Quo Vadis EU III: Europa an den Grenzen – Grenzen der EU

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Das Ende der bisherigen Erweiterungspolitik

29. April 2008
Von Thorsten Arndt

» Dokumentation in Englisch

Von Thorsten Arndt

Nachbarschaftspolitik konnte in der EU lange Zeit mit Erweiterungspolitik gleichgesetzt werden. Die Mitgliedstaaten führten angrenzende Länder in mehreren Erweiterungsrunden politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich an den "Kern" der Union heran und nahmen sie dann als Vollmitglieder in ihren Kreis auf. Die Erweiterung ging dabei wie selbstverständlich mit einer fortschreitenden Integration der Union einher.

Georg Vobruba, Professor für Soziologie an der Universität Leipzig, charakterisierte diesen Prozess in seinen einleitenden Anmerkungen als selbstverstärkende Dynamik: Das vorherrschende Interesse an der Sicherung des Wohlstandes und der politischen Stabilität habe die neuen Mitgliedsländer immer wieder veranlasst, sich für die Annäherung und künftige Mitgliedschaft der neu entstandenen EU-Nachbarn einzusetzen.

Diesen vertrauten Erweiterungsautomatismus gibt es heute nicht mehr. Die Öffentlichkeit in den meisten EU-Ländern steht neuen Beitrittsrunden nicht nur im Fall der Türkei äußerst skeptisch gegenüber. Ein beträchtlicher Teil der politischen Elite Europas fürchtet, dass weitere Mitglieder die inneren Differenzen in der EU verschärfen und politische Blockaden auslösen werden. Die EU-Kommission reagierte 2004 und legte das ENP-Strategiepapier vor.

Mängel der Europäischen Nachbarschaftspolitik

Die Idee von einer "Festung Europa" hatte immer ihre Kritiker. Angesichts des grenzüberschreitenden Charakters moderner Krisen ist sie endgültig unhaltbar geworden. Die "Expansionsdynamik" (Vobruba) der EU soll deshalb mit der ENP unter neuen Vorzeichen fortgesetzt werden. Mit diesem Programm bietet die EU ihren Anrainern in Osteuropa, in der Mittelmeerregion und im Südkaukasus eine engere wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit an.

Trotz zahlreicher Parallelen der neuen Aktionspläne mit den Programmen und Werkzeugen der Erweiterungspolitik gibt es nach Ansicht einiger Referenten zwei entscheidende Unterschiede.

1. Die fehlende Beitrittsperspektive

Länder, die an der ENP teilnehmen, haben keine offizielle Beitrittsperspektive mehr. Rolf Mafael vom Auswärtigen Amt verteidigte das Offenhalten der Erweiterungsfrage und erinnerte daran, dass ein späterer Beitritt nicht ausgeschlossen werde. Georg Vobruba wies dagegen darauf hin, dass dieser Anreiz für viele Nachbarländer zu vage sein könnte. Politische und wirtschaftliche Anpassungsprozesse seien auch in der Vergangenheit immer mit hohen kurzfristigen Kosten und Risiken verbunden gewesen. Ohne sichere Aussicht auf den "Hauptpreis" der Mitgliedschaft würden sich viele Länder fragen, warum sie auf die hohen Anforderungen der EU eingehen sollten.

Igor Zhovka, Mitarbeiter des Vizepremierministers der Ukraine, und Olena Prystayko von der Nationalen Akademie für staatliche Verwaltung beim Präsidenten der Ukraine bestätigten die Einschätzung Vobrubas. Die ENP trägt nach Ansicht Prystaykos nichts zum politischen Wandel in der Ukraine bei. Mit Igor Zhovka plädierte sie aus historischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen für eine klare Beitrittsperspektive für die Ukraine. Eugeniusz Smolar, Präsident des Center for International Relations in Warschau, hielt einen baldigen Beitritt der Ukraine ebenfalls für unproblematisch. Er kündigte an, dass Polen das Thema während der polnischen EU-Ratspräsidentschaft 2011 mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Tagesordnung setzen werde.

2. Ethische Rhetorik ohne Folgen

Auf einen zweiten möglichen Konstruktionsfehler der ENP verwies Elisabeth Schroedter, Mitglied des Europäischen Parlaments. Die neuen Instrumente der ENP legen nach Ansicht Schroedters im Gegensatz zu früherer Praxis einen viel zu geringen Wert auf Menschenrechte, rechtsstaatliche Reformen und demokratische Standards. Die heutige Migrationspolitik der EU, die kaum etwas zur humanitären Lösung der Flüchtlingssituation in den südlichen Ländern des Mittelmeers beitrage, sei auch ein Ergebnis dieser Entscheidung.

Annegret Bendiek von der Stiftung Wissenschaft und Politik machte in ihren Ausführungen auf die Diskrepanz zwischen der Rhetorik und dem tatsächlichen Handeln der EU in ihren Anrainerstaaten aufmerksam. Rechtsstaatliche Normen und Menschenrechte würden insbesondere im Fall von rohstoffreichen Ländern zugunsten energiepolitischer Interessen ignoriert.

Omar Mestiri vom Nationalen Rat für die Freiheiten in Tunesien warf der EU gar vor, repressive Regime durch ihr Handeln zu stützen. In Tunesien konzentriere sich Europa trotz gefälschter Wahlen, der verschärften Unterdrückung moderater politischer Kräfte und zahlreicher Menschenrechtsverletzungen auf den Abschluss von Wirtschaftsabkommen und die Zusammenarbeit mit dem Regime im "Krieg gegen den Terror". Diese verfehlte Strategie habe dazu beigetragen, dass es heute in Tunesien sehr viel mehr "Jihadis" als früher gebe.

Mindeststandard Menschenrechte

Allerdings sind die meisten Konferenzteilnehmer der Ansicht, dass Europa bei der Kooperation mit undemokratischen Regimes durchaus legitime Interessen bezüglich der eigenen Sicherheit und in energiepolitischen Fragen verfolgt. Eine Demokratisierung der Länder im südlichen Mittelmeer oder im Südkaukasus wird sich nach Ansicht von Annegret Bendiek auch mit gut gemeinten EU-Programmen von außen kaum durchsetzen lassen. Das sei aber kein Grund, über Verstöße gegen grundlegende Menschenrechte hinwegzusehen. So könnte die EU z.B. darauf bestehen, dass die Partnerländer der ENP vor einer engeren Kooperation die Genfer Flüchtlingskonvention  unterschreiben. Einige realpolitischen Beschränkungen für ein weitergehendes Engagement auf staatlicher Ebene könnten Elisabeth Schroedter zufolge durch eine erhöhte Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Projekten vor Ort umgangen werden.

Mittelmeerunion vs. Osteuropaunion?

Die während der Tagung vorgestellten Fallbeispiele Ukraine und Tunesien demonstrierten nachdrücklich, dass die EU im Osten und im Süden Europas ganz unterschiedlichen Problemen gegenübersteht. Frankreichs Präsident Sarkozy nahm diese Gegensätze vor wenigen Monaten zum Anlass, die Gründung einer Union für das Mittelmeer (UfM)  vorzuschlagen. Sarkozys Idee, die Beziehungen der sieben Mittelmeerstaaten der EU mit den Staaten des südlichen Mittelmeers (einschließlich der Türkei) auf eine neue Basis zu stellen, wurde von den Tagungsteilnehmern allerdings einhellig kritisiert. Rainder Steenblock von der Bundestagsfraktion der Grünen berichtet von einem Gespräch mit dem französischen Außenminister, der freimütig zugegeben habe, dass Frankreich mit der neuen Initiative eigene wirtschaftliche Ziele verfolge. Jordi Vaquer i Fanes von der Stiftung CIDOB in Barcelona ergänzte, dass der französische Vorschlag unter Mitwirken der euroskeptischen Linken zustande gekommen sei, die sich gegen eine weitere Vertiefung der Union sträubt.

Die Idee einer Osteuropaunion als Gegenstück zu Frankreichs Initiative fand ebenfalls keine Zustimmung. Eine regionale Aufteilung der ENP wurde dagegen von einigen Referenten befürwortet. Im gegenwärtigen Zustand sei das Programm im Osten unzulänglich, da es dem Drängen der Länder auf die EU-Mitgliedschaft nicht nachkomme. Im Süden sei das Programm dagegen weitgehend überflüssig, da dort kaum ein Interesse an der EU-Mitgliedschaft oder an tiefgreifenden politischen Reformen bestehe.
Rolf Mafael vom Auswärtigen Amt und Barbara Lippert vom Institut für Europäische Politik wendeten sich aus zwei Gründen gegen eine Regionalsierung der ENP. Eine Aufspaltung sei zum einen überflüssig, da die ENP länderspezifisch angelegt sei. Die EU sei deshalb zumindest theoretisch in der Lage, auf die konkreten Umstände in den Nachbarländern einzugehen. Zum anderen dürfe nicht übersehen werden, dass die ENP auch eine interne Funktion in der EU erfüllt. Das Programm wirke als wichtige Plattform, auf der die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsländer ausbalanciert werden können.

Alternativen zur EU-Mitgliedschaft

Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma der europäischen Entwicklungsdynamik? Mehrere Referenten bestanden darauf, dass eine künftige Erweiterung der EU auch ohne die Vergabe der vollen Mitgliedschaft möglich sein müsse. Dimitar Bechev, Forschungsstipendiat am European Studies Centre und Dozent für Internationale Beziehungen in Oxford, erläuterte, dass die institutionellen Grenzen der EU bereits heute keineswegs eindeutig definiert seien. Länder wie Norwegen und die Schweiz seien Modellfälle einer erfolgreichen differenzierten Integration ohne den Status einer vollen Mitgliedschaft.

Im Fall der Ukraine schlug Olena Prystayko den Kompromiss einer "Semi-Mitgliedschaft" vor, die auf begrenzten und ganz konkreten Vereinbarungen zwischen der EU und der Ukraine basieren könne, ohne das Ziel der Vollmitgliedschaft auszurufen. Die ENP könnte nach Ansicht von Georg Vobruba eine ganze Palette solch diverser Integrationsmodelle unterhalb der vollen Mitgliedschaft bereit stellen. Alternativ könne der Status der EU-Mitgliedschaft neu definiert werden, um künftige Beitritte zu ermöglichen.

Barbara Lippert sprach sich gegen eine derartige Aufweichung der EU-Mitgliedschaft aus. Die EU sei ein internationaler Rechtskörper, es gebe deshalb eine klare Grenze zwischen den verschiedenen Integrationsformen und einer Vollmitgliedschaft. Die institutionelle Vielfalt der EU sei letztlich eine Übergangsphase, da die volle Mitgliedschaft mit allen Rechten im Kern Europas nach wie vor die attraktivste Option sei.

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