Wohlstand ohne Wachstum

Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

5. April 2011
Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
»Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer nützlich und richtig ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoll ist, unter Verzichtsleistung auf diesen ›Fortschritt‹ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen«, so Ludwig Erhard 1957 in Wohlstand für alle.

Noch ungeachtet der ökologischen Krise, hat Ludwig Erhard mit großer Weitsicht erkannt, dass ein stetiger Zuwachs unserer Einkommen, der volkswirtschaftlichen Leistungen, unserer materiellen Besitztümer, aber auch die allgemeine Arbeitsproduktivität, die gesellschaftliche Mobilität, der individuelle Nutzen an Grenzen stoßen wird. Trotzdem bleibt Wachstum die zentrale Kategorie der ökonomischen Theorie und der Wirtschaftspolitik. Den Weg aus der Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Politik in Deutschland und auch anderswo mit »Wachstumsbeschleunigungsgesetzen « gegangen. Tatsächlich feiert die deutsche Wirtschaft im Januar 2011 die größten Wachstumsraten seit der Wiedervereinigung.

Dennoch: Der Zweifel, das Unbehagen und die Kritik am Wachstumsfetisch sind in den öffentlichen Diskurs und auf die politische Agenda zurückgekehrt – nicht nur in Deutschland und Europa. Und das mit gutem Grund: Die Klima- und Finanzkrise, die Zerstörung der Ökosysteme und die zunehmende soziale Spaltung haben das Nachdenken über den Wachstumszwang unserer kapitalistischen Marktordnung vorangetrieben.

Theoretische Ansätze zu einer Postwachstumsökonomie oder zu einer Steady-State-Ökonomie, die ihre Ursprünge bereits in den 1970er- Jahren haben, werden wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Es ist der grundsätzliche Wunsch, Wege aus dem Wachstumszwang zu finden, weil allmählich klarer wird, dass grünes beziehungsweise qualitatives Wachstum alleine nicht ausreicht, das ökologische Gleichgewicht des Planeten und die global fairere Verteilung der Ressourcen sicherzustellen. Es regen sich überall Zweifel, ob sich Produktionszunahmen und Ressourcenverbrauch tatsächlich entkoppeln ließen. Wachstumsgrenzen sind im öffentlichen Bewusstsein erstaunlich präsent. Die Notwendigkeit zu entschleunigen und zu entrümpeln gewinnt an Attraktivität. Davon zeugt der Zulauf zu öffentlichen Debatten und die Verkaufszahlen von Publikationen, die Elemente einer Postwachstumsgesellschaft skizzieren. Und überall auf der Welt nehmen sozial-ökologische Experimente wieder zu, die die Region, das Lokale, den Gemeinschaftssinn und die Gemeinschaftsgüter wiederentdecken – für die weniger genug ist, auch wenn sie bislang in der Nische bleiben.

Mit seinem Buch Wohlstand ohne Wachstum trifft Tim Jackson ins Mark dieser theoretischen und praktischen Suchprozesse. Systematisch analysiert er die Zusammenhänge, wie das stetige Streben nach Wachstum von der Politik, den bestehenden gesellschaftlichen Infrastrukturen, den Wirtschaftsunternehmen, aber auch den Konsumentinnen und Konsumenten forciert wird. Er spricht vom Labyrinth der Schulden, vom Mythos der Entkopplung und vom stahlharten Gehäuse des Konsumismus.

Tim Jackson weiß, dass es für die Politik heikel ist, die Wachstumsfrage zu thematisieren, weil sie an den Grundfesten unserer modernen Gesellschaften rührt und weil so vieles in unserer Gesellschaft vom wirtschaftlichen Wachstum abhängt: der Arbeitsplatz, die sozialen Sicherungssysteme, der Staatshaushalt, die Umverteilung generell, die Wettbewerbsfähigkeit … Kaum ein Politiker wagt es deshalb, von Verzicht oder gar Schrumpfung zu reden. In jeder Krise ist der Ruf nach höheren Wachstumsraten auch weiterhin das Allheilmittel, trotz Klima- und Ressourcenkrise. Das weiß auch Tim Jackson, und er zeigt deshalb eine Reihe konkreter Schritte und eine große Palette an politischen Maßnahmen auf, wie Teufelskreise durchbrochen und zukunftsfähige Entscheidungen gefällt werden können. Dennoch argumentiert er nicht pauschal gegen jede Art von Wirtschaftswachstum, sondern stellt vielmehr differenziert die Frage: Was darf weiter wachsen, was muss vielleicht sogar noch gehörig wachsen (Stichwort: »Erneuerbare Energien«) – und was muss ungemein schrumpfen, um ein gedeihliches Zusammenleben auf der Erde sichern zu können.

Mit der deutschen Fassung von Tim Jacksons Buch hoffen wir, die öffentliche und politische Diskussion um Wege aus der Wachstumsfalle hierzulande verbreitern zu können. Das Buch ist ein Meilenstein auf dem
Weg zur ökologischen und sozialen Transformation unserer Industriestaaten. Dieses wissenschaftlich fundierte und faktenreiche Buch ist hoffentlich auch ein Impulsgeber für alle Mitglieder der Enquete-Kommission
des Deutschen Bundestags »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität«, die ihre Arbeit jüngst aufgenommen hat.

Die Heinrich-Böll-Stiftung stärkt weltweit die gesellschaftlichen und politischen Akteure für die notwendige Transformation. Der Green New Deal ist dabei eine wesentliche Perspektive. Er bedeutet zum Beispiel: scharfe Grenzen für Emissionen und klare Regeln für die internationalen Finanzmärkte. Wir brauchen darüberhinaus soziale und ökologische Innovationen; ihre Pionierinnen und Pioniere unterstützen wir. Wir fördern alternative Denkansätze und Experimente überall auf der Welt, weil wir vielfältige, lokale und globale Antworten auf die Krisen dieser Welt brauchen. Tim Jacksons Buch ist eine davon.

Barbara Unmüßig

Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie hat zahlreiche Zeitschriften- und Buchbeiträge zu Fragen der internationalen Finanz- und Handelsbeziehungen, der internationalen Umweltpolitik und der Geschlechterpolitik veröffentlicht. 

Buch

Wohlstand ohne Wachstum: Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt

Der britische Ökonom Tim Jackson skizziert in seinem Buch die Vision einer Postwachstumsökonomie, in der die Quellen für Wohlergehen und bleibenden Wohlstand erneuert und gestärkt werden.