Umstrittene Spurensuche - Topografien von Diktatur und Gewaltherrschaft in Ost- und Südosteuropa und Deutschland

Steine erinnern an die Namen der Opfer in Bergen-Belsen; Bild: jonmcalister; Quelle: Flickr; Lizenz: CC-BY-SA

23. Januar 2013
Hartmut Schröder
Das 2. Europäische Geschichtsforum, veranstaltet von der Heinrich Böll Stiftung und der Internationalen Gesellschaft Memorial, soll den Austausch über die Erfahrungen in den Erinnerungskulturen der verschiedenen Regionen Europas, vor allem in Ost- und Südosteuropa stärken. Nach der letztjährigen Beschäftigung mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion und Jugoslawien 1941 stand nun der europäische Umgang mit den Orten des Terrors im Mittelpunkt, an denen sich die Gewalt im 20. Jahrhundert prägend manifestiert.

Zum Auftakt stellte Habbo Knoch, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, einige theoretische Überlegungen vor, die sehr differenziert auf die praktischen Probleme hinwiesen, die beim Umgang mit diesen Orten zu bewältigen sind.

Zunächst konstatierte Knoch vor dem Hintergrund eines „Booms der historischen Orte“ in den vergangenen 20 Jahren, einer Konjunktur des Gedächtnisses, eines Aufschwungs von battlefield tourism und heritage industry und eines „global rush to commemorate atrocities“ die Bedeutung des Austauschs zwischen Ost- und Westeuropa über den Umgang mit Orten des Terrors. Während in vielen Ländern Europas neue Museen entstanden, weist der Zustand und die Erschließung der mit Gewalt verbundenen historischen Orte in Europa eine Asymmetrie und Ungleichzeitigkeit von Ost und West auf.

Erinnerungsorte – historische Orte – traumatische Orte

Knoch verwies auf den Begriff der Erinnerungsorte, der „Lieux des mémoire“ nach Pierre Nora, die er als „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“ definierte, die „in die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen eingebunden“ sind, und von denen die konkreten Orte (Denkmäler, Museen etc.) nur eine Untergruppe darstellen. Erinnerungsorte sind per se mehrdeutig und leiten sich nicht eindeutig aus dem konkreten Ort ab. Sie sind mehrfach beschrieben, verändern sich mit der Zeit – durch wechselnde Wahrnehmungen, (Be-) Deutungen oder politische Instrumentalisierung. Gleichzeitig sei bei Orten, an denen es um Gewalt geht, die metaphorische Komponente der Erinnerungsorte problematisch, da sie von konkreten historischen Handlungen ablenke, warnte Knoch. Man müsse sich den Orten konkreter Handlungen zuwenden, um diese dann in ihrem historischen Kontext zu präzisieren. Dies könne gegen eine Beliebigkeit von Deutungen schützen.

Die historischen Orte, also die vielen Orte, an denen sich etwas ereignet hat, müssen erst „entdeckt“ werden, um ins soziale oder politische Gedächtnis einzugehen. An historischen Orten haften nach Aleida Assmann menschliche Schicksale und, so Knoch, Handlungsrelevanz. Zwischen historischen und Erinnerungsorten entspannt sich ein Entwicklungsprozess, der unter anderem durch Auswahl und Gestaltung der Orte bedingt werde. Der Besuch eines (immobilen) historischen Ortes, wobei zwischen primärem Ort (an dem etwa das Leiden der Opfer stattgefunden hat) und dem sekundären, an den mit einem Denkmal oder einer Gedenkstätte  erinnert wird, zu unterscheiden ist, erzeugt einen eigenen Wahrnehmungsmodus und entsprechende Erwartungen, die zu berücksichtigen sind. Bei aller Vergegenwärtigung ist der historische Ort vom Jetzt zu trennen, auch, um einer Überwältigung zu begegnen. Er steht an der Schwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart, als „geheimnisvolles Tor in eine vergangene Welt“.

In Europa ist nach den beiden Weltkriegen eine Landschaft traumatischer Orte (atrocity sites) entstanden. Diese Orte massenhafter Gewalt prägen die europäische Erinnerungslandschaft auch ohne dass sie in einer Karte eingetragen wären. Sie sind stetig im Bewusstsein der Menschen präsent, Teil des negativen Gedächtnisses und damit eine Herausforderung, weil sie eine seit Jahrhunderten tradierte „positive“ Erinnerung umkehren, die sich am eigenen Heldentum orientierte und entsprechende Mythen schuf. Diese Orte sind sperrig, nicht integrierbar und stellen Fragen, die für Gesellschaft, Politik und staatliche Ordnung unbequem sind. Sie haben immer eine zweite Geschichte – die des Umgangs mit den dort geschehenen Verbrechen. Erinnerungsorte, historische Orte und traumatische Orte sind durch den Umgang mit ihnen, ihre Stellung im gesellschaftlichen Bewusstsein miteinander verbunden, nur die wenigsten traumatischen sind auch (zentrale) Erinnerungsorte.

Die Prägung des Ortes

Am Beispiel des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen illustrierte Knoch, was den Umgang mit dem Ort prägen kann. Zunächst erfolgte dort eine symbolische Aufladung, eine mediale Prägung, die bereits 1945 einsetzte. Dann können – bewusst oder unbewusst – Zerstörung, Verfall und Vernachlässigung hinzukommen. In Bergen-Belsen wurden 1945 die Baracken wegen Typhusgefahr niedergebrannt, wodurch die bauliche Substanz des realen Ortes nicht mehr vorhanden ist. Die weitere Gestaltung des Ortes, die nach bestimmten Deutungen und in bestimmter Absicht erfolgt, bedeutet naturgemäß eine entsprechende Prägung – die Gräber und der Park stellen keine unmittelbar sichtbare Verbindung zum realen KZ dar. Darüber hinaus haben Rituale, Veranstaltungen und zivilgesellschaftliche Aktivitäten ihren Einfluss. Konrad Adenauer hatte 1960 vor allem der jüdischen Opfer gedacht. Die Kommentierung durch Ausstellungen und Dokumentationszentren, die in Bergen-Belsen 1966, 1990 und 2007 eingerichtet wurden, prägen dann durch ihre Narrative, die naturgemäß Schwerpunkte setzen und Auslassungen aufweisen, und die ihren Einfluss auf die Auseinandersetzung ausüben. Schließlich entstehen arbeitende Gedenkstätten, denen gleichsam die Verantwortung für den Ort übertragen wird.

Der Umgang mit dem Ort

Den Umgang mit dem traumatischen Ort selbst teilte Knoch in fünf Phasen. Zuerst erfolgt die Erinnerung durch Überlebende, deren Gedenkzeichen den Ort markieren und den traumatischen Ort zum historischen werden lassen. In den 50er Jahren verschwinden aber in Bergen-Belsen viele dieser Zeichen wieder. Damit folgt eine Phase der Profanisierung durch Zerstörung oder ignorierende Gestaltung, wodurch der vorherige Sinn des Ortes gelöscht wird, was in beiden deutschen Staaten über viele Jahre anhielt. Als weitere Phase ist die juristische Auseinandersetzung zu nennen, durch die der historische Ort als Tatort erkennbar wird. Für die Bundesrepublik stehen dabei Majdanek und vor allem Auschwitz im Fokus, allerdings ohne reale Erfahrung des Ortes.

Durch die Spurensuchen der Zivilgesellschaft kehren die historischen Orte wieder zurück. Sie machen auf die Breite der historischen Orte aufmerksam, und Zeitzeugen verleihen den „vergessenen Orten“ Legitimität. Seit den 1990er Jahren erfolgt eine museale Professionalisierung mit besseren Standards, besserer Ausstattung und pädagogischer Begleitung. Gegenwärtig vollzieht sich eine Verdichtung durch die Kommunikation mit anderen Orten. Erinnerungsorte werden nun in politischen Zusammenhängen legitimiert. Die Erfahrungen in Deutschland können für den internationalen Austausch von Bedeutung sein, resümierte Knoch.

Was kann Auseinandersetzung mit Orten des Terrors leisten?

Die Auseinandersetzung mit Orten des Terrors ist Ressource für demokratisches Lernen. Dabei können Rituale unter Begriffen wie Respekt und Würdigung bildende Kraft haben. Zum Zweiten können die Orte (wie bei Mathias Heyl beschrieben) forensisch als Tatort erschlossen werden: Es müssen Dokumente und Spuren gesichert werden, und das, was sie über den konkreten Ort aussagen. Knoch merkte an, dass in der Bundesrepublik deshalb keine bauliche Rekonstruktion unternommen wird, weil gerade durch die Wahrung des Verbliebenen etwas über den konkreten Ort ausgesagt werden soll. Durch die Konkretisierung des historischen Geschehens kann der Ort Ausgangspunkt für kognitives und reflexives historisches Lernen werden. Pure Empathie sei nicht ausreichend – sie muss durch eine Erfassung des historischen Kontexts begleitet werden, verlangte Knoch. Der historische Ort könne den Bezug zur „nahen Tat“ herstellen und sichtbar machen, wie der historische Handlungsort sich zur Lebenswelt jetzt verhält.

Die Beschäftigung mit der Gestaltungs- und Deutungsgeschichte eines Ortes und deren Auswirkungen auf die Identitätsbildung trägt zu einem reflektierenden Besuch des Ortes bei. Gedenkstätten können an historischen Orten einem „Impressionismus“ von Erinnerung entgegentreten und zu einer Prägnanzbildung (Hartwig) beitragen. Traumatische Orte können zudem als Träger einer anamnetischen Kultur (Metz) dazu dienen, eine rituelle Erstarrung zu verhindern – es gelte, immer wieder zu vergegenwärtigen und so moralische Kompetenz zu gewinnen, betonte Knoch. Schließlich müssen traumatische Orte als Manifestation der Entrechtung und Zerstörung von Rechtssystemen thematisiert werden. Dieser zentrale Ansatz schaffe einen wichtigen Referenzrahmen zur Einordnung der Orte in den Handlungskontext, in dem die Verbrechen begangen wurden.

Angesichts einer immer noch fehlenden europäischen Identität und des Umstands, dass weiterhin das Handeln in nationalen Bezugsgrößen dominiere, könne die Dynamik von übernationaler Öffnung einerseits und Betonung nationaler Themen anderseits zu Konflikten führen, so Knoch. Er hält Überlegungen, dass traumatische Orte der Formierung einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft im Wege stehen könnten, entgegen, dass bei der notwendigen Integrierung der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in die nationalen und transnationalen Diskussionen, Deutungen und Identitätssuchen die jeweilige Partikularität, aber auch die Universalität der Geschehnisse berücksichtigt werden müsse. Hier schaffe wiederum die Kategorie von Recht und Entrechtung (und nicht suffering oder violence) den Referenzrahmen.

Darüber hinaus eröffne die Perspektive von Recht / Entrechtung viele Bezüge, um für die Bildungsarbeit zwischen den Ereignissen am historischen Ort und Fragen der Gegenwart zu vermitteln. Mit Hilfe dieser Kategorie könnten die Interaktion von Tätern und Opfern, die Handlungsräume der historischen Orte sehr viel sichtbarer gemacht werden, als durch symbolische Erinnerungsorte oder „exterritoriale atrocity sites“, resümierte Knoch.

Stadtführungen als Anregungen

Als Anregung für die nachfolgenden Diskussionen folgten drei historische Stadtrundgänge durch das Berliner Zentrum zu den Themen „Erinnerungsorte der NS-Herrschaft“, „Jüdisches Leben und Verfolgung - Widerstand und Vernichtung“ und „Diktatur- und Repressionssystem der DDR“. Dabei beeindruckte die große Dichte an historischen Orten, auch unspektakulären und fast leeren, die trotzdem mit einem Zeichen versehen sind, sowie die große Formenvielfalt der Gedenkzeichen und Monumente.

Ein wichtiger Aspekt war der Umgang mit verschiedenen Erinnerungsgenerationen. Wie geht etwa, wenn überhaupt, die Erinnerung der DDR in eine gesamtdeutsche ein oder nicht? Als gestalterischer Versuch hierzu sprang besonders die Plexiglasplatte ins Auge, die im Lustgarten den DDR-Gedenkstein für die kommunistische Widerstandsgruppe Baum überdeckt und nun an jüdischen Widerstand erinnert. Wichtig war auch, dass neben Gedenkorten für Opfer und Täter auch solche für Helfer, für stille Helden zu sehen waren. Die anschließende Diskussion wendete sich dann schnell den Problemen der Erinnerungskultur in den verschiedenen Ländern zu.

Konsens – Kontroverse – Partizipation – Form: Erinnerungskulturen in den Ländern


Natalja Koljagina von Memorial verwies darauf, dass in Russland – anders als in Deutschland, wo es intensive Kontroversen um Gedenkstätten gegeben hat – die meisten Denkmäler der Bevölkerung ohne vorherige Diskussion oder echte gesellschaftliche Beteiligung an den Entscheidungen „aufgenötigt“ werden. Es gebe eine den Behörden nahestehende „Gedenkindustrie“, und durch Entscheidungsprozeduren hätten alternative oder unerwünschte Projekte kaum Aussicht auf Verwirklichung. Es sei die Frage, ob die „Produkte“ bei den Betrachtern Regungen und eine Beziehung zu dem erzeugen, woran erinnert werden soll, und ob sie somit als Gedenkorte gelten können. Zudem werde Gedenkpolitik durch Jubiläen geprägt (2011 das Gedenken an Stolypin, 2012 an den Napoleon-Feldzug 1812, die Befreiung Moskaus von polnischer Besatzung 1612 und an 1150 Jahre russischer Staatlichkeit).

Angesichts des Vorherrschens „klassischer“ Denkmäler sei zumindest ein Teil der Bevölkerung für neue Denkmalformen bereit und würde diese mit Interesse aufnehmen, während ein anderer Teil auf Formen wie in Berlin, etwa des Mahnmals für die ermordeten Roma und Sinti, mit Befremden regieren würde. Koljagina merkte an, dass neue Formen auch den Raum für Veränderungen im Bewusstsein öffnen könnten. Bemerkenswert sei, dass nach den Protesten des vergangenen Jahres das Interesse an der „Rückkehr der Namen“, am Gedenken der individuellen Opfer des Massenterrors jetzt sehr viel größer sei.

Nicolas Moll konstatierte, dass in Bosnien-Herzegowina bei der Erinnerung an den Krieg 1992-95 und zuvor den Zweiten Weltkrieg von einem Konsens, auf dessen Grundlage Kontroversen ausgetragen werden könnten, keine Rede sein könne. Dort bestünden drei ethnisch-national geprägte Erinnerungskulturen, in denen jeweils ein einseitiger, heroisierender bzw. viktimisierender Opferdiskurs vorherrsche. Durch die bestehende Polarisierung sei aktive Erinnerung durch die jeweilige Minderheit kaum möglich. So sei im serbisch dominierten Prijedor eine Erinnerung an die bosnischen und kroatischen Opfer höchst schwierig; in Herzegowina sei umgekehrt die Erinnerung an serbische Opfer kaum möglich. Eine Erinnerung an jene, die über ethnische Grenzen hinweg Hilfe geleistet haben, sei sehr schwierig, da sie jeweils als „Verräter“ wahrgenommen würden.

Festgefahrene Erinnerungslandschaften

Zudem wirke die nationale Mobilisierung der 1980er Jahre nach, die diskursiv stark auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Jugoslawien Bezug nahm (Partisanen, Ustaša etc.). Während des Krieges 1992-95 seien zum Teil Partisanendenkmäler entfernt worden, um anderen Denkmälern Platz zu machen. Gleichzeitig gebe es auch zivilgesellschaftliche Versuche, aus der festgefahrenen Erinnerungslandschaft herauszukommen, etwa in Film und Kunst, doch könne dies noch nicht an den historischen Orten selbst erfolgen, sondern nur virtuell oder an entfernteren Orten. Zunächst sei das Wissen über die Geschehnisse und eine kritische Reflexion von Nöten, erst dann stelle sich die Frage einer Partizipation, so Moll.

Die heroisierende Konzentration auf die Opfer lege die Frage nahe, ob die Lage in Bosnien-Herzegowina nicht mit der Erinnerungskultur in Westeuropa nach dem Ersten Weltkrieg vergleichbar sei, als die Mahnmale implizit einen „Heldentod“ kultivierten. Hierzu meinte Moll, dass es in Bosnien-Herzegowina oft um zivile Opfer gehe, wobei allerdings die Grenze zwischen zivilen und militärischen Opfern bisweilen problematisch verwischt werde. Irena Ristić warf vor allem in Bezug auf den Westbalkan die Frage auf, ob einem Erinnerungskonsens die Kohäsion der Gesellschaft vorangehen muss oder umgekehrt dieser Konsens eine der Voraussetzungen für Kohäsion ist.

Wolodimir Maslitschuk aus Charkiw beschrieb für die Ukraine eine zwischen den Regionen und Generationen höchst uneinheitliche Erinnerungskultur. Die Haltung zur Vergangenheit, besonders der sowjetischen, sei sehr vielfältig: Der Erinnerung an den Holodomor 1932/33 und den Terror stehe etwa eine Argumentation gegenüber, die „bei allen Auswüchsen“ des sowjetischen Systems auf die Modernisierung und die Leistungen in der Raumfahrt verweist. Hinzu komme die von Widersprüchen geprägte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, nicht nur in der West-  sondern auch in der Ostukraine. Die Beschäftigung mit dem Holocaust sei in der Ukraine ein eigenes problematisches Kapitel der Erinnerungskultur. Das Widersprüchliche der Situation in der Ukraine werde etwa daran deutlich, dass bei Charkiw unter Juschtschenko ein Denkmal für die Opfer des Holodomor errichtet wurde und gleichzeitig einige Straßen der Stadt immer noch die Namen unmittelbarer Mittäter tragen.

"Krieg der Denkmäler"


Juschtschenko habe eine bestimmte Erinnerungspolitik verfolgt (auch wenn der Holodomor bereits unter seinen Vorgängern und vor allem in der Unabhängigkeitsbewegung Thema gewesen war), während es nun verstärkt eine Umkehrbewegung Richtung sowjetischer Ideale gebe. Maslitschuk wies darauf hin, dass es auch in der Ukraine zivilgesellschaftliche Erinnerungsinitiativen gebe. Wegen der weniger tiefen totalitären Wurzeln in der Westukraine sei hier eine größere Diversität und Aktivität zu beobachten. Es könnten da Denkmäler für sowjetische Soldaten, Kämpfer der Aufständischen-Armee UPA und jüdische Opfer nebeneinander bestehen, während in der Ostukraine ein „Krieg der Denkmäler“ herrsche.

Es habe sich in der Ukraine noch keine hinreichende Kultur der Differenzierung und Erörterung entwickelt. Es könne nur schwerlich von einer echten Erinnerungspolitik gesprochen werden, meinte Maslitschuk. Als Ausweg werde versucht, eine Rückwendung zu sowjetischen Helden zu vollziehen, die mit dem ukrainischen Narrativ kompatibel sind. Insgesamt habe die Ukraine ideell, hinsichtlich der Toleranz gegenüber Anderen und auch ästhetisch – die Bandera-Denkmäler ähneln in manchem den Lenindenkmälern ...  – den sowjetischen Raum noch nicht verlassen.

Mit Blick auf die Situation in Belarus merkte Wazlau Areschka vom Portal vytoki.net später an, dass er sich in der Diskussion über Erinnerungskultur und die möglichen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft wie in einem Supermarkt ohne eine einzige Kopeke in der Tasche vorkomme, da er in einem „Land des siegreichen Autoritarismus“ lebe. Während es in anderen Ländern um die Vergangenheit geht, dauert die Epoche des Terrors in Belarus noch an. Dort kommen ständig neue Täter und Orte des Terrors hinzu. Der stalinistische Massenerschießungsort Kuropaty ist nun zum Ort des Protestes geworden, mit Polizeigewalt und Verhaftungen.

Besonders in Minsk gebe es viele Orte des historischen Terrors, die sich mit denen des aktuellen Terrors unter dem Regime Lukaschenko überschneiden. In Belarus gibt es noch keine Grenze, die die Epoche der massenhaften Rechtsverletzung von der Gegenwart trennen würde, was die wichtige Frage aufwerfe, wo die Erinnerung anfängt und das Heute aufhört. Man sollte jetzt schon an einer Karte der zukünftigen Gedenkorte arbeiten, zu denen dann auch das Okrestina-Gefängnis zählen müsse, meinte Areschka.

Andreas Poltermann hob mit Blick auf die (west-) deutsche Erfahrung die Bedeutung der lokalen Geschichtsarbeit, des für eine Gesellschaft immer unbequemen Aufspürens auch von Tätern und Helfern hervor. Daraus habe sich eine völlig neue Sicht auf die Gedenkkultur ergeben. An einer Änderung des gesellschaftlichen Bewusstseins beteiligt zu sein, sei eine wichtige Erfahrung. Er verwies auch darauf, dass die Kontroverse zur Errichtung eines Denkmals, etwa der Zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, womöglich das Wesentliche, Bleibende sei. Über die Frage nach den Tätern und den Helfern hinaus müsse die Erinnerung unter der Leitfrage „Wo seid ihr gewesen?“ auch diejenigen umfassen, die wegschauten, die (un-) bewusst Verrat übten oder die Tür zuschlugen.

Topografien des Terrors – drei Beispiele

Die Probleme und Möglichkeiten der Erstellung und Gestaltung einer Topografie des Terrors wurden anhand dreier Beispiele beleuchtet.

Memorial Rjasan

Zunächst stellte Andrej Blinuschow die Arbeit von Memorial Rjasan vor. Dort ist es zwar gelungen, verschiedene Denkmäler für die Opfer von Krieg und Terror, die Opfer politischer Repressionen und Vertreter der nationalen Opfergruppen (Polen, Deutsche, Ungarn, Rumänen) zu errichten, doch befinden sich die Denkmäler am Stadtrand mit schlechter Verkehrsanbindung. Ein Denkmal im Zentrum der Stadt scheitert bislang am Widerstand der Behörden. Die Organisation hat einen Stadtführer zur lokalen Geschichte des Terrors herausgegeben und bietet kostenlose Stadtführungen an. Darüber hinaus ist das Archiv per Internet zugänglich. Blinuschow arbeitet selbst mit einem „nomadisierendem Koffer“, der von einem Gulag-Häftling überlassen wurde und nun bei Mini-Vorlesungen als mobiler Ausstellungsraum für Dokumente oder Fotos dient.

Alexander Solschenizyn, der seit 1957 in Rjasan lebte, ist eine der zentralen Figuren der Exkursionen. Die Initiative einer Straßenumbenennung zu seinen Ehren stößt bereits fünf Jahre auf heftigsten Widerstand. Die Wahl der Orte sei wegen der unterschiedlichen Quellenlage nicht einfach. Während in Perm unmittelbar mit den Ermittlungsakten gearbeitet werden könne, sei es in Rjasan oft nur über die Kopien möglich, die von Angehörigen beantragt wurden. Letztendlich hätten sich bei den 20 Objekten die unterschiedlichen Ansätze als nützlich erwiesen.

Eine Topografie des Roten Terrors in Tiflis

Irakli Chvadagiani stellte das erste Projekt des Soviet Past Research Laboratory (SovLab) in Tiflis vor. Einleitend erklärte er, dass bis 1990 in Georgien keine moderne Beschäftigung mit der jüngeren Geschichte erfolgt sei. Anschließend hätten die politischen und wirtschaftlichen Krisen Georgiens keinen Raum zur Entstehung von Forschungsinstitutionen oder gesellschaftlichen Initiativen entstehen lassen. Gegenwärtig gleiche die georgische Historiografie zu dieser Epoche einem farblosen, toten Buch. Die Stadtrundgänge der Red Terror Topography setzen sich mit Wohnhäusern von Opfern und Tätern, Haftorten etc. in der Altstadt von Tiflis auseinander. Hierzu werden Informationen gesammelt und aufgearbeitet, um individuelle Schicksale im Großen Terror erfahrbar zu machen. Die Herausforderung bestehe in den Verwerfungen innerhalb der postsowjetischen Gesellschaft und den nur wenigen, traumatisierten Zeitzeugen.

Das Projekt soll das Entstehen einer Erinnerungskultur provozieren. Zum einen soll als Bildungsziel die Bedeutung einer Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte vermittelt werden, zum anderen mit alternativen Mitteln eine alternative Sicht auf die sowjetische Geschichte Georgiens ermöglicht und in die Gesellschaft getragen werden, die sich von der offiziell vorherrschenden Haltung, die sich etwa im Museum der sowjetischen Okkupation in Tiflis manifestiert, abhebt. Die Konfliktpunkte zur antisowjetisch ausgerichteten offiziellen Haltung bestünden darin, dass diese eine Beteiligung von Georgiern am sowjetischen Terror verdränge und zudem „ethnische Akzente“ setze. In Bezug auf den Bürgerkrieg und die ethnischen Konflikte sei die Verdrängung der eigenen Verantwortung noch stärker. Die Situation in Georgien werde auch an dem Umstand deutlich, dass der Sammelband zu Gulag-Opfern just in der Zeit erschien, als der Skandal um die Folter in Gefängnissen Wellen schlug und in den Reaktionen der Gesellschaft keine Verbindungen gezogen wurden. Dies zeige, dass die Sowjetunion in Georgien gewissermaßen noch weiterbestehe.

Staro Sajmište – Topografie eines Ortes des Vergessens


Maria Glišić (Heinrich-Böll-Stiftung Belgrad) stellte Staro Sajmište, einen der desideraten Erinnerungsorte Serbiens, vor, zu dem die Heinrich-Böll-Stiftung im Mai 2012 eine Tagung veranstaltet hatte. Das ehemalige Belgrader Neue Messegelände von 1937 diente ab Dezember 1941 als Konzentrationslager und wurde von 1942 bis 1944 als „Anhaltelager“ genutzt. Es gibt dort keine Gedenkstätte, nur einige Denkmäler. Bei der Aufgabe, heute angemessen das (vielfältige) Gedenken an diesen Ort zu gestalten, gelte es, beide Lagerphasen zu erforschen. Es müssten dabei alle Opfergruppen des NS-Regimes gewürdigt werden (Juden, Roma, serbischer Widerstand – in Absetzung von der vormaligen „gemeinjugoslawischen Leidensstätte“ und ohne Übergewicht eines Gedenkens, das vorwiegend an die serbischen Opfer im Unabhängigen Staat Kroatien erinnert und eine Rolle in der nationalistischen Politik spielte).

Darüber hinaus sei Serbien in die europäische Geschichte der NS-Herrschaft und des Holocaust einzuordnen und die Nachkriegsgeschichte des (Nicht-) Erinnerns an Staro Sajmište aufzuarbeiten. Ein besonderes Problem stelle die Frage dar, in welcher Art der Ort markiert werden kann und was mit den derzeitigen Bewohnern passiert, wenn für eine Gedenkstätte Eingriffe bei den Gebäuden vorgenommen werden (die Bausubstanz ist erhalten, jedoch nicht mehr als geschlossener Komplex wahrnehmbar und in gemischtem Besitz). Wolfgang Klotz erläuterte hierzu, dass die Betroffenen, auch etliche Roma und Sinti, eine pragmatische Haltung hätten, eine Vertreibung fürchteten, jedoch eine neue Wohnung annehmen würden. Da letztere Lösung angesichts der Situation in Serbien unwahrscheinlich sei, seien die Anlieger eher gegen die Errichtung einer Gedenkstätte. Auch der wegen der zentralen Lage bestehende Wert für Investoren stelle ein potentielles Problem dar. Das Gelände von Topovske Šupe, eines anderen ehemaligen KZ in Belgrad, ist mit einem Shopping-Center in Planung privatisiert worden. Grasroot-Initativen könnten solcherlei Umgestaltungen nicht allein verhindern, deswegen sei eine städtische Arbeitsgruppe ein Hoffnungszeichen, meinte Glišić.

Nicolas Moll erinnerte an das ehemalige Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris. Es dient heute (wieder) als Sozialsiedlung, weswegen die in unmittelbarer Nachbarschaft entstandene moderne Gedenkstätte bei den Bewohnern nur begrenzt auf Verständnis stößt. In Rjasan, wo jetzt Einfamilienhäuser auf einigen Begräbnisorten stehen, könne man nur an die Besitzer appellieren, berichtete Blinuschow. Er erinnerte auch an die Tradition, dass Erschossene in NKVD-Gebäuden begraben wurden. Irakli Chvadagiani erzählte, Bewohner von Gebäuden, die früher Haftorte waren, hätten zuerst erzählt, dass Berija hier noch persönlich gefoltert habe, um eine halbe Stunde später von dem Geld zu träumen, mit dem dort ein schickes Restaurant eröffnet werden könnte.

Aus Belarus wurde berichtet, dass in Kuropaty, dem Erschießungsort des Großen Terrors – von dem die Regierung sage, es gehe dort nicht um „unser“ Gedenken, sondern um das der Opposition –, die Pläne für ein Einkaufszentrum für einen Skandal gesorgt haben. Bereits jetzt werden dort die Gedenkkreuze durch Vandalismus zerstört, und die örtlichen Bewohner führen dort ihre Hunde aus.

Was können Gedenkstätten (in der Zukunft) leisten?

Thomas Lutz vom Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors verwies darauf, dass Gedenkstätten, anders als Denkmäler, arbeitende und wegen der Frage, wer aushandelt, was gezeigt wird, auch höchst politische Orte sind. Wegen der möglichen Instrumentalisierung seien sie durch ständig einzufordernde wissenschaftliche Fundierung aus der Tagespolitik herauszuhalten. Aufgabe sei es, die Geschichte aller Menschen darzustellen (in der NS-Geschichte gibt es kaum Orte mit nur einer Opfergruppe), allerdings auch mit den relevanten Unterschieden, etwa den Häftlingshierarchien im KZ. Die Darstellung müsse jeweils so erfolgen, dass keine der anderen Opfergruppen verletzt werde, was an Orten wie Sachsenhausen oder Buchenwald wegen der sowjetischen „Speziallager“ eine delikate Aufgabe ist.

Ein weiterer Aspekt ist die Frage, wie mit den Gräbern umgegangen wird: Es besteht ein Spannungsfeld von Gedenken und Lernen. Lutz betonte, dass nur eine Gesellschaft, die sich auch der schwierigen Frage nach Tätern und Verantwortlichen stellt, für eine demokratische Auseinandersetzung mit der Geschichte bereit ist. Die Beschäftigung mit dem „nahen“ historischen Ort und die Konkretisierung der Handlungsfelder und –möglichkeiten (der Lagerleiter X konnte dies und das machen...) böten eine gute Möglichkeit, sich der Geschichte zu nähern. Es werde dadurch greifbarer, dass der Holocaust nicht nur in Berlin oder „im Osten“ stattgefunden hat, sondern auch im KZ-Außenlager „fünf Kilometer entfernt“.

Historische Orte seien wichtig, so Lutz, vermöchten jedoch nicht alles – ohne eine entsprechende Erinnerungskultur oder die Vorbereitung in den Schulen könnten Gedenkstätten nicht so viel ausrichten.
Wulf Kansteiner von der Binghamton University (New York) erkannte aus der Sicht eines Medientheoretikers, dass z.B. das deutsche Fernsehen Hinweise liefere, dass die deutsche Geschichtskultur in entscheidenden Komponenten nicht gut für die Zukunft gerüstet sein könnte. Er sieht für Westeuropa massive Herausforderungen, zukünftig Geschichtsbewusstsein zu produzieren. Grund hierfür seien zwei Entwicklungen, die derzeit zusammenfallen: Einerseits scheiden in Bezug auf den Holocaust die Zeitzeugen von uns, was nach Assman den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis bedeute. Dies habe Einfluss auf die emotionale Verbindung zur Vergangenheit. Die zweite Entwicklung bestehe im Übergang von linearer zu digitaler Kultur.

Angesichts dieser doppelten Wende müsse es das Ziel sein, auch bei nachfolgenden Generationen noch Nachdenken und Kommunikation über Täteranteile auszulösen. Hierbei sei zu beachten, dass das seit Ende der 70er Jahre wirkende Holocaust-Paradigma in Deutschland äußerst problematisch sei. Es bestehe laut Kansteiner in einem „Kuhhandel“: „Ihr schaut euch das an, und wir zeigen euch dafür Überlebende (die gewissermaßen ein Happy-End implizieren).“ Daher müsse vielleicht das Unmögliche versucht und die Geschichtskultur von Morgen aus gedacht werden. Die Herausforderung bestehe dann in den Methoden („wie kriege ich einen 15-jährigen vor dem Computer dazu, über eigene Täteranteile zu reflektieren“) als auch darin, womöglich die Inhalte zu überdenken – der Holocaust könnte für die übernächste Generation vielleicht nicht mehr (so) wichtig sein, warnte Kansteiner.

Sergej Bondarenko aus Moskau analysiert in einem Monitoring die Landschaft der Lenindenkmäler (Zerstörung, Verfall, Neuerrichtungen) sowie die Reaktionen in der Gesellschaft hierzu. Er berichtete von Aktionen, bei denen Lenindenkmäler über Nacht „umgewidmet“ werden (zum Anti-Denkmal, zum Symbol für das derzeitige politische System usw.), was er darauf zurückführt, dass diese Denkmäler sinnentleerte Gemeinplätze, Platzhalter sind und sich so für diese „interaktive“ Erinnerungsarbeit anbieten. Es gehe darum, auf die Wahrnehmungen in der Gesellschaft einzuwirken, aber auch, die Reaktionen in der Gesellschaft wahrzunehmen. Es müsse auch neu gedacht werden (können), gab Bondarenko zu bedenken, etwa als „history jamming“ (in Anlehnung an Naomi Klein). Als Beispiel nannte er die Adaption des Werbeclips „Think different“ von Apple in Form eines Stalinportraits mit dem Slogan „Think completely different“. Jenseits der Frage, ob sich institutionell etwas ändern lässt, gebe es immer Stimmen, die reagieren und die zu unterstützen sind.

Zur Frage „interaktiver“ (Teil-) Gestaltung von Gedenkorten wies Kansteiner darauf hin, dass interaktive Medien deshalb attraktiv seien, weil der Konsument über eine Veränderung des Produkts das Gefühl erhält, Macht auszuüben. Neue Generationen seien daher linear nur schwer zu erreichen. Die westlichen Institutionen entschieden sich bei der Frage der digitalen Interaktivität weiterhin, die Macht über die Objekte zu behalten, so Kansteiner. Die Gedenkstätten setzten aber zur Vermittlung von Informationen und auch mit Blick auf Community-Building inzwischen verstärkt Facebook etc. ein, wie Lutz anmerkte. Er unterstrich, dass bei den Gedenkorten jedoch das Nicht-Virtuelle für die Besucher interessant sei und die Gedenkstätten – beispielsweise mit professionell aufgearbeiteten Zeitzeugenberichten – sehr wohl ihren Bildungsbeitrag leisten könnten.

Wolfgang Klotz wandte sich gegen ein „Nirwana der Beliebigkeit im Reich der Interaktivität“ und unterstrich, dass sich das Objekt dem Betrachter widersetzen können müsse. Diese Sperrigkeit müsse einer Lektüre von Primo Levy vergleichbar sein. Kansteiner stimmte insoweit zu, als eben gerade darin die besondere technische Herausforderung bei der Entwicklung interaktiver Formate für junge Leute bestehe. Andererseits sei aber Immersion unheimlich attraktiv und man komme an diesem Fluchtpunkt auf die Dauer eben nicht vorbei. Er räumte ein, dass Interaktivität problematische Folgen (Leugnung) haben könne, wies aber darauf hin, dass damit womöglich auch Indifferente zur Reflexion gebracht werden könnten. Alma Mašić betonte, dass in Notsituationen wie in Ex-Jugoslawien Information und Outreach das vorrangige Ziel sein müssten, um das Andenken zu wahren und Verdrängung und Leugnung entgegenzuwirken. In dem von ihr vorzustellenden Internetprojekt zum Massaker von Srebrenica 1995 würden sehr wohl moderne, interaktive Formate zur Ansprache junger Menschen genutzt, die Grundlage aber bildeten objektive Fakten.

Zu der von Kansteiner begrüßten „kommunikativen Reibung“ an den Lenindenkmälern bemerkte Mischa Gabowitsch, dass dies auch als Notmaßnahme verstanden werden könne, die von außen gut aussehe, während sie tatsächlich deshalb notwendig werde, weil man die ganzen Denkmäler überhaupt nicht haben wolle.
Zur Gefahr der „erstarrten Rituale“ verwies Lutz auf die an sich würdige Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma – der einen Tag später Forderungen des deutschen Innenministers Hans-Peter Friedrich nach schärferen Regelungen für Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien (lies: Roma und Sinti) folgten!

Gedenkort virtuell, interaktiv

Die Frage „digitalisierter Erinnerungsarbeit“ wurde in einer der Arbeitsgruppen an konkreten Beispielen weiterverfolgt. Zunächst stellte Tadeusz Przystojecki das „Zentrum Stadttor / Theater NN“, ein städtisches Projekt in Lublin, vor. Das Zentrum arbeitet ausgehend vom alten Stadttor, dem Tor zum historischen Judenviertel, zunächst die Geschichte des jüdischen Lebens der Stadt, mittlerweile sogar der ganzen Stadt auf. 5000 Fotos und 1700 Zeitzeugenberichte sind in eine Multimediabibliothek und ein Lexikon eingeflossen. Für die Website wurden ein virtuelles historisches Modell der Stadt und thematische Stadtrundgänge ausgearbeitet.

Ein bemerkenswertes Beispiel der Arbeit ist das Projekt „Briefe an Henio“: An dem Ort, von dem ein Foto des jüdischen Jungen Henio Zytomirski überliefert ist, werden Briefschreibeaktionen für Jugendliche veranstaltet. Begleitet wird das Projekt durch Schülerworkshops und ein fiktives Facebook-Profil Henios, über das Historiker sein Leben vermitteln. Przystojecki stellte heraus, dass diese und andere Formen der Rekonstruktion durchaus ein guter dokumentarischer Ansatz sein können.

Harald Binder stellte das „Center for Urban History of East Central Europe“ in Lviv vor, das digital Informationen zu historischen Orten der Stadt aufarbeitet. Neben den angebotenen Stadtrundgängen werden historische Orte, etwa ehemalige Standorte von Synagogen, den heute dort befindlichen leeren Plätzen gegenübergestellt. Einigen Einträgen zur Geschichte der Gebäude sind Zeitzeugeninterviews beigefügt. Das Zentrum bittet die Bevölkerung um Beiträge in Form von Fotos und Geschichten. Mit diesem Projekt soll die komplexe Geschichte Lvivs Stück für Stück erschlossen werden, wobei durch eine ausländische Organisation die kritischen, kontroversen Aspekte (etwa der Kollaboration mit dem NS-Regime) nur äußerst behutsam aufgenommen werden können. Hier sei der Diskursraum noch nicht gereift, meinte Binder.

Alma Mašić stellte „Mapping Genocide Srebrenica“ vor, ein Projekt der Youth Initiative for Human Rights. Es dokumentiert insbesondere für Jugendliche den Massenmord in Srebrenica als „documentary animation“ per Internet und DVD. Auf stilisierten Karten kann jeder Tag der Ereignisse (auch das militärische Geschehen) vom 6. bis 19. Juli 1995 schrittweise per Mausklick nachverfolgt werden. Die Erzählung ist mit Fernsehbildern unterlegt, und über ein Menü können Dokumente (z.B. des Internationalen Tribunals in Den Haag) eingesehen werden.

Das Projekt sei als Instrument zur Früherkennung von Völkermord sowie gegen Leugnung und Verdrängung konzipiert, erklärte Mašić, weswegen den Karten eine Definition von Völkermord vorangestellt ist und man in der Folge (wieder-) erkennen könne, wie der Mord öffentlich vorbereitet wurde. Es seien nur zuverlässige, neutrale Quellen verwendet und Opferaussagen wegen der Emotionalität nicht aufgenommen worden. Auf die kritische Nachfrage von Wulf Kansteiner, der auf die Täterästhetik des Trailers, die dynamische Musik und die „fast im Befehlston“ gelesene Definition von Genozid hinwies, entgegnete Mašić, dass dies die Mediensprache sei, um Jugendliche anzusprechen, und dass die DVD selbst sprachlich eher nüchtern und monoton gehalten sei.

Erschießungsorte, Massengräber

In einer weiteren Arbeitsgruppe zum Umgang mit Erschießungsorten und Massengräbern stellte Andrej Umansky die Arbeit der Organisation Yahad - In Unum vor, die in der Ukraine, Belarus und anderen Ländern Ost- und Mittelosteuropas Zeitzeugen und über diese Massengräber von Juden (aber auch anderer Opfergruppen) sucht. Die Begräbnisorte und die Gedenkorte, falls deren Lage abweicht, werden dann per GPS verortet, mit Zeichen markiert und dokumentarisch erschlossen (fünf Orte sind zur weiteren Aufarbeitung an das American Jewish Committee übermittelt worden). Die Arbeit werde von den Behörden und der Bevölkerung weitgehend unterstützt, erklärte Umansky, zum Teil bildeten sich spontane Initiativen, die sich Gedanken zur Gestaltung oder Pflege des Ortes machten. Er betonte, dass mit höchster Intensität gearbeitet werden müsse, da immer mehr Zeitzeugen nicht mehr leben.

In ihrem Beitrag zu den Bedingungen, unter denen in Russland der Umgang mit Erschießungsorten und Massengräbern erfolgen muss, verwies Lena Shemkowa von der Internationalen Gesellschaft Memorial zunächst auf die große Zahl von etlichen Hundert Orten, deren Lage nur in relativ wenigen Fällen genau bekannt sei (die Zahl der Erschossenen betrage 1,1 Millionen). Ein weiteres Problem bestehe in der Geheimhaltung, durch die für konkrete Opfer der Begräbnisort oft nur sehr schwer zu ermitteln sei. Nach der Entdeckung eines solchen Ortes stelle dann die Passivität der Staatsanwaltschaft hinsichtlich einer Exhumierung und weiterer Untersuchungen ein weiteres Hindernis dar. Der oft fehlende offizielle Status der Orte bringe dann Kollisionen mit wirtschaftlichen oder anderen Interessen mit sich, wenn es um die Kennzeichnung oder Wahrung des Ortes gehe. Bei der Frage der Gestaltung hänge es dann unter anderem davon ab, ob sich die Russische Orthodoxe Kirche, der etliche Orte anvertraut wurden, tolerant und korrekt verhalte, damit niemand verletzt werde – zu den Opfern gehörten ja Angehörige vieler Volksgruppen und auch Nichtgläubige.

Wolfgang Klotz regte spontan an, ob nicht in Jugoslawien als erster Schritt alle Orte – von Sajmište bis zu den Minen, in die die Opfer der Partisanen getrieben wurden – mit einem prägnanten Zeichen als Gedenkorte zu markieren wären. Lena Shemkowa verwies bei der Wahl des Gedenkortes auf die schwierige Entscheidung zwischen Ortsidentität und Kommunikation, wenn der Ort entlegen ist. Sie betonte, dass es darum gehen müsse, die einzelnen Schicksale zu ermitteln und den Opfern Namen und Biografie wiederzugeben. Die Stolpersteine  seien deshalb ideal und nahegehend, weil sie zeigen, dass hier eine bestimmte Person gewohnt habe, die nun weit weg begraben liegt.

Der Umgang mit den Gräbern ist auch in der Ukraine problematisch, wo einerseits lokale Behörden die Exhumierung der Leichen der polnischen Opfer in Wolhynien blockieren und andererseits sogenannte „schwarze Archäologen“ auf der Suche nach Metallen Gräber öffnen.

Dmitrij Chmelnizkij forderte, dass auch an die verdrängten Opfer erinnert werden solle, etwa die deutschen Zivilisten, die nach Kriegsende von sowjetischen Truppen erschossen wurden und deren Gräber kaum erschlossen sind, oder die sowjetischen Kriegsgefangen, die von den Westalliierten an die UdSSR ausgeliefert wurden und nahezu unausweichlich in stalinistischen Lagern landeten. Andrej Tichomirow pflichtete dem mit Hinweis auf ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene in Grodno bei: An dem Gedenkort werde die Nachkriegsfunktion als Repatriantenlager ausgeblendet.

Stadtführungen


Stadtführungen sind für die Vermittlung von Geschichte immer noch ein gutes Mittel und eine Chance. Die Herausforderung besteht in der nicht unbedingt dialogischen Kommunikation, wobei es wichtig ist, zu konkretisieren, um einer Generalisierung vorzubeugen – Mikrogeschichten müssen in die Makrogeschichte integriert werden. Eine weitere Herausforderung besteht darin, bei einer Stadtführung die heutige Realität mit der Geschichte zusammenzuführen. Alexandra Poliwanowa von Memorial Moskau berichtete, dass dort die Stadtrundgänge für Jugendliche durch Bildungsmaßnahmen vorbereitet werden. Es müsse behutsam Kontextwissen erarbeitet werden, damit die Jugendlichen nicht in der Fülle der Eindrücke und Informationen „ertrinken“.

Europäische Erinnerungskultur und Ausblick auf das nächste Geschichtsforum

Über die gesamte Veranstaltung hinweg wurde auf die Heterogenität der europäischen Erinnerungskultur verwiesen. In dieser Erinnerungslandschaft müssen Vergleiche angestellt werden, um eine gemeinsame – nicht  einheitliche! – europäische Erinnerung zu stärken. In Bezug auf den nationalsozialistischen und den sowjetischen Terror seien Vergleiche äußerst behutsam vorzunehmen und Gleichsetzungen schon aus Achtung vor den Opfern ausdrücklich abzulehnen, wie Lena Shemkowa unterstrich. Angesichts dieser Heterogenität müssen die unterschiedlichen Erinnerungskulturen zunächst akzeptiert und ihre Voraussetzungen tolerant verstanden werden, hob Thomas Lutz hervor.

Bei der Arbeit für eine europäische Erinnerung sollten das ehemalige Jugoslawien und auch Belarus einbezogen werden, so die mehrfache Forderung der Teilnehmer. Es gelte, bei der Diskussion der einzelnen Narrative auch die Querverbindungen zu ziehen, beispielsweise die Rezeption des Gulag in Westeuropa oder die europäische Verantwortung in den jugoslawischen Erbfolgekriegen zu beleuchten, die zum gesamteuropäischen Erinnerungsraum gehören. Als eine Aufgabe europäischer Erinnerungskultur nannte Kansteiner, dass es in Westeuropa vor allem um die Entradikalisierung wichtiger, problematischer Minderheiten gehe, während in Osteuropa eher die Entradikalisierung von Staaten im Vordergrund stehe.

Die Forumsteilnehmer aus Bosnien-Herzegowina betonten, dass der Informations- und Erfahrungsaustausch mit zivilgesellschaftlichen Kollegen sehr hilfreich und solidaritätsfördernd sei, um weiterhin sowohl gegen Verdrängung als auch gegen Xenophobie arbeiten zu können. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass das Forum gute Gelegenheit biete, endlich über die gewohnten bilateralen Formate, etwa russisch-polnische oder polnisch-ukrainische Historikertreffen hinauszugehen: Allein bilateral, unter wechselnder Ausblendung der anderen Beteiligten, könne man der Komplexität bestimmter historischer Fragen kaum gerecht werden.

So wurde für das nächste Geschichtsforum vorgeschlagen, das Massaker in Wolhynien und den jugoslawischen Bürgerkrieg im Schatten des Zweiten Weltkriegs als inhaltliche Schwerpunkte zu wählen. Hierbei könnten dann auch die Manipulations- und Verzerrungsversuche, die zum Jubiläum der Ereignisse in Wolhynien im Jahr 1943 zu erwarten seien, und die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Initiativen, dagegen vorzugehen, thematisiert werden, wie Andrij Portnow vorschlug. Ein weiteres Thema könnte die Analyse sein, was die Auseinandersetzung mit Geschichte an Gedenkorten tatsächlich leisten. Ebenso sollte die Frage einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen Fachhistorikern und Medienschaffenden mit Blick auf die Erinnerungsarbeit erörtert werden. Vorgeschlagen wurde auch, die Baustellen europäischer Geschichtsinstitutionen (Europäisches Historisches Museum, Europäisches Zentrum Solidarnosc) zu betrachten.



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Hartmut Schröder