam an unserem Haus vorbei und brach nicht ab, es waren unzählige. Plötzlich erblickte ich inmitten der Menge meinen Bruder. Noch in Schlafanzug und Badeschlappen rannte ich zu ihm hin. Und dann schrie ich Sprechchöre mit ihm, Arm in Arm, und die Tränen rannen über meine Wangen, als wir gemeinsam riefen: „Das syrische Volk lässt sich nicht erniedrigen!“ Ich hüpfte fast vor Freude, doch lief ich an jenem Tag nicht lange mit. Ein paar hundert Meter weiter, kaum waren die Demonstrant/innen über die Kreuzung gelaufen, eröffnete das Militär das Feuer auf sie. Drei Menschen verloren ihr Leben, dutzende wurden verletzt. Eine Moschee wurde zum Feldkrankenhaus umfunktioniert, der Muezzin machte einen Blutspendenaufruf aus dem Minarett. Und Blut war an jenem Tag vieles geflossen; leider nicht nur in Moadhamiya und den anderen Gegenden und Vororten von Damaskus. In allen syrischen Städten gab es Tote und Verletzte! Aber an jenem Tag geschah so Vieles, das wir nie vergessen werden: Die Statue von Basil al-Assad in Deir ez-Zor wurde gestürzt, genauso wie die Statuen von Hafiz al-Assad in Hudschaira, Ariha und al-Shuhayl. Das Niederreißen der Statuen war eine unmissverständliche symbolische Geste, ein Indiz dafür, dass die Angst aus den Herzen der Menschen gewichen war.

Ich glaube nicht, dass dieser Tag je aus meinem Gedächtnis oder dem der Syrer/innen gelöscht werden kann. Wobei ich vermutlich nicht für alle Syrer/innen sprechen kann. Wahrscheinlich aber zumindest für die Mehrheit. Der Rest war damit beschäftigt, den Sieg des Militärs und der Geheimdienste zu feiern, gegen „die universale Verschwörung und die infiltrierten, von Kuweit unterstützten Demonstranten“.

Jener Tag war ein Wendepunkt gewesen. Wir hatten uns raus gewagt und es gab kein Zurück mehr. Von nun an wartete niemand mehr auf Reformen und sinnentleerte Sonntagsreden des Präsidenten über die große Verschwörung und die Terrorbekämpfung.

„Meine Cousine, meine Frau, die Krone auf meinem Haupt“

Im Jahr 2012 ging ein Video durch die sozialen Medien. Es zeigte einen Mann um die vierzig in Aleppo, der, nachdem er von Soldaten der Syrischen Armee verprügelt worden war, über den Boden geschleift wird, während er sie anfleht, ihm doch noch eine Gelegenheit zu geben, sich von seinen Kindern zu verabschieden, bevor sie seinem Leben ein Ende setzen würden. Einer fragt ihn: „Wo sind denn deine Kinder?“. Darauf sagt der Mann: „Zu Hause, bei ihrer Mutter.“ Dann fragt ein anderer: „Und darf ich dann auch deine Frau ficken, während du dich von deinen Kindern verabschiedest?“ Der Mann antwortet: „Gott bewahre, aber sie ist doch mein Ein und Alles! Sie ist meine Cousine, meine Frau, die Krone auf meinem Haupt!“ Die Szene endet damit, dass der Mann getötet und sein Leichnam am Straßenrand zurückgelassen wird.

Nachdem ich es zum ersten Mal gesehen habe, wollte mir das Video jahrelang nicht aus dem Kopf. Es war nicht nur eine von vielen Szenen von Erniedrigung und Zerstörung, die wir in Syrien erleben mussten, die den Verstand übersteigen. Diese Demütigung zeigt ganz speziell die Instrumentalisierung von Familien, und insbesondere weiblicher Familienmitglieder. Indem ihnen sexuelle Nötigung und Vergewaltigung angedroht werden, werden sie als Mittel benutzt, um männliche Familienmitglieder zu provozieren und zu demütigen.

Einmal gab es eine Situation, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Es war Mitte 2011 und geschah meiner Freundin, nachdem wir beide an einer Demo in Moadhamya teilgenommen und die Sicherheitskräfte begonnen hatten, die Demonstrant/innen zu verfolgen. Viele schafften es zu entkommen, ein paar wurden festgenommen. Und in einer engen Sackgasse wurde meine Freundin gemeinsam mit zwei weiteren jungen Frauen eingekesselt. Wie gewöhnlich überschütteten die Sicherheitskräfte die drei mit den schlimmsten Beleidigungen, die man sich vorstellen kann. Schließlich fragte einer der Sicherheitsmänner meine zu Tode verängstigte Freundin, ob sie wohl verheiratet sei, was sie bejahte. Dann fragte er weiter, ob sie denn Kinder habe. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie ihm antwortete: „Zwei Töchter.“ Seine Antwort war: „Soll ich dich als Leichenbündel bei deinen Kleinen abliefern? Oder, was hältst du davon: Ich bring dich schwanger zurück, mit einem Brüderchen für sie?“ Es folgte hämisches Gekicher. Da begannen die drei jungen Frauen, die Männer anzuflehen, sie doch bitte gehen zu lassen, sie hätten auch gar nicht an der Demo teilgenommen, sie seien nur rein zufällig dort gewesen. Darauf verlangte der Offizier nichts Minderes von ihnen, als vor ihm niederzuknien und ihm die Stiefel zu küssen. Im Gegenzug ließ er sie weiterziehen. Während meine Freundin mir von dem Vorfall erzählte, schluchzte sie bitterlich. Danach haben wir nie wieder darüber gesprochen.

Jedes Mal, wenn mein Gedächtnis mich in jene Zeit zurückträgt, muss ich mich sehr wundern über diejenigen, die uns fragen, warum wir denn in Syrien auf die Barrikaden gegangen sind. Meistens kommt dann noch, so schlecht sei die Lage in Syrien doch vor der Revolution gar nicht gewesen! Als würde uns Syrerinnen und Syrern keine andere Option zustehen als eben Assad. Eigentlich genau das, was diejenigen, die sein Regime befürworten immer sagen und an Mauern schreiben: „Assad oder keiner!“

Ausflug in die Olivenhaine von Moadhamiya

Eines Tages Ende Februar 2012, ich hatte mich seit ein paar Tagen nicht gut gefühlt, besuchten mich meine Freundin und ihr Bruder. Sie schlugen vor, doch in ihrem Auto zu den Hainen zu fahren, „ein bisschen rauskommen“, und ich war einverstanden. Um Moadhamiya herum liegen weite Olivenhaine und in den ersten Frühlingstagen sieht es dort immer wunderschön aus. Als wir im Auto saßen, sahen wir eine Gruppe von Menschen im Olivenhain stehen. Es sah so aus, als sei etwas passiert. Wir hielten an und stiegen aus. Da sahen wir zwei Leichen ausgestreckt auf der feuchten Erde liegen. Zwei Männer, Ende dreißig oder Anfang vierzig. Ihre Augen schienen fassungslos in den Himmel zu starren. Bis heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich mich an die Szene erinnere und mich überkommt ein Gefühl, als stürze ich in die Tiefe. Einer der beiden streckte seine Hände in die Luft, an seinen Handgelenken waren ganz deutlich die Spuren von Fesseln zu sehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte man ihn dem „Gespenst“[3] unterzogen, während beim anderen der Abdruck eines Seils um den Hals erkennbar war. Später erfuhren wir, dass die beiden Männer erst eine Zeitlang von den Lidschaan Schaabiya, einer vom Regime unterstützten Bürgerwehr, festgenommen worden waren, diese sie dann zu Tode gefoltert und schließlich dort entsorgt hatte.

Wer die beiden waren, wer ihre Familien waren, wo sie herkamen: keiner kann es sagen. Begraben wurden sie als unbekannte Märtyrer. Noch lange Zeit danach zerbrach ich mir den Kopf darüber, wer die beiden wohl gewesen sind. Die Vorstellung, dass ihre Familien nichts über ihren Verbleib wussten, fand ich unerträglich. Hatten sie eine Freundin? Hatten sie Kinder? Wer auch immer ihnen nahe gestanden hat, wusste nicht, ob sie noch am Leben oder tot waren. Und wir können nicht wissen, ob sie nicht vielleicht noch immer darauf warten, dass sie eines Tages lebend zurückkehren würden. Sie sind einfach verschwunden. Ohne Abschied, ohne letzte Worte, sogar ohne ein Grab, das ihre Angehörigen besuchen können.

Über die letzten zehn Jahre habe ich ihre Gesichter nie vergessen. Ich muss oft an sie denken. Und jedes Mal frage ich mich, wie es wohl ihren Familien ergangen ist. Bei allem, was mir widerfahren ist, bei allen Wendungen, die mein Leben genommen hat, sind sie mir nie aus dem Kopf gegangen.

Dann kamen immer mehr solcher Meldungen. Es gibt Tausende unbekannter Märtyrer/innen in Syrien. Doch wenn man einmal eine/n mit eigenen Augen gesehen hast, die Folterspuren und den starren Blick in den Himmel, dann wird dich das Bild für immer verfolgen und an all die anderen erinnern. An all die Todesopfer, die keine Gerechtigkeit erfahren haben, die weder eine Grabrede, noch einen Grabstein erhalten haben, auf dem man ihren Namen, ihr Geburts- und Todesdatum lesen kann.

Meine Erinnerungen und Geschichten folgen einer verschlungenen Chronologie

Ich mache jetzt einen Zeitsprung, vom Jahr 2012 direkt in den Februar 2021 nach Deutschland, in die Stadt Koblenz, ans Ufer des Rheins. Dort liegt das Oberlandesgericht Koblenz, und vor diesem standen wir seit den frühen Morgenstunden und warteten, endlich an die Reihe zu kommen und in den Gerichtssaal zu dürfen: Zur Urteilsverkündung des Eyad A., dem Leiter der für ihre besondere Grausamkeit berüchtigten ‚Abteilung 251‘. Er ist das erste der zwei Geheimdienstmitglieder, deren Schuldhaftigkeit im Zuge des al-Khatib-Prozesses ermittelt werden sollte.

Während wir um sechs Uhr morgens vor dem Gericht warteten, kreiste unser Gespräch um Dinge wie die schlechte Wirtschaftslage in Syrien, und welchen Gerechtigkeitsbegriff man eigentlich in Syrien hegt. Wir sprachen auch über Ägypten, über die Revolution und die Doppeldeutigkeit des Wortes „’Aisch“: Brot und Leben. Mir fiel ein Roman von Aziz Nesin ein, „Yahiya existiert, aber er lebt nicht“[4], den ich als Jugendliche gleich mehrmals gelesen hatte und der mich ins Grübeln gebracht hatte: Existierten die Syrerinnen und Syrer eigentlich bloß, oder lebten sie auch?

Im Gerichtssaal ließ ich meinen Blick herum wandern. Ich sah einige vertraute Gesichter. Dann fixierte ich die Wand hinter den Plätzen der Richterin und der Beisitzer/innen. Dort stapelten sich hunderte bunte, nach Farben geordnete Akten. Ich war nervös, versuchte meine Nervosität aber vor den Anderen zu verbergen. Zahllose Fragen schossen mir durch den Kopf. Was ist Gerechtigkeit? War das ein Schritt in Richtung Gerechtigkeit? Und was für eine Gerechtigkeit wollen wir? Sollte es mich optimistisch stimmen, dass das jetzt geschah? Oder sollte ich eher furchtbar deprimiert sein, weil es zehn Jahre ununterbrochener Verstöße gebraucht hatte, bis wir bei diesem bescheidenen Schritt angelangt waren, wo ein einziges Geheimdienstmitglied des immensen Sicherheitsapparats in Syrien zur Rechenschaft gezogen wird? Da fiel es mir wieder ein. Tatsächlich: zehn Jahre waren seit Beginn der syrischen Revolution vergangen! Kalte Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich hatte genug von meinem Mundschutz und den Plexiglaswänden, die die Zuschauer/innen voneinander trennten. Mich überkam eine unbändige Lust, zu weinen. Oder jemanden zu umarmen.

Und wie wir so im Gerichtssaal saßen, dachte ich an die Verbrecher, die in einer anderen Welt ununterbrochen weiter ihrem teuflischen Werk nachgingen, in jener Parallelwelt, in der die Syrerinnen und Syrer leben. Wie lange noch, das weiß kein Mensch.

Die Richterin trat ein. Wir alle standen auf. Kurz und knapp verkündete sie das Urteil: Viereinhalb Jahre Haft. Dann setzte sie sich und las die umfangreichen Informationen vor, die das Urteil begründen sollten: Sie sprach detailliert davon, wie die Proteste niedergeschlagen wurden, von Festnahmen und Folter von Demonstrant/innen, wie Städte gestürmt und Strom und Internet gekappt wurden, kurzum, von all den Verbrechen des Assad-Regimes. Sie nannte die Namen syrischer Städte wie Douma und Daraa, und jedes Mal, wenn der Name einer syrischen Stadt fiel, setzte mein Herz einen Schlag aus. Drei Stunden am Stück las die Richterin die Verbrechen des syrischen Regimes vor. Die schiere Menge der Einzelheiten erschöpfte mich. Was sie da las, waren Dinge, die mich fast nie losließen, auch wenn ich täglich vor ihnen floh. Die Diskussionen zwischen Syrer/innen über den Koblenz-Prozess im Hinterkopf, dachte ich mir: Egal was wir als Einzelne für eine Meinung dazu haben mögen – schon allein angesichts der Tatsache, dass man nun all das an diesem Ort mit eigenen Ohren hören kann, muss man doch eigentlich das Gefühl haben, dass hier gerade ein kleiner Erfolg verzeichnet wird, selbst wenn es nur ein klitzekleiner Schritt vorwärts ist.

Die ganze Zeit über während dieser Morgenstunden schwebte mir das Bild jener zwei unbekannten Märtyrer vor Augen. Wollte es mir vielleicht etwas sagen? Warum musste ich jetzt an diese längst verstorbenen Menschen denken, die ich zudem nicht einmal kannte? War es Verantwortungsbewusstsein? War es das Überlebensschuld-Syndrom? Oder PTSD? Oder vielleicht alles zusammen?

Was ist gerecht? Und was ist ungerecht?

Zurzeit wird viel über Gerechtigkeit gesprochen und die Frage, was sie bedeutet. Dabei waren wir mitnichten daran gewöhnt, uns über Gerechtigkeit viele Gedanken zu machen. Ich zum Beispiel hatte vor Koblenz noch nie einer Gerichtsverhandlung beigewohnt, und ich wüsste noch nicht einmal, wie ein Gerichtssaal in Syrien aussieht. Anders als mein Vater, aber all seine Versuche, Gerechtigkeit zu bekommen, endeten nach 25 Jahren vergeblich. In Kurzfassung: Mein Vater hatte jahrelang dafür gespart, ein Grundstück zu kaufen, auf dem er unser Haus bauen wollte. Am Ende urteilte das Gericht, nach einem Täuschungsmanöver des ehemaligen Grundstückinhabers, dass das Gebäude zwar uns gehöre, das Grundstück aber nicht. Das ging an seinen ehemaligen Besitzer zurück, der den Preis für das Grundstück bekommen hatte, das aber schließlich mithilfe von einschlägigen Beziehungen, Schmiergeldern und gefälschten Papieren wieder in seinen Besitz zurückging. Nun ja. Immerhin hatten wir einen Ort, wo wir wohnen konnten. Einen Ort, den wir unser Haus nennen konnten, wenn uns auch das Grundstück, auf dem dieses stand, faktisch nicht mehr gehörte.

Viele Syrer/innen werden geboren, leben und sterben, ohne sich je den Traum erfüllen zu können, ein eigenes Haus zu haben, was für ein Haus auch immer, in dem sie ein würdiges Leben leben können. Manch einer hat ja nicht einmal genug, sich ein Grab zu leisten, das ihn am Ende umhüllt. Der Witz ist, dass mein Vater zwei Jahre vor der Revolution, als wir noch nicht einmal ein Haus hatten, ein Grab auf einem neu angelegten Friedhof gekauft hatte. Das war im Umkreis von Someriya, beim Militärflughafen in Mezzeh.

Je mehr Verstöße und Angriffe des Regimes in Moadhamiya stattfanden, umso mehr schossen die Zahlen der Todesopfer in die Höhe. Gleichzeitig wurde es aus Sicherheitsgründen immer weniger möglich, jene Gegend zu erreichen. So kam es, dass eine Fläche, die zwischen den Olivenhainen von Moadhamiya lag, zum Friedhof umfunktioniert wurde. Man nannte ihn den „Märtyrerfriedhof“. Mein Bruder Obaida war einer der jungen Freiwilligen, die eine dort einfache Struktur bauten und das Gelände vorbereiteten, um die Opfer des Bombardements und der Scharfschützen darauf zu beerdigen. Auch dieser Friedhof wurde bald zur Zielscheibe der „Chemie-Division“[5] der Syrischen Streitkräfte, die ihren Sitz ebenfalls bei den Hainen von Moadhamiya hat. Zweimal wurde mein Bruder angeschossen, während er gerade jemanden beerdigte. Ich starb jedes Mal tausend Tode, und oft fragte ich ihn: „Sag mal, wie wirst du überhaupt damit fertig? Ist das nicht total belastend für dich?“

Darauf sagte er dann immer:

„Das ist doch das Mindeste was man tun kann, für all die Leute, die ihr Leben lassen: einen Ort finden, wo sie wenigstens angemessen begraben werden können. Vielleicht schaffen wir ja es in diesem Leben nicht mehr, an unser Recht auf ein würdiges Leben zu kommen. Dann sollen wir wenigstens in Würde sterben.“

Obaida beerdigte fünf der Kinder meines Onkels väterlicherseits, nachdem wir sie einen nach dem anderen verloren hatten, und den Sohn meines Onkels mütterlicherseits. An dem Tag, als wir von meinem Cousin Abschied nahmen, stand ich in einer Ecke des Feldlazaretts und filmte meinen Vater, wie er den anderen bei der Totenfeier vorbetete. Obaida sieht man in der Reihe hinter ihm stehen. Heute, in Berlin, sehe ich mir das Video an und kann einfach nicht glauben, dass das wirklich passiert sein soll. Auf dem Video sieht man meinen Cousin im weißen Leichentuch, inmitten der fahlen Beleuchtung des Feldlazaretts, das eigentlich ein Keller war.  Spärliches Tageslicht fällt in den Raum und verleiht der Szene noch mehr Schmerz. Wenn ich mir heute die Aufnahmen ansehe, kommt es mir vor wie ein Spielfilm, dessen Darsteller ich nicht kenne, und der an einem Ort spielt, an dem ich noch nie war.

Am 29. August 2013 wurden mein Bruder Obaida, seine Frau Mariam und ihr sechsjähriger Sohn Ahmad im Bombardement der Vierten Division auf die Stadt Moadhamiya getötet. Obaida, Mariam und Ahmad bekamen drei Gräber, nebeneinander und neben meinen Cousins und den vielen anderen, die wir verloren haben. Es waren dieselben Gräber, die Obaida für die Märtyrer/innen der anderen Familien ausgehoben hatte.

Ich habe ihre Gräber kein einziges Mal besucht, und das schmerzt mich sehr. Während der letzten Wochen, die ich in Moadhamiya verbracht habe, war der Friedhof immer wieder bombardiert worden. Meine Familie geht ab und zu hin. Sie pflanzen Blumen auf die Gräber, pflegen sie und schicken mir hin und wieder ein Foto, damit ich wenigstens davon träumen kann, eines Tages auch am Grab meines Bruders zu stehen. Ich hätte ihm so viel zu erzählen. Ich habe oft darüber nachgedacht, was ich Obaida und Mariam und Ahmad alles sagen würde, sollte ich ihr Grab einmal besuchen können. Immer wieder habe ich die Sätze in meinem Kopf aufgesagt. Eines Tages will ich dort sein.

Manchmal grüble ich und sage mir, dass wir immerhin ein Grab haben, das wir besuchen können. Dann muss ich immer an die gute Maryam al-Hallaq denken. Maryam, diese großartige Aktivistin, die Mutter des Märtyrers und Arztes Ayham Ghazoul, der in einem der Verließe des syrischen Regimes unter Folter gestorben ist. Seine Familie hat nur einen Totenschein erhalten. Maryam kämpft seit vielen Jahren für „ein Grab, das man besuchen kann“.

Und wohin jetzt?

Vor zwei Tagen las ich ein Zitat der seit 2013 vom „Dscheisch al-Islam“ verschleppten Aktivistin und Rechtsanwältin Razan Zaitouneh. Ich versuche einmal, es hier zusammenzufassen: „Das schönste an meinen Freunden ist die Tatsache, dass sie nie aufhören, über sich selbst und andere zu staunen. Und dass sie die Freiheit zelebrieren, die es noch immer zu verwirklichen gilt.“ Die Freiheit liegt für Syrien noch immer in der Zukunft, für die politischen Häftlinge und alle Syrerinnen und Syrer.

Nach allem, was passiert ist, müssen wir uns eingestehen, dass wir gebrochen, alleingelassen und müde sind. Zehn Jahre sind vergangen. Zehn Jahre, die uns zermürbt und restlos erschöpft haben. Aber die Freiheit aufzubauen bleibt das Ziel, in all ihren Formen und mit all ihren Gesichtern.


Autorin: Ameenah A. Sawwan ist eine syrische Aktivistin, die seit 2016 in Berlin lebt. Sie hat Erfahrung in Advocacy und Campaigning, Kommunikation und Medien und hat die letzten acht Jahre für verschiedene NGOs und Medien zu Syrien gearbeitet. Ameenah A. Sawwan ist ebenfalls Mitglied des Syrian Women’s Political Movement. Derzeit arbeitet sie für die Menschenrechts- und Advocacy-Gruppe The Syria Campaign und leitet deren Arbeit zu Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht in Syrien.

Übersetzung aus dem Arabischen und Kuration: Sandra Hetzl (*1980 in München) übersetzt literarische Texte aus dem Arabischen, u.a. von Rasha Abbas, Mohammad Al Attar, Kadhem Khanjar, Bushra al-Maktari, Aref Hamza, Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Raif Badawi, und manchmal schreibt sie auch. Sie hat einen Master in Visual Culture Studies von der Universität der Künste in Berlin, ist Gründerin des Literaturkollektivs 10/11 für zeitgenössische arabische Literatur und des Mini-Literaturfestivals Downtown Spandau Medina.


Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie „Blick zurück nach vorn“ . Anlässlich von zehn Jahren Revolution in Nordafrika und Westasien schildern die Autor/innen dabei aus verschiedensten Kontexten, was sie hoffen, wovon sie träumen, was sie sich fragen und woran sie zweifeln. In ihren literarischen Essays wird deutlich, wie wichtig die persönlichen Auseinandersetzungen sind, um politische Alternativen zu entwickeln, und was jenseits der großen Ziele erreicht wurde.

Mit dem anhaltenden Kampf gegen autoritäre Regime, für Menschenwürde und politische Reformen beschäftigen wir uns darüber hinaus in multimedialen Projekten: In unserer digitalen scroll-story „Aufgeben hat keine Zukunft“ stellen wir drei Aktivist/innen aus Ägypten, Tunesien und Syrien vor, die zeigen, dass die Revolutionen weitergehen.

 

[1]

Das Lied „Ya Heif“ von Samih Choukaer gilt als eines der ersten und sicherlich als das bekannteste Lied der syrischen Revolution. Das Lied: https://www.youtube.com/watch?v=lQ3N2KucjIY

 

[2]

Der Satz „Idschak ed-Door ya Doctoor“, auf Deutsch „Jetzt bist du dran, Doktor“, reimt sich im arabischen und es war ein vielverwendeter Sprechchor auf vielen Protesten in Syrien.
Mit „Doktor“ ist der syrische Diktator Baschar al-Assad gemeint, der vor seinem Amt Augenarzt war, und nun „auch dran sei“, nach Ben Ali und Mubarak.

[3]

Das „Gespenst“ ist eine bei den syrischen Sicherheitsbehörden weitverbreitete Foltermethode, bei der man an den Händen aufgehängt wird.

[4]

Ein weiteres Wortspiel mit dem Wort ‘Aisch (leben) da der Name „Yahiya“ „er lebt“ bedeutet.

[5]           Die „Chemie-Division“ ist eigentlich die Vierte Division von Bashars Bruder Maher al-Assad, eine Eliteeinheit der syrischen Streitkräfte. Von Aktivist/innen wird sie als Chemie-Division bezeichnet, weil sie für den Chemiewaffen-Angriff im August 2013 verantwortlich war.