“Peščanik” – Über Serbien und seine wirklichen Verluste

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Die Sendung "Peščanik" ist nur noch über das Internet verfügbar
"Peščanik" (serb. für Sanduhr) ist – und jetzt müssen wir leider sagen: war - zuallererst eine Radiosendung. Zweimal wöchentlich über Radio B92 ausgestrahlt, aber seit 10 Jahren von einem unabhängigen Team zweier Frauen produziert. In der Medienlandschaft vieler Transformationsgesellschaften gibt es das singuläre Phänomen einer Sendung, in der mit der Wahrheit und der öffentlichen Rede anders umgegangen wird, als es sonst in diesen Ländern üblich ist. Alle diese Sendungen haben sich – ob in Moskau, Sofia oder Belgrad – einen Kult-Status erworben und eine "Gemeinde" um sich geschart, die regelmäßig und ungeduldig auf den nächsten Informationsschub wartet. Wenigstens aus dieser einen Quelle sind alle Informationen vertrauenswürdig.

Die Gemeinde der Belgrader Sendung "Peščanik" reicht weit über die Grenzen Serbiens hinaus, in die Nachbarländer und sie umfasst inzwischen mehr als 400.000 regelmäßige Hörer/innen und Besucher/innen der Internetseite. Alleine diese grenzüberschreitende Hörerschaft ist schon ein Beleg für das „Andere“, das "Peščanik" auszeichnet: denn man kann in Serbien nicht die Wahrheit sagen, ohne von Bosnien-Herzegowina oder dem Kosovo zu reden. Und umgekehrt: Wenn in Belgrad auf eine negative Weise von diesen Nachbarländern und der schlimmen gemeinsamen Geschichte geredet wird, die Menschen dort den Worten auf "Peščanik" dennoch gerne zuhören, dann ist das der deutlichste Beleg für die Wahrhaftigkeit dieses Redens.

Wer sich in den vergangenen zehn Jahren in Serbien solcher Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlte, war auf Svetlana Lukić und Svetlana Vuković, die beiden Urheberinnen und Produzentinnen von "Peščanik" angewiesen. Denn nirgends sonst konnte bisher eine Stimme so viel Öffentlichkeit erreichen wie in der Radiosendung dieser beiden Frauen. Und deshalb repräsentiert auch die kleine Schar derer, die regelmäßig in und durch "Peščanik" sprechen, den Kern des kritischen Denkens in Serbien.

In einer Gesellschaft, deren politische Entscheidung immer nur die Wahl zwischen geringeren und größeren Übeln ist, lebt eine Institution wie "Peščanik" von einem seltsamen Paradox: Einerseits der beinahe einzige Ort zu sein, an dem die eigenen kritischen Ansprüche an Politik und öffentliche Rede erfüllt und verkörpert werden (im Marketing würde man das ihr „Alleinstellungsmerkmal“ nennen). Andererseits der Wille ständig zu fordern, dass eben diese Qualität, die bisher ihr Monopol ist, endlich allgemeiner Standard werde.

Solange die Politik verbohrt bleibt und sich gegen die Kritik aus Institutionen wie "Peščanik" durch eher repressive Massnahmen zur Wehr setzt, sind die Fronten klar, das Monopol gesichert und damit auch die breite Zustimmung aus dem kritischen Teil der Gesellschaft. Wenn die Regierenden vom „Neuen Serbien“ sprechen, als sei es längst da, längst „auf dem Weg nach Europa“, als seien alle Probleme und Krisenerscheinungen nur alten Erbschaften geschuldet, an denen man sich mühevoll und in bester Absicht abarbeite, dann ändert sich die Lage auch für "Peščanik".

Wenn Leonard Cohen zum Konzert nach Belgrad kommt, ist die „Belgrade Arena“ schon Monate vorher ausverkauft. Nach dem Konzert verschwinden sich 5000 begeisterte Menschen wieder in den Straßen der Stadt, in ihren Wohnungen und in den Bars. Sie haben mindestens 30 Prozent eines Monatsgehalts für das Ticket ausgegeben, und der Beobachter fragt sich am nächsten Tag, wohin sie alle verschwunden sind. Er fragt sich warum die allgemeine Atmosphäre dieser Stadt immer noch suggeriert, dass es hier alles Mögliche gäbe, nur nicht 5000 Fans von Leonard Cohen. Sie sind wirklich verschwunden, diese Fans, ihre Existenz ist nicht spürbar. Sie tun ihre Jobs, und viele von ihnen denken, dass man mit dieser massiven Kritik der Politik endlich aufhören sollte. Sowieso habe man keine bessere zur Verfügung und die einzige Alternative sei automatisch mit dem Rückfall in anti-europäische Stimmungen verbunden. Die Kritik am Bestehenden werde auch nichts ändern und am Ende nur den Anderen, schlimmeren Vorschub leisten.

In dieser Situation feierte "Peščanik" im vergangenen Sommer seinen 10. Geburtstag. Der ähnelte mehr einem klassischen, wenngleich sehr kultivierten Teach-in als einer rauschenden Party. Auf der Bühne des „Jugoslawischen Drama-Theaters“ in Belgrad saßen vor mehr als 2000 Zuhörer/innen zwölf Mitglieder aus der Schar derer, denen "Peščanik" ihr öffentliches Sprachrohr ist. Sie sprachen von Serbien, von der Politik, der Gesellschaft und davon, dass "Peščanik" nach wie vor unverzichtbar sei. Die Reihe ihrer Statements nahm beinahe die Zeit einer Lohengrin-Aufführung in Anspruch, und das Publikum war nicht weniger gebannt als jenes in Bayreuth.

Eine Anthologie von Auszügen aus diesen verbalen Geburtstags-Gratulationen bietet einen guten Querschnitt durch das, was die kritischen Geister Serbiens derzeit umtreibt. Stellvertretend für die Situation der Politikverdrossenheit und all das oben genannte Paradox betreffend, steht die grundsätzliche Frage der Abgeordneten Vena Pešić: Ob man denn inzwischen in diesem Milieu der Intelligentsia und der Kreativen seine Ansprüche an die Politik schon so weit herunter geschraubt habe, dass man sich mit dem tagtäglich von dort Angebotenen abspeisen lässt. Wer dies tue, so ihre Analyse mitten aus der parlamentarischen Erfahrung, sei einem oberflächlichen Schein von neuer Politik aufgesessen, hinter der die alten Fixierungen unverändert fortbestehen.

"Peščanik" wird nur noch im Internet als Webradio weiter bestehen. Was einmal eine Radiosendung war, die aus dem Äther kam, muss man nun abholen per Knopfdruck und Mausklick. Wie treu die Gemeinde der 400.000 sein wird, wir sich erweisen (müssen).